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Maik L.

BOYD RICE: Standing In Two Circles

The Collected Works Of Boyd Rice - Living the good life?


BOYD RICE: Standing In Two Circles
Genre: Pop
Wörter: 2009
Medium: Buch
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Eulen nach Athen tragen

Wer Anfang bis Mitte der Neunziger begann sich für Industrial oder Neofolk sowie ihre eventuelle Schnittmenge zu interessieren, der stieß beinahe zwangsläufig auf den Namen BOYD RICE. Trotz des Beginns eines neuen Jahrtausends sollte sich daran auch heute nicht allzu viel geändert haben. Immerhin gehört Rice zu den zentralen Figuren beider Szenen, war er doch beispielsweise ebenso im wegweisenden Industrial Culture Handbook, wie auf den Platten CURRENT 93s und DEATH IN JUNEs anzutreffen. Dass er mit BLOOD AXIS’ MICHAEL MOYNIHAN zusammen arbeitete, mit ANTON SZANDOR LaVEY sowie TINY TIM befreundet war und CHARLES MANSON einen seiner regelmäßigen Gesprächspartner darstellte, passt da nur ins Bild und erhöht im Zweifelsfall dieses seltsame Konstrukt namens Kultfaktor.
Boyd Rices Werk berührt dementsprechend beinahe alle Themenfelder, Ikonen und Obsessionen, welche auf der anderen Seite von „Peace, Love and Understanding“ von Interesse sind. Dass er gleichzeitig fast immer auch ein Propagandist der Personen und Ideen war, die ihn bewegten, macht die Sache nicht einfacher. In diesem Sinne ist Rice auch ein ewiger Fürsprecher, ein amerikanischer Fan-Boy, trotz seines Images als „Man Of Hate“.
Dabei sollte nicht vergessen werden: Wir sprechen, was den Großteil von Rices Schaffen angeht, von einer Zeit ohne Internet, ohne Wikipedia, ohne Blogs, 24 Stunden am Tag jede noch so marginale, subkulturelle Skurrilität abrufbar haltend.

Heart Of Darkness

Obwohl sein Werk grob in die Kategorien: Musik, Photographie, Film etc. eingeteilt werden kann und sowohl seine Noisealben (als NON) wie auch seine apokalyptischen Easy-Listening-Kollaborationen (zumeist als BOYD RICS AND FRIENDS) einen Großteil seines Ouevres ausmachen, stand das gesprochene, ja öfter das geschriebene Wort doch zumeist im Zentrum seiner Arbeit. Nicht nur funktionieren Alben wie „In The Shadow Of The Sword“ oder „Music, Martinis and Misanthropy“ in der klassischen Poppraxis der Lektüre am Besten, sie basieren oftmals geradezu auf Popkultur als Lektüreverhalten, mittels Zitat und Parodie – und das in einer Szene, die sich selten dezidiert in Begriffen der Popkultur verstand
Und doch handelt es sich oftmals zunächst einmal ganz einfach um die dunkle Unterseite des Pop bzw. des Populären. So basiert beispielsweise der kolossale Albentitel „Music, Martinis And Misanthropy“ auf dem jazzigen Loungeentwurf eines JACKIE GLEASON namens „Music, Martinis & Memories“, stellt zugleich seine Umschrift und seine Verabgründung dar.
Und bitte, was war wohl für deutsche Leser das schockierendste am Industrial Culture Handbook? GENESIS P. ORRIDGEs Ausführungen? SPKs Deleuzeianismus? Unfallbilder oder faschistoide Ästhetik? Nein, eher die Abbildungen von Platten deutsch singender Schlagersternchen wie PEGGY MARCH, MANUELA oder CONNY in der Rice gewidmeten Sektion.
Ja, neben Wolfsangeln, RAGNAR REDBEARDs „Might Is Right“, neben OSWALD SPENGLER, GABRIELE D’ANNUNZIO und Naziesoterikoma SAVITRI DEVI hat der good ol’ bad boy immer noch eine Menge Platz für Barbiepuppen, cheesy Easy-Listening-Musik und Girl Pop gehabt. Nicht nur wurde die schöne Compilation „Music For Pussycats“ von ihm herausgegeben, mit ROSE McDOWALL hat er außerdem unter dem Namen SPELL das düdelige Lo-Fi-Album „Seasons In The Sun“ aufgenommen, sowie mit GIDDLE PARTRIDGE vor einiger Zeit Kaugummipop und Surfelektro seiner Diskographie hinzugefügt.
Wobei anzumerken ist: Auch hier wird der Rezipient oft auf untergründig Boshaftes stoßen, hinter der sublimierten Sing-Along-Oberfläche der Texte mit Boyds Augen oft die zynische Seite der populären Alltagskultur entdecken. Dabei waren auch Rices eigene Texte niemals harmlos. Au contraire: Was in den Bearbeitungen bunt-quietschiger Popmelodien meistens latent bleibt, stellen seine Neofolk- und Industrialalben ins helle Sonnenlicht und führen es ins Extrem. Wenn es um Paganismus, schwarze Sonnen, Sozialdarwinismus, Satanismus, Christenfeindlichkeit und Sexismus geht – Boyd hat das alles schon früh „durchgehabt“. Sehr früh. Was steht noch mal auf den Fingern von Robert Mitchum in „Night Of The Hunter“? Es sei daran erinnert: LOVE und HATE.


