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Michael We.

ATOM™: Liedgut

Es bachert die Klappe am mühlenden Rausch...


ATOM™: Liedgut
Genre: Minimal
Verlag: Raster-Noton
Vertrieb: A-Musik
Erscheinungsdatum:
26. Januar 2009
Medium: CD
Preis: ~15,00 €
Kaufen bei: A-Musik-Shop


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Dieser Artikel wurde mit Musikbeispielen in der NONPOP-Hörschau Nr. 19 vertont!

Zukunft. Alle menschlichen Bewohner haben den Planeten Erde verlassen. Ein paar neugierige Außerirdische legen einen Zwischenstopp ein und stolpern dabei über wissenschaftliche Texte zum Thema 'Musik'. Anhand dieser Aufzeichnungen versuchen sie mit der ihnen zur Verfügung stehenden Hochtechnologie, die Musikgeschichte der Menschheit zu rekonstruieren. Nach einem der schönen wissenschaftlichen Worte in den Unterlagen nennen die Besucher ihr Experiment "Liedgut". Es dauert genau 35 Minuten und 44 Sekunden, dann wird den Aliens langweilig und sie fliegen weiter.

So könnte es gewesen sein, irgendwie. Gut, der gebürtige Frankfurter UWE SCHMIDT ist kein Alien, obwohl sein Schnäuzer reichlich spacig aussieht. Und es wäre hoch gegriffen, ihm einen Abriss der gesamten, selbst der deutschen Musikgeschichte zuschreiben zu wollen. Dennoch sind viele wichtige Elemente aus letzterer auf "Liedgut" enthalten. Begleitende Fotos zeigen SCHMIDT im Geburtshaus der Familie SCHUMANN in Zwickau, sitzend am Klavier von CLARA; einer von zahlreichen Verweisen des Albums auf das romantische Kunstlied, während im musikalischen Hintergrund ein Handy rückkoppelt oder ein Synthesizer blubbert. Aus diesem Gegensatz zwischen poetischer Lyrik und Wärme auf der einen, technokratischem Denken und durchkomponierter Künstlichkeit auf der anderen Seite bezieht das Album einen großen Teil seines Reizes. Er führt außerdem dazu, dass die Musik den Eindruck erweckt, 'typisch deutsch' zu sein, zum Beispiel durch die überdeutliche Artikulation der Vocoderstimmen. Der scharfe Blick eines freiwilligen Exilanten – UWE SCHMIDT lebt seit mehr als zehn Jahren in Santiago de Chile – auf seine musikalischen Ursprünge. Aliens, Romantik, SCHUMANN, Exil und tausend weitere Referenzen stecken in dem neuen Album von, so das gerade aktuelle Pseudonym, ATOM™. Jede Spur lässt sich zwar verfolgen, bleibt aber immer nur einer von vielen möglichen Hör-Ansätzen. Der naheliegendste wäre übrigens: "Liedgut" stellt eine tiefe, ganz tiefe Verbeugung vor SCHMIDTs Lieblingen KRAFTWERK und deren 'Mensch und Maschine'-Thematik dar.

Der 40jährige Hesse veröffentlicht seit rund 20 Jahren elektronische Musik. Er benutzt dabei neben seinem ursprünglichen und wohl ersten Projektnamen ATOM HEART rund 30 weitere Pseudonyme, manche zählen sogar mehr als 60. Eine Werkschau würden jeden Rahmen sprengen, deshalb nur kurz ein paar Worte zu zwei der bekannteren Projekte: LASSIGUE BENDTHAUS ist das – inzwischen aufgelöste – EBM/Industrial-Steckenpferd von SCHMIDT, mit dem er 1999 "Pop Artificielle" veröffentlichte. Die auf dem Album befindliche BOWIE-Coverversion von "Ashes To Ashes" schaffte es damals sogar ins Radio. Auch SEÑOR COCONUT covert – obwohl der SEÑOR das Wort 'Cover' gar nicht leiden kann, wie er sagt: Nach dem Umzug in die chilenische Hauptstadt (1997), gelangweilt von musikalischer Stagnation in Europa, fing SCHMIDT an, Songs von KRAFTWERK zu zerlegen und aus Latinsounds wieder zusammenzubauen. Das Ergebnis, "El Baile Alemán", stieg in die deutschen Albumcharts ein. Außerdem pflegt der Mann eine offene Beziehung zu DEPECHE MODE: Er remixte "Zenstation" für eine offizielle DM-Maxi und "Stardust" für MARTIN L. GORE, dafür lieferte ihm dieser eine Version von "Smooth Operator" (im Original von SADE) für SEÑOR COCONUT.


SEÑOR COCONUT mit "Tour de France" (KRAFTWERK) live in Tokio (2006).
UWE SCHMIDT ist der Mann am Laptop.


