http://www.nonpop.de/nonpop/index.php?type=review&area=1&p=articles&id=1713&high=originale
NONPOP - Artikel > Rezensionen > Tonträger > ALVA NOTO: Xerrox Vol. 2



Michael We.

ALVA NOTO: Xerrox Vol. 2

Watte mit Stahlwolle


ALVA NOTO: Xerrox Vol. 2
Genre: Experimental
Verlag: Raster-Noton
Erscheinungsdatum:
Anfang 2009
Medium: CD
Preis: ~16,00 €
Kaufen bei: Raster-Noton...


Schrift vergrößern Schrift verkleinern

Eigentlich befindet sich auf "Xerrox Vol. 2" einfach gute Ambientmusik. Es lässt sich aber auch eine Geschichte dazu erzählen, und die geht so:

NICOLAIS Beschäftigung mit Klang und Musik folgt keinem [...] allgemeinen Interesse. Mit ihr setzt sich vielmehr das fort, was auch den Arbeiten, die im Bereich der Bildenden Kunst wahrgenommen werden, zugrunde liegt: Immer geht es um die Formbarkeit formloser Materie und den Widerstand dieser Materie, definierte Form zu werden [...] Musik und Klang sind für Nicolai dementsprechend keine alternativen Ausdrucksmittel, sondern eben das geeignete Material, um sein Interesse am Prozesshaften, an Bewegung [...] erfahrbar zu machen. Dahinter steht durchaus das Anliegen, Kunst müsse [...] etwas mit dem menschlichen Leben, dem Leben allgemein, den existenziellen Bedingungen zu tun haben.

Mit diesen Worten beschreibt der Kunstjournalist und Buchautor MARTIN PESCH die umfangreiche Arbeit von CARSTEN NICOLAI alias ALVA NOTO. Der Text stammt aus dem Buch "Autopilot" (2002), eine mit CD veröffentlichte Werkschau und -erklärung, was schon darauf hindeutet, wie bekannt der Künstler aus Chemnitz inzwischen ist. Wir merken uns zunächst: "prozesshaft" und "etwas mit dem menschlichen Leben zu tun", zwei elementare Punkte auch für die "Xerrox"-Audioreihe.
NICOLAI (*1965) beschäftigt sich hauptsächlich mit der Idee, Klänge sichtbar zu machen. Diesem zentralen Anliegen hat er rund um die Welt zahllose Installationen gewidmet, unter anderem für verschiedene Biennalen (in Venedig, Bern oder Moskau) und die Kasseler Documenta. Sein vermutlich bekanntestes, sicher aber das am häufigsten besprochene Werk ist "Telefunken" aus dem Jahr 2000: Testfrequenzen und weißes Rauschen werden von einer Audio-CD direkt in verschiedene TV-Monitore gespeist und optisch dargestellt. Ein anderes, beim Publikum sehr beliebtes Werk heißt "snow.noise". Es soll Antworten auf die Frage liefern, wie Schnee klingt; Besucher können dazu in einer Art Labor eigene Schneekristalle entwerfen. Das Portfolio umfasst aber auch rein akustische Arbeiten: sowohl Solowerke als auch Zusammenarbeiten mit anderen 'Klangtüftlern' wie dem Japaner RYOJI IKEDA oder ROBIN RIMBAUD aka SCANNER. Eigene Alben veröffentlicht der ehemalige Gärtner und Landschaftsarchitekt auf RASTER-NOTON, dem ebenfalls in Chemnitz ansässigen Label für experimentelle Elektronikmusik, welches er zusammen mit OLAF BENDER (früher bei AG GEIGE) selbst betreibt.