Zur Sache Schätzchen

Die Lyrics seiner Alben, einige Photographien, sowie das weit verstreute essayistische Werk kompiliert nun das mit knapp 280 Seiten dann doch nicht so dick ausgefallene „Standing In Two Circles The Collected Works Of Boyd Rice". Und, Überraschung, wie in der Musik steht hier „Total War“ neben SERGE GAINSBOURG, so wie Sunset Strip (Jaja…Sonnenschein… Sonnenschein…) sich als SS abkürzen lässt.
Ein erster Blick auf das Inhaltsverzeichnis weckt dann auch gleich hohe Erwartungen, beziehungsweise bestätigt die grundlegendsten Vorahnungen. Blütenlese gefällig? „Nature’s Eternal Fascism“, „God & Beast“, „Revolt Against Penis Envy“, „I’ll Call You Abraxas“, „They Stole Mussolini’s Brain (well almost)“, „Hitler In Zimbabwe“, „Cold War Cocktails“ etc. pp.
Klingt gut – und lässt Einiges erwarten: ein wildes Gemisch aus White Trash-Sozialisationsspätfolgen, avantgardistisch geprägtem Kunstverständnis, Totalitarismus, Non-PC sowie den niedergeschriebenen Ergebnissen absichtlichen und systematischen Alkoholmissbrauchs. Tatsächlich erweist sich „Standing In Two Circles“ als quietschbuntes „Für jeden etwas“-Paket. Von kurzen Textskizzen, über als Tourtagebücher getarnte Saufgeschichten, von populärwissenschaftlichen Essays über manifestartige Hasstiraden ist hier alles enthalten, das man zu Recht von Rice erwarten kann.
Dabei eilt manchen dieser Texte ein geradezu monströser Ruf voraus, gründet sein schlechtes Image doch gerade auf Texten wie „Nature’s Eternal Fascism“ oder „Revolt Against Penis Envy“. Jedoch muss hier gleich vor „Skandalinteresse“-Übereifer gewarnt werden: Ein Heuler wie „Nature’s Eternal Fascism“, der als Titel alles verspricht, hält als Text nichts, aber auch rein gar nichts. Drei Seiten Hass? Kriegserklärung? Zynismus? Ach, Rice rettet sich vor allem mit endlos langweiligen Zitaten über den Seitenumbruch. Der beste Titel ist also gleich mal der langweiligste – was freilich nicht heißen soll, jenseits oberflächlicher Titel-Schocks sei hier nichts zu finden. „Standing in Two Circles“ erweist sich im Gegenteil vor allem als Chronik einer Obsession mit einem anderen Amerika und einer anderen Geschichte, jenseits öder Provokation.

So far, so good, so what?