"Liedgut" ist nun das erste Album, das UWE SCHMIDT auf dem Chemnitzer Experimental-Label RASTER-NOTON veröffentlicht. Bekannt für aufwendiges, liebevolles Zubehör, kommt die CD im Hochformat mit einem elegantem Booklet und der Optik von gebundenen Noten.
Die Einleitung heißt "Weißes Rauschen"; ein physikalisches Phänomen, das uns auf dem Album immer wieder begegnet und dessen Kern zusammenfasst. Klar definiert als 'Mischung aller Frequenzen des hörbaren Bereichs in gleichem Lautstärkepegel', stellt sich unter dem Begriff doch jeder etwas Anderes, vermutlich Positives, Romantisches vor. Zunächst rauscht es tatsächlich, hell und undefiniert. Weitere Feldversuche folgen im Verlauf der CD, wobei das Rauschen auch mal brummt, schwingt, gnarzt oder murmelt. Die ersten Vocals aus dem Vocoder zieren "Wellen und Felder II". Sie fallen durch überdeutliche, geradezu analytische Aussprache auf – gleich den professionellen Sängern, die für Kunstlieder im Gegensatz zum Volkslied gewonnen wurden – und beschäftigen sich inhaltlich ebenfalls mit der Akustik: "Berge und Täler aus Informationen". Musik wird sprachlich auseinandergenommen und in ihre Einzelteile zerlegt. Die warmen, perlenden Synthiesounds und der einfache Tanztee-Rhythmus machen das Lied aber ganz im Gegensatz zum Text zu einem emotionalen und äußerst warmen Minimal-Popsong. Diese Schere zwischen Zergliedern und Erschaffen schwebt über allen Tracks mit Stimme. Die nächsten Stücke beschäftigen sich mit drahtloser Kommunikation. Funkwellen werden dabei zu flirrenden, trip-hoppigen Beats, die wie rhythmisierte Morsezeichen durch den Raum fliegen. Elektromagnetische Wellen, die bei einem Anruf auf dem Handy benachbarte Lautsprecher zum Tönen bringen, dienen als Bass und geben den Takt vor.
Für die drei "Mittleren Kompositionen" haben sich die Aliens an einer elektronischen Variante von Free Jazz versucht. Alles haben sie ausprobiert und aneinandergestückelt: künstlich erzeugte Geräusche, Noise, einen Heimorgelbeat, Ambient. Bewegungen von Schall werden fast hörspielartig in Szene gesetzt. Im Epizentrum von "Liedgut" steht dann aber "Weißes Rauschen (erster Teil)", ein langes, melancholisch-nachdenkliches Stück Minimalpop im Vierviertel-Takt. Die technoide Stimme singt zwar vordergründig wieder von akustischen Ereignissen, schleicht sich aber zunehmend mit philosophischen Einschüben zum Thema 'Zukunft' ins Bewusstsein. Melodiefetzen hallen noch einige kurze Tracks lang nach, bevor in einem zweiten Teil das Thema erneut aufgenommen wird. Die "Ausleitung II" bringt in 40 Sekunden noch einmal alles auf den Punkt: KRAFTWERK-Mitbegründer FLORIAN SCHNEIDER zerlegt, klanglich angelehnt an die Robovox-Stimmen seiner Band, den Text des Kunstliedes "Es klappert die Mühle..." in seine Bestandteile, eine endgültige Atomisierung, künstlich generierter Zufalls-Rap ganz ohne Melodie.

So viele Musikwelten steckten selten in knapp 36 Minuten. Futter für den Akustiker, Lyriker, Philosophen, Elektroniker, Historiker, Zukunftsforscher, Musikwissenschaftler... Und natürlich für alle KRAFTWERK-Fans. Unendliche Weiten, zeitlos und schön. Nur leider viel, viel zu kurz.

 
Michael We. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» ATOM™ @ myspace
» SEÑOR COCONUT @ myspace
» LASSIGUE @ last.fm
» Steckbrief ATOM™
» Fotoblog ATOM™
» Interview UWE SCHMIDT
» noch ein Interview
» RASTER-NOTON @ Wiki
» SCHMIDT-Label RATHER INTERESTING

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Zusammenfassung
So viele Musikwelten steckten selten in knapp 36 Minuten. Zwischen Kunstlied und Heimorgel, KRAFTWERK und Rauschen, Akustiktheorie und minimalem Dancefloor. Unendliche Weiten, zeitlos schön. Nur leider viel, viel zu kurz.

Inhalt
01. Weißes Rauschen (Einleitung)
02. Wellen und Felder I
03. Wellen und Felder II
04. Wellen und Felder III
05. Wellen und Felder IV
06. Überleitung
07. Funksignal
08. Interferenz I
09. Im Rausch der Gegenwart I
10. Interferenz II
11. Wellen
12. Mittlere Composition No. I
13. Mittlere Composition No. II
14. Mittlere Composition No. III
15. Weißes Rauschen (erster Teil)
16. Berge und Täler
17. Im Rausch der Gegenwart II
18. Weißes Rauschen (zweiter Teil)
19. Weißes Rauschen (Ausleitung)
20. Weißes Rauschen (Ausleitung II)
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