Die Seite wird geladen... einen Moment bitte.
Michael We.

VARIOUS: trans_canada

Klänge unter Beteiligung von Elektrizität


VARIOUS: trans_canada
Genre: Elektroakustik
Verlag: empreintes...
Erscheinungsdatum:
Februar 2010
Medium: DVD (Audio)
Preis: ~13,00 €
Kaufen bei: a-musik


Schrift vergrößern Schrift verkleinern

Eine kurze Definition elektroakustischer Musik zu liefern, die den Rahmen eines normalen NONPOP-Artikels nicht sprengt, ist unmöglich. Jede Arbeit zu diesem Thema beginnt sinngemäß mit den Worten, dass es bis dato keine sinnvolle, zuverlässige Definition gibt. Viele Versuche umfassen beinahe Alles, zum Beispiel "Töne und Geräusche, die durch Lautsprecher wiedergegeben werden" oder "Klänge unter Beteiligung von Elektrizität", und damit wiederum Nichts. Als Einstieg kann wie immer der Wikipedia-Artikel herhalten. Wer im Netz stöbert, stößt auf viele umfangreiche Diplomarbeiten wie diese zum Thema 'Elektroakustische Komposition', deren erste acht Seiten sich der Analyse und Begriffsdefinition widmen.

Vor rund fünf Jahren erlebte das ZENTRUM FÜR KUNST UND MEDIENTECHNOLOGIE ZKM in Karlsruhe acht Uraufführungen innerhalb weniger Tage. Im Rahmen des Festivals "trans_canada" zeigten acht kanadische Künstler, warum ihr Land neben – unter anderem – Großbritannien und Frankreich zu den wichtigsten Heimstätten für moderne elektroakustische Musik zählt. Die meisten Werke entstanden vor Ort, wurden in den Wochen und Monaten vor dem Festival in den Räumen des ZKM-Instituts für Musik und Akustik komponiert und produziert, einem der wichtigsten Studios für elektroakustische Musik in Europa mit 35 festangestellten Komponisten.
Diese acht Premieren aus dem Februar 2005 sind nun, teilweise noch fortgeschrieben, auf einer DVD erschienen. Obwohl es sich ausschließlich um Audiomaterial handelt, macht das Medium deshalb Sinn, weil allein aufgrund der Gesamtlänge von fast 160 Minuten und der Länge der einzelnen Werke von zum Teil mehr als 30 Minuten keine sinnvolle Aufteilung auf CDs möglich gewesen wäre. Und obwohl ich kein Surround-Fan bin, muss ich zugeben, dass der 5.1-Sound der DVD wahrlich beeindruckend ist, gerade bei so auf Räumlichkeit ausgelegter Musik.

Die einzelnen Teilnehmer im Überblick: NICOLAS BERNIER ist ein junger Frankokanadier, dessen Debütalbum "Les Arbres" wir kürzlich vorgestellt haben (zur NONPOP-Besprechung). Sein Stück "Writing Machine" ist eine Verneigung vor WILLIAM S. BURROUGHS und seiner Arbeitsweise, Versatzstücke aus Originaltexten so lange neu zu strukturieren, bis der gewünschte Effekt entstand. BERNIER hat diese Technik nun wiederum auf Texte von BURROUGHS angewandt und das Ergebnis unter anderem mit Geräuschen versehen, die Schreibmaschinen ähneln. DARREN COPELAND lebt als einer der wenigen kanadischen Elektroakustiker nicht von der Lehre, sondern von der Musik selbst. Er komponiert für Konzerte und Rundfunk sowie fürs Theater und führt außerdem die in Toronto ansässige (non-profit) Organisation NEW ADVENTURES IN SOUND. Sein "Let Me Out" ist eine in Gedanken versunkene Klangreise durch die Großstadt. Der 1926 in Frankreich geborene FRANCIS DHOMONT gilt als einer der weltweit wichtigsten elektroakustischen Komponisten, er hat in den 1980ern das Kanadische Institut für Elektroakustik (CEC) mitbegründet und ist einer der Pioniere der 'musique concrète'. Mit wenigen gelesenen Worten thematisiert sein Stück den berühmten, nie abgeschickten Brief von FRANZ KAFKA an seinen Vater. "Ich habe nur wenige Sätze aus diesem langen, furchterregenden Brief genommen. Ausgewählt habe ich sie aufgrund der Genauigkeit, mit der sie den Kummer KAFKAs gegenüber dem Vater ausdrücken ... (DHOMONT). In "Hi-Res" lässt LOUIS DUFORT, wieder ein Vertreter der jüngeren Generation, akustische und elektronische Quellen ineinander fließen und erzeugt mit seinen Klängen teilweise ein fast klassisches Konzerterlebnis.
GILLES GOBEIL, geboren 1956 und seit Mitte der 1980er-Jahre überschüttet mit Auszeichnungen für seine Kompositionen, versucht mit "Ombres, Espaces, Silences..." die Anfänge der westlichen Musik greifbar zu machen, den frühen Umgang mit Intervall und Akkord. ROBERT NORMANDEAU, ebenfalls ein Gründungsmitglied der CEC, arbeitet in "Palimpseste" ausschließlich mit Lautmalereien menschlicher Stimmen. Dieser vierte und letzte Teil einer schon vor fast 20 Jahren begonnen Serie widmet sich dem Thema "Alter" (nach "Kindheit", "Jugend" und "Erwachsensein"). Inspiriert von einigen Inuit-Statuen beschwört BARRY TRUAX das Bild eines wirbelnden Schamanen, der seine gutturalen Laute auf den Zuhörer abfeuert. Der 63jährige TRUAX ist bekannt für seine Technik, mit winzigen Sampelschnipseln in ungeheurer Geschwindigkeit zu arbeiten. Die in Deutschland geborene und aufgewachsene, später nach Vancouver ausgewanderte HILDEGARD WESTERKAMP (*1946) ist eine dauerreisende Weltenbummlerin, und dieser 'Ethno'-Aspekt fließt auch in "Für Dich" ein. Das Stück basiert auf dem RILKE-Gedicht "Liebes-Lied", welches in Teilen sowohl auf deutsch als auch auf englisch – übersetzt von dem kanadischen Dichter NORBERT RUEBSAAT – vorgetragen wird.

