Ein seltsames Album. LLOYD JAMES ist der Chefdenker von
NAEVUS, "Enquiries" sein Solodebüt unter dem Namen
RETARDER. Schon die Schlagzeile "Concerning number, modernity and other interesting subjects", welche direkt auf dem Cover prangt, lässt auf eine kunterbunte Ideensammlung schließen, und dieser erste Eindruck wird durch viele weitere Details und schlussendlich die meisten der acht Tracks bestätigt. JAMES scheint lange den Wunsch gehegt zu haben, etwas Modernes, vielleicht Avantgardistisches zu produzieren. Die Gedanken sind ihm dabei aus dem Kopf offenbar direkt auf die meist akustischen Instrumente gepurzelt, und zusammen mit einigen aufgezeichneten Solo-Fragmenten aus den vergangenen zehn Jahren ergibt dies ein wildes, frisches, oft aber auch recht beliebiges Bild.
Der Untertitel dieses Artikels bezieht sich auf das erste Stück, "Dancing". Ein Klavier beinahe sechs Minuten lang malträtiert, wobei mehrere separate Aufnahmen übereinander gelegt und zum Schluss noch mit Posaunendrones ergänzt werden. Nun ja, '
Boogie Woogie' war und ist die Assoziation, die den dabei entstandenen Sound wohl am ehesten trifft. Manche der Klavierspuren dienten bislang übrigens als Hintergrundmusik für Liveauftritte von
LARK BLAMES, die Zusammenarbeit zwischen LLOYD JAMES und MARC BLACKIE (
SLEEPING PICTURES). Posaunen wurden später hinzugefügt. "Turn That Light Off" (2) ist das erste von einigen Liedern, die wie aus dem Zerrspiegel zurückgeworfene NAEVUS-Songs wirken. Die einprägsame Stimme von JAMES taucht auf, singt – leicht metallisch verfremdet – ihren Text, indem sie auf ein und derselben Note verharrt. Beschwipst-rockige Instrumente, vor allem Bass und E-Gitarre, begleiten sie. Ein kleines, schrubbeliges Klanggewitter, erworben am Souvenirstand der
PIXIES. Bei "Tongue In The Wind" (3) sagt der Titel schon viel über das Stück aus, esoterische Synthesizerlayer und eine quietschende Mandoline flattern während mehr als fünf Minuten in der Luft. In "Dead Numbers" (5) schlägt als einzige Konstante der stoische Bass seine Töne im Hintergrund an, darüber faucht eine zehnminütige Jamsession, während der sich LLOYD JAMES mit Zufallsimprovisationen an E-Gitarren und einem
Stylophone auslebt, was auf Dauer doch anstrengend wird.
Ebenfalls improvisiert, aber wesentlich freundlicher zu den Ohren ist das Instrumental "Superman's Cave" (6): Im Jahr 2007 am Stück aufgenommen, scheint der Track aus Zeiten zu stammen, in denen
VANGELIS wunderbar schwebende, futuristische Soundtracks für Science Fiction-Filme entwarf; ein Querverweis zu den Prog-Rock-Anklängen des aktuellen NAEVUS-Albums "Relatively
Close To The Sea" (Links zu Rezis siehe
unten), nur ohne Rock. "Modern Evening" (7) beginnt mit purer Improvisationsmusik am Synthesizer und geht über in einen weiteren 'Zerrspiegel'-Teil. Wie durch ein Telefon die Stimme von LLOYD JAMES, krächzende Instrumente im Raum verteilt, eine sehr moderne Art des lyrischen Vortrages. Ab der Mitte wird der Achtminüter allerdings so unnachahmlich blechern und schleppend rockig, dass er es auch auf das erwähnte "Relatively ..."-Album hätte schaffen können. Zum Schluss lässt "Chalk Is Valuable" noch einmal viele Fragen offen. Gleich einer Versuchsanordnung im Physikunterricht wird getestet, wie sich einzelne, voneinander getrennte Wörter bei regelmäßiger Wiederholung und geringfügiger Veränderung der Versuchsanordnung verhalten. Dieser Titel ist – soweit ich weiß – der einzige, der schon veröffentlicht wurde, und zwar in einer leicht geänderten Fassung auf dem von einigen Musikern in Eigenproduktion aufgelegten Kassettensampler "
Nature's Mistakes".
Wer mitgezählt hat, vermisst einen Titel: Ich habe ihn mir bis zum Schluss aufgehoben, denn obwohl "Farmer Duncan" überhaupt nicht auf das Album passt, ist das vierte Stück das unumstrittene Highlight von "Enquiries". Ein reines, kräftiges NAEVUS-Stück, das auf jedem Album seit "Perfection Is A Process" zu den besten gehört hätte. Mit unterschwellig punkrockiger Attitüde, der typisch voranmarschierenden Akustikgitarre, einigen folkloristischen Instrumenten und – endlich – der dunklen, unverfälschten Stimme von LLOYD JAMES. Am besten ist sie einfach dann, wenn sie ein von ihrem Träger verfasstes, mit vielen Symbolen gespicktes und auf Anhieb meist nicht verständliches lyrisches Etwas vorträgt, das aber allein durch ein fühlbares Gespür für Sprache emotionalisiert. In diesem Umfeld wirkt es allerdings verloren, aus Versehen platziert.
Ein seltsames Album, wie gesagt. 'Improvised' ist das häufigste Wort des beiliegenden Promozettels, und so schwankt "Enquiries" oft zwischen dem Ausprobieren von Neuem und der Resteverwertung bereits vorhandener, in den vergangenen Jahren aufgezeichneter Elemente. Einige Passagen, wie die lässig dahingetupfte Zukunftsvision in "Superman's Cave", lassen das Genie durchblicken, das LLOYD JAMES innewohnt und das er für NAEVUS regelmäßig herauslässt, auch für das mitreißende "Farmer Duncan". Interessant vermutlich nur für wirklich treue NAEVUS-Fans, die per se jede musikalische Regung mitverfolgen.