Tilburg ist ein hübsches, kleines Kaff mit etwas über zweihunderttausend Einwohnern, welches inmitten der grünen Ebenerdigkeit der überschaubaren Niederlande gelegen einmal jährlich eine Festivalwunderkerze zündet. Die inzwischen unter dem Namen „Incubate“ auftretende Veranstaltung ist dabei im mehrfachen Sinne eigen und ein wenig abseits des Festivalmainstreams zu verorten. Erstens handelt es sich um ein Stadt- und Clubfestival, d.h.: keine Camping-Eskapaden und auch nicht die üblichen Sommerfestival-am-See-inklusive-Grillen-Einfallslosigkeiten. Zweitens dauert das Festival eine ganze Woche und bietet dabei drittens ein musikalisches Spektrum von Indierock und Folk bis hin zu Blackmetal, Elektroakustik und Neofolk. Der Untertitel des Festivals, welcher von einer „Independent Culture“-Veranstaltung spricht, bürgt darüber hinaus und viertens für Horizonterweiterungen in den Bereichen Malerei, Performance Art und so fort (unter anderem war 2009 HERMANN NITSCH vor Ort tätig).
Dieses Jahr nun erwies sich der letzte von sieben Tagen als Highlight und Epizentrum des Festivals. :OF THE WAND AND THE MOON: eröffneten den fröhlichen Reigen in der protestantischen „Pauluskerk“ (Pauluskirche). Ebenso durch die offensichtliche Ironie der Kopplung erheitert wie das Publikum, wurde das Gotteshaus von KIM LARSEN und seinen heidnischen Kollegen mit einem guten, auch an das WGT erinnernden Programm inklusive „Nighttime at Sonnenheim“, „Raven Chant“ und etlichen anderen Klassikern der Gruppe bespielt. Freilich, dem extrem minimalistischen, um nicht zu sagen redundanten Neofolkstil des Trios fehlt live die poppig-effektive Eingängigkeit einer Platte wie „Sonnenheim“, welche es ja wunderbarerweise schafft, Powermetal-Lyrics mit 80er Pop-affinen Keyboards, Forseti-Akkordeon und Death In June-Gitarren catchy zu vermischen. Dennoch eine gute Eröffnung des letzten Festivaltages in einem wirklich außergewöhnlichen, spartanischen Ambiente.
Da der nachfolgende Singer-Songwriter nichts Gutes verhieß, bot es sich daraufhin an, sowohl die japanische Elektronikkünstlerin TUJIKO NORIKO als auch den Gitarren-Feedback-Noise-Improvisator STIAN WESTERHUS anzutesten. Erstere erwies sich dabei als nervige Elektrofrickel-Prinzessin mit viel zu guten Nerven, während Zweiterer die gar nichts erwartenden und oft eher zufällig in den Plattenladen „Sounds“ gestolperten Zuhörer äußerst positiv überraschte. Zunächst konvulsive Noisewälle auffahrend, entwickelte sich seine Performance zunehmend in Richtung eines Sounds, welcher an Projekte wie HARVEST MAN bzw. NEIL YOUNGs „Dead Man“-Soundtrack erinnerte. Sehr überzeugend, sehr stimmig. Dazu konnte nach Belieben das vielfältige und distinguierte Angebot des kleinen Ladens durchstöbert werden, während preiswertes Bier die Kundschaft erfreute: Top.
Im „Little Devil“, einer Art Rock-Club mit Skeletten an den Wänden und Ähnlichem, folgten pünktlich um 18 Uhr dann die an der Schnittstelle von Noise und Black Metal operierenden ALUK TODOLO. Deren teuflischer occult rock, rein instrumental, unheimlich präzise und druckvoll, stellte dann auch das No-Nonsense-Highlight des letzten Festivaltages, trotz der maximal 40 Besucher, dar. Das aus Schlagzeug, Gitarre und Bass bestehende Trio war auch mir bis vor kurzem noch unbekannt, was erst die dunklen Machenschaften des Redaktionskollegen nemesis änderten. Dennoch sind sie im NONPOP-Kosmos höchst willkommen, besonders natürlich mir, der sich über Nowave-Basslauf-Einsprengsel, versteckt unter dicken Schichten oszillierenden Krachs auch Tage später weiterhin freuen kann. Apropos Redaktionskollegen: Der Gitarrist der Band wirkte auf mich wie eine Mischung unseres Blackmetal/Deathmetal-Hausredakteurs D.T. und PETER STEELE: eigentümlicher Sachverhalt, befremdliche Mischung.
Einen kurzen Spaziergang entfernt trat derweil das Trio aus BAIN WOLFKIND, DEUTSCH NEPAL und DER BLUTHARSCH zum gemeinsamen Konzertabend an. Wir betraten jedoch erst zu DEUTSCH NEPAL die recht große Halle, in welcher man allerdings holländisches Bier mit aufgeklebtem ALBIN JULIUS erwerben konnte. Sehr schick und schmackhaft zugleich. Auch LINA BABY DOLL trank sich während seines Sets eins, völlig zu Recht übrigens.