Die Geräusche und Klänge, die hier im Raum stehen, könnten oft Soundtrack zu modernen 'Geisterfilmen' wie "The Others" oder "The Sixth Sense" sein, so fremdartig und aus einer anderen Dimension wirken sie. Vieles auf "trans_canada" ließe sich mit Dark Ambient-Musik vergleichen, allerdings haben die acht Werke durch ihr jeweiliges Konzept einen viel stärker hörspielartigen Charakter, vertonen Stimmungen und Bilder besonders intensiv, statt einfach nur düster zu sein.
Beängstigend geistert das Geflüster in "Writing Machine" durchs Wohnzimmer, ebenso angespannt lässt der Wirrwarr aus Stimmen und Eindrücken in "Let Me Out" den Hörer zurück, wobei die 35 Minuten zwischendurch auch mit ruhigen, beruhigenden Passagen aufwarten und plötzlich ganz natürlich nach einer Art Glockenspiel klingen. Enorm dunkel und wuchtig ist der "Brief an den Vater", dessen Vertonung per Stimmbrei aus Versatzstücken des Originals gruseln lässt. "Hi_Res" wirkt in diesem Umfeld, wie schon erwähnt, fast organisch; die tausend Klänge im Raum nehmen immer wieder die Struktur eines Orchesters an. Sehr beeindruckend ist das Werk von GILLES GOBEIL, das unbestreitbar ein stark historisches Ambiente hat und zwischendurch immer wieder mit zueinander findenden Klängen spielt, als ob wir tatsächlich Zeuge der ersten Harmonien in der westlichen Musikgeschichte wären. "Ombres, Espaces, Silences… " bietet dennoch ebenso heftige Noise-Parts wie alle anderen Stücke auch. Die durcheinander geworfenen Laute mit dem immer wiederkehrenden Schnaufen einer sterbenden Eisenbahn in "Palimpseste" sind für mich am schwierigsten zu hören, trotz der rhythmischen Struktur mehr Stimmexperiment als Komposition. Besonders präsent, tatsächlich mitten im Raum ist dank einer Vielzahl von Drones und verhackstücktem Obertongesang der Schamane von BARRY TRUAX, eine Klangoase zwischen den anderen Stücken und vielleicht deshalb mein Favorit. Sehr stark landschaftlich geprägt strahlt auch "Für Dich" zum Schluss mit Wasserplätschern, Glockengeläut und Vogelgezwitscher viel Ruhe aus.

Fast drei Stunden elektroakustischer Kompositionen, die unmöglich am Stück zu genießen sind, weil sie dem Hörer viel abverlangen. Gute Lautsprecher bzw. Kopfhörer sind Voraussetzung, dann entsteht die gewünschte Räumlichkeit und viele der Stücke entfalten – auch schon beim ersten Durchlauf – eine enorme Präsenz. Für einen sehr fairen Preis bietet "trans_canada" – übrigens die hundertste Veröffentlichung von EMPREINTES DIGITALES – einen feinen Überblick über den Stand der elektroakustischen Musik in Kanada.

 
Michael We. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» EMPREINTES DIGITALES
» ZKM-Klangdom
» NEW ADVENTURES IN SOUND

Themenbezogene Artikel:
» VARIOUS: Replace
» VARIOUS: Archipel Électronique Vol. 1


Anzeige: Abebooks.de - 100 Mio. neue, gebrauchte und antiquarische Bücher
Namentlich gekennzeichnete Beiträge spiegeln ausschließlich die Meinung des jeweiligen Verfassers bzw. Interviewpartners wieder. Nachdruck (auch auszugsweise) nur mit schriftlicher Genehmigung durch den Betreiber dieser Seite.
Link-Code zu diesem Artikel:
Wöchentliche Artikelübersicht per Mail
Werde NONPOP- Redakteur...
» Diesen Artikel bewerten
» Kommentar zum Artikel verfassen
Zusammenfassung
3 Stunden elektroakustischer Kompositionen verlangen dem Hörer viel ab. Gute Lautsprecher sind Voraussetzung, dann entsteht die gewünschte Räumlichkeit und viele der Stücke entfalten eine enorme Präsenz. Feiner Überblick über den Stand der elektroakustischen Musik in Kanada für einen fairen Preis.

Inhalt
1. NICOLAS BERNIER: Writing Machine (2005) - 15:29
2. DARREN COPELAND: Let Me Out (2006) - 34:59
3. FRANCIS DHOMONT: Franz Kafka / Brief an den Vater (2005-06) - 17:03
4. LOUIS DUFORT: Hi_Res (2005) - 13:37
5. GILLES GOBEIL: Ombres, Espaces, Silences… (2005) - 23:00
6. ROBERT NORMANDEAU: Palimpseste (2005, 06, 09) - 14:53
7. BARRY TRUAX: The Shaman Ascending (2004-05) - 15:45
8. HILDEGARD WESTERKAMP: Rainer Maria Rilke / Norbert Ruebsaat / Für Dich (2005) - 20:56
NONPOP RADIO
Nonpop Radio starten:

Hier Popup
Ebay- Angebote zum Thema:
Elektroakustik
 
elektroakustische elektroakustischen elektroakustischer lautsprecher palimpseste transcanada wichtigsten