Was die geneigte Leserin hier also vor sich hat, stellt sich als mehr oder weniger wildes Nebeneinander all dessen dar, mit dem sich die meisten Leute dann doch eher selten beschäftigen: Tikikultur, Misogynie, Grallegenden, Satanismus und und und. Dabei kommt es weniger auf good humour an (Rice will den good humour man dann doch lieber früher als später zur Strecke bringen.) als auf Dedikation.
Kollege Richard K. hat dies erst kürzlich, wenn auch in einem anderen Kontext, so ausgedrückt: Es geht nicht um bildungsbürgerliche Faktenhuberei und Kultur, sondern um die Intensität eines Verehrers und Fans.
BOTHO STRAUß nannte solche Personen einmal Fürsprecher, und diese Bezeichnung trifft es nicht nur wegen der ruhigen Riceschen Trademark-Stimme, die auf so vielen Platten zu hören ist. Egal ob es um die Begeisterung für die Externsteine, Seifenprodukte, Mussolini oder Alkohol geht, Rice selbst bringt es in einem seiner frühesten Texte über gefilmte, reale Unfälle, auf den treffenden Nenner:

„Many spectators do get safely away, but the real fun is watching those who don’t.“

Während es die meisten also bei einer Google-Suche zum Thema Sozialdarwinismus, Trash-Pop, Disneyland oder Savitri Devi belassen werden, was manchen vielleicht sogar vernünftig erscheint, taucht Rice in das Material ein und bringt, ist das Interesse einmal entflammt, es nicht mehr übers Herz „clever“ zu sein, und die Finger davon zu lassen. „Standing In Two Circles“ wäre also (egal wie man Rice nun politisch oder künstlerisch einschätzt) immerhin das Äquivalent zu einem Mondo-Film.

Auf der negativen Seite steht dann eventuell der Ertrag eines Fanboy-Lebens, welches sich um Crap und Pulp dreht, auf der Haben-Seite jedoch das umfangreiche Kompendium einer Art Paralleluniversum mit eigenen Regeln, eigenen Stars und eigenen Wahrheiten. Lässt man sich auf dieses Paralleluniversum ein, erwarten einen abseits der kulturellen Trampelpfade wirkliche Kleinode, Dokumente einer verstörenden Alternativwelt.

