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Michael We.

FRANZ KAFKA: Der Process (17 CDs)

Hörspiel-Box, Radiosendung und Download ganz nah am Original


FRANZ KAFKA: Der Process (17 CDs)
Genre: Hörbuch
Verlag: Der Hörverlag
Erscheinungsdatum:
14.01.2011
Medium: Hörbuch-CD
Preis: ~70,00 €
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Über KAFKAs "Der Process" (oder auch "Prozeß" / "Prozess") ist viel geschrieben und gesagt worden, es existieren auch bereits mehrere Hörspiel- oder Hörbuchausgaben, so dass sich zunächst die Frage nach dem 'Warum' stellt. Warum noch eine Hörausgabe, insbesondere eine so umfangreiche, ungekürzte? Die Antwort fällt leicht: Weil diese Produktion des BAYERISCHEN RUNDFUNKS dem Original von KAFKA am nächsten kommt und das Hören zu einem Genuss macht, trotz oder gerade wegen des vorherrschenden Minimalismus. (Wer zur Auffrischung zunächst eine kurze Inhaltsangabe benötigt, wird bei WIKIPEDIA oder auf den Seiten des BR fündig.)
Regie hat KLAUS BUHLERT geführt, der sich mit Mammutproduktionen auskennt: Für die 20stündige Ausgabe von MUSILs "Der Mann ohne Eigenschaften" bekam er vor fünf Jahren den Deutschen Hörspielpreis verliehen. Außerdem war er unter anderem verantwortlich für die Hörfassungen von "Ilias" (1180 Minuten) und "Moby Dick" (540 Minuten).
Mit seiner "Process"-Umsetzung nähert sich BUHLERT dem Urzustand der rund 200 Manuskriptseiten. KAFKA hat das Werk zu Lebzeiten nie beendet. Er schrieb an mehreren Kapiteln gleichzeitig, legte lediglich einen Anfang und ein Ende als Rahmen fest. Er verwendete Hefte, in denen er auch andere Texte niederschrieb, und riss die entsprechenden Seiten zum Schluss heraus, um sie nach Kapiteln zu sortieren, allerdings ohne Reihenfolge. In diesem Zustand fand sein Freund MAX BROD den Text nach KAFKAs Tod, inklusive der schriftlichen Anweisung, ihn zu verbrennen. BROD entschied sich, wie wir alle wissen, anders. Aufgrund des bruchstückhaften Charakters existieren viele Ausgaben des Textes, zwischen Roman und Gruppierung der Szenen nach bestimmten Gesichtspunkten. Keine zollt dem Entstehungsprozess allerdings so sehr Tribut wie die historisch-kritische Ausgabe, die 1997 im STROEMFELD-Verlag erschien. Die 16 Kapitel-Entwürfe sind jeweils einzeln geheftet und ohne vorgegebene Reihenfolge im Schuber verpackt, der Reinschrift stehen die Handschriften-Faksimiles mit allen Notizen und Änderungen gegenüber; die wohl transparenteste Werkedition. Diese Ausgabe diente als Grundlage für die BR-Aufnahme.

