Das alte Denunziantentum, die Kriechergeste, die künstliche Grimasse, der kokette Bürgerschreck, der deutsche Spießer, der schleimige Wortschwall, die heiße Vaterlandsliebe, der zuckende Mundwinkel & der schwabbelnde Bauch... all das darf niemals verloren gehen! Aus dem Booklet zu "Präsident der Sonne"
Schon früh deutete sich an, dass die Nazis RAOUL HAUSMANN richtig scheiße finden würden. Lange bevor der in Wien geborene Dadaist wegen seiner jüdischen Frau und einer mutmaßlich jüdischen Großmutter emigrieren musste, ärgerte er die NSDAP mit seiner – später als 'entartet' titulierten – Kunst. 1917 nach Berlin gezogen und bis 1922 wichtiger Bestandteil des Berliner Dadaismus, war HAUSMANN einer der Aussteller der dortigen "Ersten Internationalen Dada-Messe" vom 30. Juni bis zum 25. August 1920. Sein Kunstwerk erregte das meiste Aufsehen und führte sogar zu seiner Verhaftung, an der einige seiner schon wesentlich angepassteren Kollegen nicht unschuldig waren. HAUSMANN hatte einen künstlichen Marderbau angelegt, der in einem Schaufenster endete. Einen echten Marder für seine Installation erstand er in der benachbarten Zoohandlung. Das Tier bekam nichts zu essen, HAUSMANN klebte lediglich seinen Mitgliedsausweis der eben gegründeten NSDAP (24.02.1920) von innen an die Scheibe, so dass der Marder in seiner Not vor den Augen der Menge das Dokument nach und nach zerknabberte und vernichtete. Dem Künstler wurde ein Jahr später wegen Beleidigung der Nationalsozialistischen Partei der Prozess gemacht, das Gericht bewertete die Aktion aber lediglich als schlechten Scherz. Ziemlich genau 90 Jahre nach der Dada-Messe erscheint nun diese audiovisuelle Hommage an HAUSMANN, welche sich schon durch die Benennung zu erkennen gibt, obwohl das Cover optisch eher an eine Sammlung von Arbeiterliedern aus der ehemaligen DDR erinnert: "Präsident der Sonne, des Mondes & der kleinen Erde (Innenfläche)" war einer der zahlreichen Titel, die der Künstler zur Ausstellung auf seiner Visitenkarte trug. COLUMN ONE ist ein in Berlin ansässiges, postindustrielles Künstlerkollektiv um JÜRGEN ECKLOFF, RENÉ LAMP und ROBERT SCHALINSKI. Gegründet 1992, sieht es sich "als ideologische Basis der Auseinandersetzung mit Strukturen, Philosophien und Medien" (Homepage), arbeitet gegen ein "Versagen und Versumpfen" (Booklet) damals wie heute. Weniger ideologisch ausgedrückt beschäftigen sich COLUMN ONE damit, wie wir Information wahrnehmen und verarbeiten, dabei stark beeinflusst von der Theorie des Radikalen Konstruktivismus, nach der es keine objektive Realität gibt. Cut-Up ist die bevorzugte Methode, also – im ursprünglichen Sinne – das Remixen von Texten, das Zerschneiden und neu Zusammensetzen der ursprünglichen Realität. Neben Tonträgern – darunter, wie NONPOP-Leser sicher wissen, eine CD mit GENESIS P-ORRIDGE ("Vis Spei", 1995) – widmen sich COLUMN ONE ihrer Videokunst sowie Live-Performances und Ausstellungen. "Präsident der Sonne" enthält nun zehn neue oder unveröffentlichte Songs von 2000 bis heute, daneben im dicken Booklet viele Collagen von – auf HAUSMANN bezogen – "artverwandten Verwandten und Nachkommen", womit natürlich Mitglieder und Freunde von COLUMN ONE gemeint sind. Einige Arbeiten vermitteln sehr plastisch die sich ab 1920 aufbauende Bedrohung durch die Entwicklung der kommenden zwei Jahrzehnte, allen voran die deshalb wohl auch mittig platzierte Anordnung aus einem Löffel, zwei Gebissstücken oder Zahnprothesen und zwei Strängen wehender Haare. Die akustische Reise in die Vergangenheit beginnt mit Noisemusik (1). Nicht wüst, eher bedrohlich kriechen und schleichen einzelne, oft hochfrequente Töne in- und übereinander, erinnern dabei an Streichinstrumente. Vereinzeltes Schlagwerk verstärkt den Eindruck eines sich einspielenden Orchesters und, rhythmuslos, den der auf dem gesamten Album spürbaren Improvisation. Im krassen Gegensatz zum Opener steht eine Marschvariante (2), die auch von HELGE SCHNEIDER hätte stammen können, ausschließlich von Mündern (also a capella) und vermutlich Küchenutensilien dargeboten, bis später ein