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Michael We.

RASHOMON: The Finishing Line

(Film Music Volume 2)


RASHOMON: The Finishing Line
Genre: Experimental
Verlag: Hinterzimmer...
Erscheinungsdatum:
Januar 2010
Medium: CD
Preis: ~10,00 €
Kaufen bei: Hinterzimmer


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Am Ende des Films, um den es hier im weitesten Sinne geht, werden jede Menge blutüberströmter, toter Kinder aus einem Eisenbahntunnel getragen. (Diese Schlusssequenz hat zwar nur bedingt mit der Besprechung zu tun, macht aber hoffentlich sehr neugierig!) "The Finishing Line" ist nicht nur Titel des zweiten RASHOMON-Albums, sondern war im Original ein kurzer, halbdokumentarischer 20-Minuten-Streifen. BRITISH TRANSPORT FILMS produzierte ihn 1977 im Auftrag der britischen Regierung, um Kindern zu verdeutlichen, wie gefährlich das Spielen in der Nähe von Eisenbahnstrecken ist. (Am Ende des Artikels ist der Film in zwei Teilen als youtube-Video zu sehen.) Die Macher dieses Aufklärungsfilms gingen dabei sehr kreativ vor und zeigten die Bahnschienen als eine Art Spielfeld für diverse Schulwettbewerbe. Die Klasse, die am Ende die wenigsten Verluste durch vorbeifahrende Züge zu beklagen hatte, gewann. Es fließt für einen Kinderspot viel Blut, wie gesagt, und nach wenigen Ausstrahlungen wurde "The Finishing Line" aus dem britischen Fernsehen verbannt, gewann allerdings gleichzeitig zahlreiche Preise.

RASHOMON ist der Soloauftritt des Briten MATT THOMPSON, eines Gitarristen und Sängers, der wohl am ehesten als Mitbegründer der Art Prog Rock-Band GUAPO bekannt sein dürfte. Sein Filmmusik-Projekt hat der Londoner 2004 gegründet, wobei es ihm nicht in erster Linie darum geht, tatsächlich Filmmusik zu machen. THOMPSON will die Zwischentöne hörbar machen: was der Zuschauer mutmaßlich fühlt, was sich im Kopf beim Betrachten abspielt, welche versteckten Bedeutungen der Film transportiert. Seine "Film Music Volume"-Reihe soll den Kinobesuch auf emotionaler Ebene simulieren. Vor drei Jahren widmete sich "Volume 1 – The Ruined Map" (auf MIRRORS) noch acht verschiedenen Produktionen, darunter die titelgebende japanische Buchverfilmung von 1968 oder der weitaus bekanntere ZUGSMITH-Film "Confessions Of An Opium Eater" (1962). Der wilde Musikmix aus Free Jazz, Walzer, Folklore, Drones, Prog Rock und anderen Spielereien brachte THOMPSON einige Vergleiche mit dem japanischen Filmkomponisten TŌRU TAKEMITSU ein. Bei den Schweizern von HINTERZIMMER RECORDS, die vor einigen Monaten die wunderbaren KINIT HER veröffentlichten (NONPOP-Besprechung), ist nun "Volume 2" erschienen.

Ein klaustrophobischer Tiegel, dieses Werk, auch wenn in ihm nicht ganz so viele Verrücktheiten verschmelzen wie bei "The Ruined Map". Mit dem starken Ton einer Zither beginnt jeder der vier Tracks. Ein in Zeitlupe eingesetzter Schlagzeugbesen bildet den Rahmen, strukturiert Anfangs- und Schlussstück. Sofort nähert sich der Zug in Form eines unheimlichen, dauerhaften Geräusches, begleitet von einem Kratzen und Schaben. Dann nehmen Percussion und eine geisterhafte Melodie aus Mellotron und Akustikgitarre die nostalgische Ausstrahlung des Films auf. In der Mitte von "The First Race" übernimmt ein schier endloser Drone aus dem Synthesizer, vermischt mit einem später immer wieder auftauchenden, schmerzhaften und hochfrequenten Pfeifen. Nach circa zehn Minuten und einer Phase der scheinbaren Improvisation verdichtet sich horreske Atmosphäre: eine düstere Begräbnisorgel mit tiefschwarzem E-Gitarren-Solo zeugt eindeutig von Gefahr. "The Second Race" wird von einer traurigen Melodie bestimmt, einer elektro-akustischen Mischung mit seltsam ergreifenden Gitarrenakkorden. Immer wieder wispernde Stimmen sowie eine zum Ende verrückt werdende E-Gitarre kündigen weiterhin Unheil an. Das 'dritte Rennen' ist das härteste, ein Gebrüll aus reinem Noise, aus Loops fieser Geräusche, Dunkelheit und Schmerz. Die experimentelle Elektronik geht bis an die Schmerzgrenze und steigert sich am Ende noch einmal in ohrenbetäubendes Gebrüll. Im vierten Teil sorgen Schlagzeugbesen und lässige Gitarre wieder für eine entspanntere, eine Jazzbar-Umgebung, die später von fiependen, aber sehr entfernten und verwehten Noises gestört wird, bis ein blecherner Schlag den Spuk beendet.

THOMPSON bleibt mit der Betitelung nah am Film, benennt seine vier Teile nach Szenen aus "The Finishing Line". Ob der Hörer schlussendlich eine Verbindung zwischen den bewegten Bildern und der Musik ziehen kann, ist meines Erachtens gar nicht so wichtig. Der fiktive Soundtrack von RASHOMON ist so intensiv und spielt oft mit so eindeutigen Bildern wie dem Geräusch eines nahenden Zuges, dass er auch ohne Kenntnis des 33 Jahre alten Originals sehr gut funktioniert. Ein nostalgisches Prog-Drone-Experiment zwischen Zither und Noise, mächtig und spannend. "Volume 3" soll noch in diesem Jahr erscheinen.




 
Michael We. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» HINTERZIMMER RECORDS


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Zusammenfassung
Ein fiktiver Soundtrack, der die Emotionen beim Betrachten von "The Finishing Line" wiedergeben soll. Die Betitelung bleibt eng an den Bildern, letztendlich funktioniert das intensive Experiment auch ohne Film sehr gut. Zwischen Zither und schmerzendem Geräusch ist alles dabei. Hörenswert!

Inhalt
01 - THE FIRST RACE (9 And Under Fence Breaking) 13:57
02 - THE SECOND RACE (12 And Under Stone Throwing) 08:10
03 - THE THIRD RACE (Last Across) 12:20
04 - THE FOURTH RACE (All Ages Tunnel Walk) 10:58
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