Nach der folgenden kurzen Pause, ging es dann mit dem Headliner der Herzen los: DER BLUTHARSCH betraten in schwarzen Schlipsen und weißen Hemden, angekündigt durch eine Reihe von Glockenschlägen die Bühne. Bereits „The Philosophers Stone“ zeigte beeindruckend die Gewalt der Bandwerdung des ehemaligen Vorzeige-Military Pop/Martial Industrial-Projektes – Musikstilbezeichnungen, welche zu Recht „Uneingeweihte“ in Lachen ausbrechen lassen. Zu diesem gab der Auftritt des Fünfers allerdings absolut keinen Anlass. Geboten wurde dagegen schwerer, dröhnender Rock, mit dem Psychedelischen flirtend, nicht aggressiv, aber massiv. Dass DER BLUTHARSCH hierbei nur selten „catchy“ sind, schmälert dabei zwar vielleicht ihren Pop-Appeal, beschert ihnen freilich zugleich bei aller Weiterentwicklung eine gewisse prinzipielle Sperrigkeit, welche dem Klang der Band doch zugute kommt – gerade wenn sie, sozusagen als Hommage an die eigene Geschichte, mit einem in ein völlig neues akustisches Gewand gekleideten Track (jetzt Song) wie „Das ist das Wunder“ (von „Der Sieg des Lichtes ist des Lebens Heil“) den Abend eröffnet. Und so sei an dieser Stelle noch einmal auf die Gelegenheit hingewiesen, die Band in den nächsten Tagen auf Tour live zu erleben. Der Sound war freilich nicht unbedingt hervorragend: Herr Julius war kaum zu hören, die optisch extrem beeindruckenden Gitarrenamokläufe wirkten oftmals im Gesamtbild geradezu verloren. Vielleicht war ich aber auch einfach schon zu betrunken.
Wer sich nun wie Hermes der Götterbote beeilte, konnte zum Abschluss des Konzertreigens noch die im NONPOP-Kontext ja oftmals verbal malträtierte SOAP & SKIN „bewundern“. Doch den wütenden Rotzfetzen im Gesicht vieler Herrn, aber auch den verträumten Indiepopprinzessinnen-Blicken von emotional gestörten Mitzwanzigerinnen entgegen, muss hier vor allem von einem differenzierten Eindruck gesprochen werden. Denn: das Phänomen SOAP & SKIN hat zwei Seiten – auf der einen gibt es erhabene Momente, eine tolle, charismatische Sängerin, Songs, deren Klavierbasis auf verschleppte Elektrobeats und Tonschleifen treffen, alles filigran schimmernd und fragil-edel. Auf der anderen Seite herrscht da aber auch viel dröhnendes, formelhaftes Pathos (der Marke: PATHOS! EMOTION! DRAAHAMA!) und es gibt manche Momente unfreiwillig komischen Schülertheaters zu bestaunen. Was sich letztlich als nachhaltiger erweist, wird wahrscheinlich das nächste Album zeigen, bis dahin wechseln sich auratische Momente mit blankem Käse ab.
Wer nach soviel Musik noch nicht genug hatte, fand sich zur Aftershowparty im bereits erwähnten „Little Devil“ ein. Hier feierte primär das Festivalteam, dabei weder Rücksicht auf sich noch auf andere Gäste nehmend – gut so! Ob allerdings eine Mischung aus 80er Pop, holländischem Schlager, LAIBACH, deutschen (!!!) Karnevalsliedern, Punkrockklassikern und Bierregen für die eigene Party empfehlenswert ist, sei ... ähem ... dahingestellt. Doch nicht nur die besoffene Glückseligkeit kulturell isolierter Grachtenbewohner bleibt in warmer Erinnerung, auch der Hamburger Elektroknochenbrecher RUMMELSNUFF, in kurzer Hose und mit Seemannskäppi an den Tresen gelehnt, wie der Sailor Man aus dem gleichnamigen Song der göttlichen TURBONEGRO, wärmt die Herzen der melancholisch veranlagten Festivalbesucher noch heute.
Fazit: Als Gesamtpaket ist das „Incubate“-Festival weiterhin mit Vorsicht zu genießen – zu unterschiedlich das Angebot, von Tag zu Tag, Stunde zu Stunde. Gezielt aufgesucht, bietet es jedoch einen weitaus größeren Charme als viele vergleichbare Events. Wem Veranstaltungen wie Mithras Garden letztlich zwar willkommen, musikalisch aber unbefriedigend bzw. allzu vorhersehbar erscheinen, der sollte nächstes Jahr einen Blick auf das Programm wagen und sich gegebenenfalls zu einem Besuch hinreißen lassen. Tilburg ist eine Reise wert, bietet viele musikalische Überraschungen und „Flying high!“ kann hier völlig legal als Wahlspruch des Tages durchgehen.
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