Parallel zu den Entwürfen in Einzelheften hat BUHLERT die 16 Texte auf CDs aufgeteilt, wovon einer – "Advokat, Fabrikant, Maler" – so lang ist, dass er zwei Scheiben benötigt, daher die Gesamtzahl von 17. Das kürzeste Fragment – "Als sie aus dem Teater traten" – dauert gerade einmal vier Minuten. Für die gesamte Aufnahme ist Reduktion das Mittel der Wahl. Keine Dramatisierung, kaum Effekte, nur ganz selten Musik. Nicht einmal die Sprecherrollen, so scheint es mir, sind fest verteilt. Die Identifikation mit einer herausragenden Stimme ist nicht möglich, was aber beim ersten Durchhören auch an der schieren Masse des Materials liegen kann. Es geht um das Wort, das nackte, in seiner Nüchternheit viel mehr geschriebene als gespielte Wort, das hier hörbar gemacht wird. Einige Eindrücke:
"Jemand musste Josef K. verläumdet haben". Der Erzähler hat einen undefinierbaren, vielleicht französischen Akzent, teilweise spricht auch eine Frauenstimme für JOSEF K., ebenfalls mit einem fremdländischen Einschlag. Das Spiel stimmt auffallend nicht mit der Schriftvariante überein, wenn etwa einer der Aufseher "militärisch bellte", hören wir einen normalen Vortrag, was aber die Konzentration für den Inhalt außerordentlich schärft. Bestimmte Verhaltensweisen, Muster werden durch kleine Effekte dargestellt, Distanz etwa dadurch, dass sich ein Aufseher oft – im wahrsten Sinne des Wortes – wie durch eine altmodische Gegensprechanlage zuschaltet. Im Begleitbuch habe ich gelesen, dass KLAUS BUHLERT selbst auf diese Art und Weise von KAFKA im handschriftlichen Manuskript gestrichene Sätze einpflegt, weiß aber nicht, ob das immer gilt, denn zum Beispiel sind auch die Kapitelnamen auf diese Art und Weise vertont. Insgesamt ist die Atmosphäre trotz der Ungeheuerlichkeit des Vorfalls, das Eindringen in die Wohnung von JOSEF K. und die Anklage ohne Beweise, sehr kühl und nüchtern, ohne Schnickschnack, dem Roman und der Leidenschaftslosigkeit von Herrn K. angemessen.
"Der Prügler". Nicht nur innerhalb eines Kapitels wechseln sich Sprecher ab, auch die Kapitel selbst werden von anderen Erzählern vertont, zumindest ändern diese ihre Art des Vortrags. Auch die einzelnen Texte sind unterschiedlich aufgearbeitet worden, hier zum Beispiel mit leiser musikalischer Untermalung, einer Art besonders lang anhaltender Drones.
"Ende". Das Ende wird passagenweise von einem Didgeridoo-ähnlichen, dunkel schwebenden Sound begleitet. K.s Tod wird ebenso mit messerscharfer Präzision vorgebracht wie alle Texte, aber selbst hier ohne jegliche Übertreibung, ohne Emotion, eher mit Verwunderung über das Vorgetragene in der Stimme.

Dieser bewusste Minimalismus, ja zum Teil fast Dilettantismus (was die Technik angeht), lässt die Wörter so intensiv im Raum stehen, macht die Handlung so drängend, dass man schnell hineingezogen wird in die Stube von JOSEF K. So nah war noch kaum ein Leser dem unnahbaren Mann. Alle acht Schauspieler lassen sich auf diesen Hörspiel-Punk ein: RUFUS BECK, SAMUEL FINZI, CORINNA HARFOUCH, JÜRGEN HOLTZ, MILAN PESCHEL, JEANETTE SPASSOVA, THOMAS THIEME, MANFRED ZAPATKA, sie konzentrieren sich auf jeden Buchstaben, auf die KAFKAeske Sprache und weniger auf ihr (Schau)Spiel.
Der Hörer hat einiges mitzureden bei dieser Aufnahme. Erstens kann / konnte er sich die Form aussuchen, derer er sich bedient(e): Zunächst wurden alle Episoden im Hörfunk gesendet, in der Zeit nach Weihnachten, logischerweise in einer festen Reihung. Anschließend stellte der BR die Kapitel, ohne Nummerierung und Reihenfolge, online zum kostenlosen Download. Und nun präsentiert der Münchener HÖRVERLAG dieses Werk in einer schmucken CD-Box, mit umfangreichem Begleitmaterial. Zweitens entscheidet der Hörer – per Download und per CD –, an welchem Punkt er sich in das Leben von JOSEF K. begibt. Alle Kapitel können tatsächlich unabhängig voneinander laufen, als einzelne Minihörspiele. Selbst mit dem Ende, dem Tod einzusteigen ist möglich. Ein epochales Hörwerk, ohne jede Einschränkung zu empfehlen!

 
Michael We. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» Text der BROD-Ausgabe von "Der Process"
» DER SPIEGEL zu diversen "Process"-Editionen
» Sekundärmaterial zu "Der Process"


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Zusammenfassung
Minimalistischer Hörspiel-Punk, auf den sich die Schauspieler einlassen: Sie konzentrieren sich auf Wörter und Sprache, weniger auf Spiel. Der Hörer kann die Reihenfolge der einzelnen Kapitel frei entscheiden, sie lassen sich alle unabhängig voneinander hören. Epochales Werk, ganz nah am Original!

Inhalt
* 17 CDs
* 624 Minuten
* umfangreiches Begleitbuch
* auf Basis der STROEMFELD-Edition
* beim BR als Einzelfiles zum kostenlosen Download
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