Zunächst einmal wären da die Erinnerungen an Zeitgenossen wie Manson und LaVey zu nennen. Rices Texte über diese beiden Gestalten des zwanzigsten Jahrhunderts gehören zum Interessantesten über sie im Essayformat und sie ergänzen sich hervorragend. Stellt Rice am Ende seiner Ausführungen über Manson noch realistisch-pessimistisch und mythenkritisch fest: „In a way my experience with Manson helped rid me of certain illusions I’d held about him and those like him, and that was hardly a negative thing. It’d helped kill my idealism and left me far more cynical and realistic.“, so schließt er seinen Text „Remembering LaVey“ mit den Zeilen „I experienced him as both an actuality and on the level if myth – and I can truthfully say that the actuality of LaVey was far beyond anything his myth could ever be, no matter how wild or lurid.“
Dann wären da die teils schwarzhumorigen, teils asozialen Attacken auf die politisch-korrekte Alltagswelt des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Natürlich ist Gutmenschen-Bashing immer recht einfach, doch in „Passive Activism. Yellow Ribbons & Other Red Herrings“, einer Hasstirade über Weltverbesserer-Sprüche-Buttons, liest sich das dann doch gut: „[…] one wonders why ethnic strife and violence have been such a relentness source of friction for countless centuries. Differences in race, culture and religion should be revealed to be relatively inconsequential trivialities, to nations who share a common bond as fundamental as their mutual regard for good food and music. Why hasn’t anyone bothered to tell the Arabs that the Israelis propably like good food and good music, just like them? After all, they both like falafel, right? So what’s the problem? There seems to be some bizarre sort of inner logic to all of this, but in this day and age it could be every bit as senseless as it appears to be on the surface.“
Nicht fehlen dürfen natürlich die Saufgeschichten bzw. die Betrachtung von Geschichte aus der Perspektive des Trinkers von Welt. Jeder Trinker mit Herz und Verstand findet hier großartiges Material. Neben seinen misanthropischen Ausfällen läuft Rice hier zu Bestform auf. Der Mehrwert: Szenen, welche die geneigte Leserin niemals vergessen wird.
„Disneyland’s Club 33. Beyond The Green Door“ entpuppt sich als eine Guided Tour zu den geheimen Alkoholreserven des „happiest place on earth“. Und wer würde Rices Altersweisheit misstrauen? „Disneyland and drinking go together like Peter Pan and Tinkerbell.“
„Cold War Cocktails“ hingegen bietet beste Pulp-Unterhaltung im Schatten des eisernen Vorhangs und der Berliner Mauer. Hier trifft ein junger Boyd Rice auf die verzweifelten Liebenden, welche gezwungen sind sich in einem komplett alkoholisierten Niemandsland zwischen Ost und West „Adieu!“ zu sagen.
Des Rezensenten persönlichen Liebling stellt jedoch „Booze vs. Bagdad“ dar, ein knapp zweiseitiges Meisterstück. Hier wächst Rice auch endlich über sich selbst hinaus: Es geht nicht mehr um „The strong rule the weak and the clever rule the strong.“ Weltgeschichte als Kriegsgeschichte hat einen viel einfacheren Hintergrund: „The current 'War On Terror' is being touted as a war of good versus evil, by both the U.S. and Al Qaeda – and it is – but to define it even closer to the core, it is a war between cultures that drink and those who don’t.“
Last but not least sind diejenigen Texte zu erwähnen, die dem Erforschen und Erinnern einer vergangenen Zeit gewidmet sind, Texte über die vergangenen Utopien der Popkultur. Zu finden sind unter anderem Beiträge zu Tiki-Bars, singenden Fernsehstars und Albencovern der 50er und 60er Jahre. Überhaupt sind es offenbar die 50er und 60er Jahre des zwanzigsten Jahrhundert, die den bleibendsten Eindruck bei Rice hinterlassen haben: „This was a time when, for every paranoia-inspired concrete fallout-shelter built in a suburban backyard it seemed there was also a faux-Polynesian tropical paradise constructed just next door.“
Und eigentlich ist er in einer gewissen Weise auf den Spuren WALTER BENJAMINs, wenn er diese Zeit als „the grand postwar daydream“ beschreibt.

This is the end…

„Standing In Two Circles“ verschreibt sich somit letztlich einem anderen Amerika, einem misanthropisch-reaktionären, 50er und 60er-Jahre-Amerika, komplett mit Alkoholismus, Intoleranz, Tiki-Bars, der Church of Satan, Frauenfeindlichkeit und versteckten Nazidevotionaliensammlern. Nicht jeder wird in dieser Welt leben wollen, eine hysterische Welt in der man als Frau, Schwarzer, Kommunist, whatever wohl eher auf der Abschussliste steht, aber sie zunächst einmal als Welt zu akzeptieren und wahrzunehmen, heißt eine Art Zeitreise- oder Möglichkeitsmaschine zu betreten. Dort auf der anderen Seite ist dann zwar nicht alles besser, doch Utopisches steckt oftmals auch im Regressiven oder Reaktionären und langweilig wird es dort nie. Dafür sorgen schon die blitzblank geputzten Schaftstiefel der Bösewichter.
Um es mit JOSEPH CONRADs Marlow zu sagen: „After all, this was the expression of some sort of belief; it had candour, it had conviction, it had a vibrating note of revolt in its whisper, it had the appalling face of a glimpsed truth – the strange commingling of desire and hate.“ Empfehlenswert.

 
Maik L. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» Boyd Rice Homepage
» Boyd Rice+Giddle Partrige Projekthomepage
» Weitere Rice-Texte zum Gralsthema
» DIE klassische NON Performance
» Pearls Before Swine DVD Rezension von Martin L.

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Zusammenfassung
Ein mehr oder weniger wildes Nebeneinander all dessen, mit dem sich die meisten Leute dann doch eher selten beschäftigen: Tikikultur, Misogynie, Grallegenden, Satanismus und und und. Empfehlenswert!

Inhalt
Brian M. Clark:
Introduction
A Biography Of Boyd Rice
Preface To The Collected Works

Boyd Rice:
Writings 1986-2007
Artworks And Photography
Lyrics

Softcover, 288 Seiten
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