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Michael We.
MATHEW ADKINS: [60]Project
Herzlichen Glückwunsch, Musique concrète!
Kategorie: Rezension
Erstellt: 08.05.2009
Wörter: 992
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"Die Musique concrète, und das spürte ich vom ersten Tag an, ist nichts als die Kapitulation vor dem Unbestimmten, ist nichts als ein arg dilettantisches Glücksspiel und ungezügelte Improvisation." Aus einem Brief (1952) von KARLHEINZ STOCKHAUSEN an KAREL GOEYVAERTS
Vor rund 60 Jahren hat PIERRE SCHAEFFER (1910-1995) die Musikwelt verändert. Mit dem gellenden Pfiff einer Dampflokomotive eröffnete er 1948 seine Etüde für Eisenbahnen, "Etude aux chemins de fer". (Sie ist am Ende des Artikels übrigens nachzuhören.) Zum ersten Mal in der Geschichte der abendländischen Musik verwendete der Franzose reale Geräusche als kompositorisches Material und arbeitete mit deren Verfremdung, wie zum Beispiel durch die Manipulation der Abspielgeschwindigkeit. Außerdem gilt SCHAEFFER als Erfinder des Loops: Während seiner Ingenieurszeit beim Hörfunk entwickelte er ein Verfahren, mit dem bestimmte Abschnitte einer Schallplatte als Schleife wiedergegeben werden konnten. Dieser experimentelle Umgang mit Originalquellen wird seither, im Gegensatz zur seriellen Musik, als 'Musique concrète' bezeichnet. Definiert von RUDOLF FRISIUS, einem Musikwissenschaftler und Spezialisten für Neue Musik, klingt das so: "Musique concrète ist die von PIERRE SCHAEFFER eingeführte Bezeichnung für Musik, die technisch fixierte Klänge als Ausgangsmaterialien verwendet und bei deren Auswahl und Verarbeitung von den empirischen Gegebenheiten der konkreten Hörwahrnehmung und den Möglichkeiten ihrer Dokumentation und Weiterentwicklung in modernen Techniken der Klangaufnahme und -verarbeitung ausgeht."
Der junge Brite MATHEW ADKINS (*1972) ist ein geistiger Nachfahre SCHAEFFERs, ein Nerd der elektronischen und elektroakustischen Musik. Als Komponist und bildender Künstler hat er bereits zahllose Preise für seine Werke und Installationen gewonnen. ADKINS studierte zunächst französische Mittelalter- und italienische Renaissance-Musik, bevor er unter JONTY HARRISON zur elektronischen Musik an die Uni von Birmingham wechselte. Zum 60sten Geburtstag der Musique concrète setzte er eine wahrhaft große Idee um: 60 internationale Soundkünstler sollten sich mit je einer Originalquelle an einer Jubiläumskomposition zu Ehren SCHAEFFERs beteiligen. Am Ende wurden es sogar 66 Musiker, darunter LAWRENCE ENGLISH, CHRISTIAN FENNESZ, AMBROSE FIELD, FRANCISCO LÓPEZ, SCANNER oder DAVID TOOP, um nur einige zu nennen. (Eine komplette Liste aller Beteiligten könnt Ihr auf der nächsten Seite einsehen.)
Die Produktion fand in drei Stufen statt: Jeder der Teilnehmer lieferte zunächst ohne genauere Vorgabe einen rohen Sound ab. Alle diese Geräusche wurden auf einer Internetseite gesammelt. Anschließend bat ADKINS die Künstler – wiederum ohne detaillierte Anleitung –, das Material zu bearbeiten. Einige konzentrierten sich auf wenige Quellen, die sie verfremdeten. Andere packten viele Teile wie bei einem Puzzle zu neuen Komplexen zusammen. Auch auf diese Ergebnisse konnte ADKINS online zugreifen. Er sammelte die Einzelteile des ersten und zweiten Durchgangs im vergangenen Sommer ein und zog sich zum Komponieren in die Originalstudios von INA/GRM (Institut National Audiovisuel, Groupe de Recherches Musicales) zurück, die SCHAEFFER 1951 in Paris gegründet hatte. Für den Kompositionsprozess galten die selben Regeln, die der Franzose FRANCIS DHOMONT 1997 für seine "Frankenstein Symphony" aufgestellt hatte, ein ebenfalls aus vielen Komponenten zusammengesetztes Werk: Einzelteile kürzen oder übereinander schichten ('layern') ist erlaubt, weitere Transformationen der Sounds aber nicht. Das Ergebnis namens "[60]Project" wurde inzwischen rund um die Welt aufgeführt, zuletzt Ende April in Dänemark und Anfang Mai in Rio. Es liegt nun auch als CD vor.
