"I like burning houses down, and factories as well!" Mit dieser Ankündigung im Falsett beginnt der furiose Tanz auf einem glänzenden Parkett, welches von tiefschwarzem Humor und krankhaften Zwängen, Tod und verschmähter Liebe, Zynismus und Misanthropie sowie jeder Menge Spaß eingefasst wird. Alle 18 Musiker und Gruppen auf diesem Sampler fühlen sich der Zeit des 'Weimar cabaret' verbunden, der Hochzeit des Kabaretts in Deutschland. Nach dem Ende des ersten Weltkrieges entwickelte sich in den 1920er-Jahren, während der Zeit der Weimarer Republik, eine blühende Kabarett-Kultur. Wie die Kunst insgesamt befreiten sich auch die Kabarettisten von politischen und akademischen Zwängen und wählten ihre Themen, wie es ihnen gefiel. Ein Conférencier verband die einzelnen Nummern miteinander, die weder formal noch inhaltlich an einen Rahmen gebunden waren. Oft sangen die Künstler derbe und anzügliche, aber auch sentimentale Lieder von Liebe, der Klassengesellschaft, Mode, Politik und und und. Auch Themen, die wenige Jahre zuvor noch undenkbar gewesen wären, fanden ihren Platz, etwa Prostitution oder Homosexualität. Eine solche, aus allen Nähten platzende Hinterzimmer-Revue liefert uns das "Twisted Cabaret", dessen Zusatz "Vol. 1" auf Fortsetzungen hoffen lässt. (Teaser-Video
siehe unten.)
Die Ehre der Eröffnungsnummer gebührt den schrillen
TIGER LILLIES, obwohl das Adjektiv 'schrill' für nahezu alle hier gesammelten Auftritte gilt. Gesang, als ob Miss Piggy gerade Kermit den Forsch verschluckt hätte, untermalt von Akkordeon, Feuerglocken und Alarmsirenen. "Start A Fire", die Hymne aller Pyromanen, ist wirklich zum Brüllen komisch. Die Muppets auf harten Drogen, musikalisch – wie mancher Song – an die beiden Amis von
THEY MIGHT BE GIANTS erinnernd.
BABY DEE folgt mit ihrer einzigartigen, theateresken und theatralischen Stimme zu Piano, Bass und Streichern. Kaffeehausatmosphäre trotz des schwierigen Themas, ein Song über ihren Vater und – vermutlich – Missbrauch: "Life is bitter and that is sweet." Menschen am Abgrund, deren Verzweiflung aber immer wieder in Komik umschlägt, in boshaften Zynismus und natürlich in wunderbare Musik. Das Duo
EVELYN EVELYN (gegründet von
AMANDA PALMER,
DRESDEN DOLLS) zündet einen der frivolen Schlager, die für die 20er-Jahre typisch waren, im Stile der
damaligen Vokalensembles. Die mir bis dato unbekannte britische Gruppe
THE REAL TUESDAY WELD klingt mit ihrem Beitrag zum ersten Mal fast modern, bis auf das Rauschen und Knistern im Hintergrund; eine düster-süßliche Ballade über den Tod, inklusive mindestens 50 Prozent des gesammelten Weltschmerzes. LIZA MINELLI schaut vorbei (alias AMANDA PALMER, dieses Mal zusammen mit den DOLLS), eine hochprozentige TOM WAITS-Stimme grölt zur Humtata-Tuba ("Come let us die, just you and I."), ein französischer Angst-Chanson mit Geister-Huiiiis im Hintergrund wird durchs Telefon eingesungen.
Ungefähr in der Mitte der Show nehmen
THE RESIDENTS Platz, die legendären singenden Augäpfel, und ein weiterer Höhepunkt beginnt. In literaturwissenschaftliche Schubladen einsortiert, landete "The Dying Oilman" wohl im Fach 'Suspense': Eine dunkle, schleichende, barocke Ballade mit schauspielerischen Einlagen, tatsächlich die Vertonung des Todes eines 'Ölarbeiters'. Über Tango aus Japan, knochentrockenen Vamp-Blues, eine hinreißende Country-Persiflage zum Thema Doppelliebe ("Bonnie & Clyde") und die inbrünstige Gospel-Darbietung von
LITTLE ANNIE zum nächsten Glanzstück der Revue, den
LEGENDARY PINK DOTS. Ein wahnsinniger, schizophrener
EDWARD KA-SPEL sinniert mit seiner markanten Stimme zu einzelnen Orgeltönen vor sich hin, zwischendrin surreale, hörstückartige Einspieler mit KA-SPEL per Telefon und Zug-Instrumentierung ('tschug tschug'). Drehen wir die Uhr ein wenig Richtung Mitternacht und blicken auf den letzten Gast, der den Preis für den besten Namen bekommt:
LITTLE WHITE RABBITS STILL BLEED RED aus Indianapolis. Nun ja, sollte je ein Revuesänger versucht haben zu growlen, könnte es vielleicht so klingen wie in "Balloon Animal Suicide", begleitet von wavigem Minimal-Elektro.
Kurzum: Einen internationalen, avantgardistischen Haufen hat das französische Label
VOLVOX hier zusammengesucht, vermutlich den hochwertigsten, der momentan für 15 Euro zu bekommen ist. Man trifft sich mit einer gesunden Portion Lebensmüdigkeit und tanzt im Dreivierteltakt in den Tod, oder zumindest in den Vollsuff. Bei 18 Songs kein einziger Totalausfall, dazu sind viele Stücke selten oder sogar exklusiv. Kaufen.
"Wouldn't it be fun to ring the funeral bell on our civilisation watch it burn in hell!"Für rund fünf Euro mehr ist "Twisted Cabaret Vol. 1" in einer limitierten Auflage mit DVD erhältlich. Fast alle Künstler haben Kurzfilme zu Songs beigesteuert, die nicht auf der CD sind, also noch einmal knapp 20 zusätzliche Lieder plus Optik, vom handgebastelten Videoclip über die Liveaufnahme bis hin zum avantgardistischen Kunstwerk. Eine Freakshow im wahrsten Sinne des Wortes mit zum Beispiel fiesen Witzen über siamesische Zwillinge, einer headbangenden BABY DEE oder zwei Japanerinnen mit barocken Perücken und Schunkel-Akkordeon. Ans Herz gewachsen ist mir die einfallsreich in Szene gesetzte, natürlich tragische Liebesgeschichte (siehe Video
unten – auf der DVD übrigens mit englischer Übersetzung) der im obigen Audioteil nicht erwähnten, aus dem Punk stammenden Niederländer
DE KIFT. Zu Blasmusik torkelt ein kleiner Mensch, von seiner Liebe verlassen, ohne Selbstbestimmung durch das Leben. Sogar vom Kopierer im Büro wird er herumgeschubst, eine von tausend feinen Ideen, ebenso wie der Fensterputzer mit Tuba. Auch kaufen.