Das Thema der auf fünf Folgen angelegten, aktuellen Serie verrät der Titel: Hier geht es – das Interesse am Prozesshaften – um Ergebnisse von Kopiervorgängen. Die Firma Xerox brachte 1949 den ersten Kopierer der Welt auf den Markt. Der kleine Schreibfehler liefert eine zweite Spur: Durch das zusätzliche 'r' ist das Wort 'error' im Titel versteckt. Es handelt sich also um fehlerhafte Kopien und die Frage, ob und welchen Bezug sie noch zum Original haben oder ob sie durch bewusste Verfremdung nicht wiederum zu eigenen Originalen werden. NICOLAI verwendet Sounds, die wir – "etwas mit dem menschlichen Leben zu tun" – jeden Tag hören. Warteschleifen von Telefon-Hotlines, Werbedurchsagen, Hintergrundgeräusche in einer Hotellounge usw. Durch digitales Kopieren, zum Beispiel das Umwandeln in ein anderes, minderwertiges Format, verändert er diese Originale, zerlegt sie bis zur mikroskopischen Unkenntlichkeit und baut daraus neue Klänge. 'Glitch' ist der Name für solche Fehler beim Übertragungsvorgang, ein Wort aus dem digitalen Slang.
Konnten die Geräusche auf "Vol. 1" teilweise noch identifiziert werden, sind sie auf dem Nachfolger zu einer schwarzen Ambient-Urmasse geworden, zerteilt in einzelne Bits. "Xerrox Vol. 2" verbreitet hauptsächlich eine angenehme, wattierte Stimmung. Für dieses wohlige Gefühl sorgen übereinandergelegte Synthesizer-Akkorde, die sich wie elektronische Streicher in einem fiktiven Orchestergraben aufeinander abstimmen. In ihrer bedächtigen Langsamkeit erinnern die Töne manchmal an BOHREN UND DER CLUB OF GORE, nicht so düster, dafür elektronisch natürlich. Dazu kommt: Rauschen in allen Formen und Farben sowie die Plings und Plongs aus dem Alltag. Anders als nach der Einleitung zu vermuten, ist "Xerrox Vol. 2" ein kompositorischer Akt und nicht nur eine experimentelle Mischung von Sounds. Wie auf der ersten Ausgabe fehlen zwar Beats, aber gleichmäßige Abstände von Rauschen ergeben eine Art Rhythmus, so dass zum Beispiel gleich der erste, zwölf Minuten lange Track durchaus als Musikstück wahrgenommen werden kann; als eine gewaltige, anschwellende Sinfonie, in der sphärische, geheimnisvolle Klänge mal lauter, mal leiser auf Störgeräusche treffen. Watte mit Einschüben von Stahlwolle. Auffällig ist, dass durch jeden Krach hindurch ein sehr warmer Eindruck überwiegt, etwa wenn in Track vier das noisige Kratzen doch stark die Ohren reizt. Vielleicht liegt das daran – aber das ist nur eine Vermutung –, dass die Geräusche tatsächlich aus unserem Alltag stammen und auch verfremdet noch als 'bekannt' wahrgenommen werden. Natürlich lassen sich die beiden bislang erschienenen "Xerrox"-Alben auch ohne alle Erklärungen hören, als Ambientmusik eben, zu der man sich die Bewegungen von Himmelskörpern im dunklen Planetarium lebhaft vorstellen kann.
Bei RASTER-NOTON ist "Xerrox Vol. 2" übrigens auch als SD-Karte zu erstehen. So könnte der Hörer, dem das Produkt als digitales File vorliegt, die Original-Kopie-Frage fortführen und den Sound weiter bearbeiten, verfremden oder am Ende sogar löschen. Von Letzterem möchte ich jedoch ausdrücklich abraten.


 
Michael We. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» Texte aus "Autopilot"
» kurze Erklärung zu "Telefunken"

Themenbezogene Artikel:
» ALVA NOTO & RYUICHI SAKAMOTO: Summvs
» ALVA NOTO, SAKAMOTO & ENSEMBLE MODERN:


Anzeige:
Namentlich gekennzeichnete Beiträge spiegeln ausschließlich die Meinung des jeweiligen Verfassers bzw. Interviewpartners wieder. Nachdruck (auch auszugsweise) nur mit schriftlicher Genehmigung durch den Betreiber dieser Seite.
Link-Code zu diesem Artikel:
Wöchentliche Artikelübersicht per Mail
Werde NONPOP- Redakteur...
» Diesen Artikel bewerten
» Kommentar zum Artikel verfassen
Zusammenfassung
Gute Ambientmusik, die sich ohne Erklärung als eben solche, mit als experimentelle Klangkunst hören lässt. CARSTEN NICOLAI verwendet absichtlich fehlerhafte Kopien von Alltagsgeräuschen und baut diese zu einer warmen Klangwatte zusammen, immer wieder durchzogen von noisigen Störfeuern. Spannend.

Inhalt
01 Xerrox Phaser Acat 1 (12:11)
02 Xerrox Rin (0:51)
03 Xerrox Soma (7:11)
04 Xerrox Meta Phaser (6:23)
05 Xerrox Sora (6:54)
06 Xerrox Monophaser 1 (8:04)
07 Xerrox Monophaser 2 (5:31)
08 Xerrox Teion (2:03)
09 Xerrox Teion Acat (5:26)
10 Xerrox Tek Part 1 (5:28)
11 Xerrox Monophaser 3 (6:14)
NONPOP RADIO
Nonpop Radio starten:

Hier Popup
Ebay- Angebote zum Thema:
Alva Noto