ADKINS hat den acht entstandenen Stücke aussagekräftige Titel gegeben und sie in drei Blöcken zusammengefasst. Auffallend von Beginn an ist die starke organische Atmosphäre, vermutlich den vielen natürlichen Geräuschen geschuldet, welche die Basis für die circa 60 Minuten bilden. Wie eine einfache Lebensform, die ihre Fühler nach allen Seiten ausstreckt, berühren die Töne den Hörer. Alles wirkt sehr viel stärker komponiert als originale Musique concrète, teilweise fast wie melodiöser Ambient. Aus den Sounds, die ihrem Ursprung nur noch selten zuzuordnen sind, wächst dabei aber stets ein Ganzes. Zu Beginn des ersten Tracks bleibt das Werk sehr ruhig, mit ähnlich klingenden, filigranen Abschnitten. Später tönt es chorähnlich hallend und orchestral, nimmt an Lautstärke zu. Immer wieder taucht eine Art Geigerzähler auf, der sehr an einige Alben von BAD SECTOR erinnert. "Concrète / Instrumental" (2) ist, um im Tierreich zu bleiben, ein aufgeregter, wuseliger Ameisenhaufen, durch den gelegentlich Gongs und 'Swooshes' fahren. Viele instrumentale Klänge werden dem Namen gerecht, das Stück könnte Improvisationsmusik der 1970er-Jahre sein. Auch rhythmisch kann es zugehen wie im dritten Teil, wenn Sequenzen durch eine Art Takt gegliedert sind, den verzerrte, stimmähnliche Beeps fortlaufend zerfasern. Part 4 und 5 erklären sich selbst, ADKINS arbeitet viel mit Wasserklängen ("Sea Soundscape") und einer dumpferen Tiefsee-Umgebung, in der das Sonar eine Ortung versucht. Metallene, rauschende Strecken weisen den Weg in die Stadt mit Hochhäusern und Verkehrslärm ("Urban Soundscape"). Das letzte Drittel des Albums mit seinen drei Stücken geht in Richtung Dark Ambient. Ein weites, höhliges Bett aus geschichteten Elementen wird von noisigen Frickeleien durchbrochen, die schon andeuten, wie es weitergeht: Sehr harsch, denn "Noise Study" schießt ein Feuerwerk an zerstörerischen Sounds ab, von denen man fast Kopfweh bekommt ob des permanenten Wechselspiels zwischen Krach und absoluter Stille. Zum Abschluss, im mit 13 Minuten längsten Track, bedient sich ADKINS noch einmal vieler schon bekannter Elemente. Wie ein Organist zieht er gegen Ende seines Konzerts (fast) alle Register und bekommt dennoch eine Struktur hin, die in Anlehnung an den Songtitel sehr ausgedehnt, raumfüllend ist.
Zugegeben, ohne die Entstehungsgeschichte ist dieses Album nur halb so reizvoll. Die gewaltige Faszination von "[60]Project" liegt eher im Prozess selbst als im hörbaren Ergebnis. Das Nachfühlen und Nachstellen von Ursprüngen elektronischer Musik macht die Sinnlichkeit aus. Natürlich ist es trotzdem eine immense Leistung, diese riesige Menge an Input in 60 Minuten zu bündeln und dabei so ansprechend zu gestalten, dass auch Konsumenten auf ihre Kosten kommen, die einfach 'nur' reine Ambient- oder gemäßigte Noisemusik mögen. 3D-Kino für die Ohren unter dem Kopfhörer ist "[60]Project" allemal, wenn auch nicht mit der ursprünglichen Wucht von Musique concrète.
Etüde für Eisenbahnen
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Verweise zum Artikel:
» einführende Texte zu Musique concrète und SCHAEFFER
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Zusammenfassung
Wie hätte PIERRE SCHAEFFER wohl heute geklungen? Der Brite MATHEW ADKINS versucht eine Antwort und komponiert Musique concrète aus Material von mehr als 60 Künstlern. Das Ergebnis könnte auch Dark Ambient-Fans gefallen. Faszinierend daran ist vor allem der sinnliche Entstehungsprozess.
Positiv aufgefallen
Umfangreiche Infos als Beilage.
Inhalt
1 Abstract / Ambient (7:52)
2 Concrète / Instrumental (8:13)
3 Concrète / Experimental (6:03)
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4 Sea Soundscape (9:01)
5 Urban Soundscape (7:05)
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6 Ambient Instrumental (5:59)
7 Noise Study (2:44)
8 Extended Vocal (13.05)
ca. 60 min.
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