elektrischer Gong den Sound wieder ins Noisige zurück führt. Sehr improvisiert klingt "Voranzeige..." (3) mit seinen Gongs, einem immer wiederkehrenden Lachen und dem Ticken einer Standuhr. Beim folgenden Fiepen (4) fällt auf, dass COLUMN ONE trotz moderner Techniken oft eine historische Klangfarbe erreichen, die Töne wirken wie durch ein Röhrenradio geschickt, auch viele offenbar analoge Geräusche tragen zu diesem Eindruck bei. Die erste Hälfte von "Präsident der Sonne" endet mit, nun ja, einem Tennismatch vor Rasensprenger und Teilorchester. "Reichlich sonderbar" (6) ist eben dies und eines der spannendsten Stücke: Es besteht lediglich aus dem Wort 'viel', welches in unterschiedlichen Varianten aus der historischen Rede einer Frau herausgeschnitten zu sein scheint und später verfremdet wird. Langsame, leise Wellen aus Geräuschen (7), die in Orgeldrones münden, leiten über zum nächsten Marsch (8): Er beginnt erneut a capella, das schnurrige "radadadamm" klingt nach Hobbyhitler, dazu scheppern Mülltonnendeckel, die tatsächlich von Marschtrommeln und einem Orchester aus Fastnachtströten abgelöst werden. Nach kurzer russischer Ansprache und viel Stille (9) folgt der längste und interessanteste Track ("Listening without any interpretation. Listening directly, directly. Listen to the speaker!"): Die eindringliche Stimme eines älteren Herrn (JOHNNY CASH? Indianerhäuptling??) spricht, lediglich untermalt von einer quietschenden Kinderschaukel und zwitschernden Vögeln (10). In kurzen Sätzen ("This is not an entertainment!") fordert sie auf, sich nur auf den Sprecher zu konzentrieren, alle anderen Gedanken beiseite zu schieben, nur zu hören ("There's only you and the speaker. You and the speaker together"). Dadurch geschieht im Hirn (zumindest bei mir) natürlich genau das Gegenteil, und all die Prozesse, welche die Stimme verbietet – Vergleiche, Interpretationen –, werden in Gang gesetzt. Obwohl ich nach den ersten Durchgängen nicht zu allen Stücken Zugang finde, ist das Gesamtkunstwerk überaus beeindruckend. Weitab von standardisierten Hörgewohnheiten schaffen COLUMN ONE eine 'vergangene' Atmosphäre und werfen einen Blick in die aus damaliger Sicht bedrohliche Zukunft, ohne die Lächerlichkeit mancher Situationen / Menschen / Musiken der entsprechenden Zeit zu unterschlagen. "Reichlich sonderbar" ist sicher ein Höhepunkt, allein durch die Technik des Auseinanderschneidens und Zusammensetzens mit dem Dadaismus verbunden. Geradezu hypnotisch ist für mich "Hydronoise", vielleicht am wenigsten mit der Dadamesse, dafür am meisten mit dem immer präsenten Anliegen von COLUMN ONE verknüpft, der Idee, dass Information niemals passiv aufgenommen werden kann. Bedingungslos empfehlenswert, aber immer dran denken: "This is not an entertainment!"
Michael We. für nonpop.de
Verweise zum Artikel: » Shop und Hörbeispiele » COLUMN ONE @ myspace » HAUSMANN-Seite » HAUSMANN-Biografie Themenbezogene Artikel: » COLUMN ONE: Whip Cracking & » COLUMN ONE – LAST LIVE PERFORMANCE » COLUMN ONE: Boiling Pool » COLUMN ONE: CINDY LORAINE & HANK » COLUMN ONE: AntiphoNA » COLUMN ONE im Interview-Remix Themenbezogene Newsmeldungen: » COLUMN ONE lösen sich auf? » COLUMN ONE mit Online-Film » COLUMN ONE mit LP "Boiling Pool" » COLUMN ONE mit aufwändiger Doppel-LP » ZEITKRATZER plays COLUMN ONE (Hamburg) » COLUMN ONE und ZEITKRATZER in Berlin » JÜRGEN ECKLOFF (COLUMN ONE) stellt aus
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Zusammenfassung
This is not an entertainment! 90 Jahre nach der "Internationalen Dada-Messe" erinnern COLUMN ONE an RAOUL HAUSMANN, wohl einen der ersten Nazi-Ärgerer. Noise und Gaga spiegeln Bedrohlichkeit und Lächerlichkeit der damaligen Zeit wieder. This is not an entertainment!
Inhalt
Moloko+ 071
80 min. lim. 500 01. Präsident der Sonne 02. Godesberger Marsch unter der Leitung von Direktor Butin 03. Voranzeige oder der Moloch 04. Anatomie einer Waage 05. Berta Navarseke 1919 06. Reichlich sonderbar 07. Ich halte dies für keine Treppe 08. 100 Tänze & Märsche 09. Ladung zum Weltgericht! 10. Hydronosie oder der Sprecher |