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Michael We.

NAEVUS: Relatively Close To The Sea

Handgefangene Aale und tote Deutsche in der Kneipe


NAEVUS: Relatively Close To The Sea
Genre: Neofolk
Verlag: HauRuck!
Vertrieb: TESCO
Erscheinungsdatum:
November 2008
Medium: CD
Preis: ~14,00 €
Kaufen bei: Tesco


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Dieser Artikel wurde mit Musikbeispielen in der NONPOP-Hörschau Nr. 17 vertont!

Ich bin noch nicht ganz dahintergekommen, was genau passiert ist. Hat LLOYD JAMES Gesangsunterricht genommen? Eine Verbesserung seiner stimmlichen Qualitäten deutete sich ja auf den vergangenen Alben schon an. Haben sich die Texte wesentlich geändert? Oder ist die Musik plötzlich eine andere, verlässt sie den Pfad des typischen NAEVUS-Sounds? Vermutlich nicht. Nein. Und nein. Lauten die Antworten. Dennoch habe ich dem Kopf und Frontmann des Londoner Duos noch nie so gerne gelauscht wie heute. Vom vortragenden Musiker hat er sich auf dem neuen Album zum Geschichtenerzähler weiterentwickelt, an dessen Lippen wir auch dann hängen, wenn er während der zahlreichen und ausdauernden Instrumentalparts schweigt.

Nach mittlerweile sechs Alben kann man von einer Stammbesetzung sprechen, mit der NAEVUS in der Regel auch ihre Konzerte geben. Dazu gehört neben dem Bandgründerpaar (also Sänger, Texter und Komponist LLOYD JAMES und Bassistin JOANNE OWEN) vor allem JOHN MURPHY an den Drums. Ansonsten treten wieder einige der üblichen Verdächtigen aus dem Umfeld der Gruppe auf: GREG FERRARI an der elektrischen Gitarre, JOANNA QUAIL (SONVER) am Cello und MATT HOWDEN (SIEBEN) an der Geige. ROSE MCDOWALL, Star des letzten Albums, nimmt dieses Mal nicht teil. Weil auch die Gäste sich eine Spur leiser einfügen als früher, ist "Relatively Close To The Sea" weniger bunt als das bisher beste NAEVUS-Album "Perfection Is A Process" (2004). Es ist viel weniger wuchtig und drängend als der bisweilen sehr glatte Vorgänger "Silent Life" (2007). Ein ruhiges, weites Meer ist die Musik, und das charakteristische, dunkle Organ von JAMES durchsticht es wie ein Ruderboot: langsam, aber stetig.
Überhaupt kommt es dieses Mal noch mehr auf Text und Stimme an: Ein erzählendes, episches Album ist "Relatively..." geworden, mit den gewohnt metaphorischen Lyrics, die LLOYD JAMES inzwischen auch in einem Büchlein veröffentlicht hat; verstehen muss man sie nicht immer auf Anhieb, etwa wenn es um handgefangene Aale geht ("Go Grow"). Zwischen den Bildern sind viele, keinesfalls platte Lebensweisheiten versteckt, wie im Titelstück: "We all wait / Nervously / For what may never be / And I understand / That unknown plans / Undermine all we see". Die musikalischen Ausflüge zwischen den Strophen verstärken den epischen Eindruck, sie wirken wie Vorhänge für die einzelnen Akte.
Eine dem Album vorausgegangene Ankündigung, NAEVUS würden ihre schon immer vorhandene Prog-Rock-Seite ausleben, bewahrheitet sich – gerade in Bezug auf die instrumentalen Zwischenspiele – glücklicherweise nicht. NAEVUS sind braver als KING CRIMSON, weniger improvisierend, weniger wüst; und allzu große Parallelen zu PINK FLOYD bleiben ebenso verborgen. Es wäre auch seltsam gewesen, wenn sich die Londoner plötzlich drogigen Endlosschleifen hingegeben hätten. Die eine oder andere Querflöte erinnert vielleicht an JETHRO TULL, ansonsten sind NAEVUS eben NAEVUS, einen Deut handgemachter, folkiger als auf "Silent Life". Andere Vergleiche drängen sich dagegen geradezu auf: Manche Songs winken den BLUE AEROPLANES aus Bristol zu, einer Band, die lyrische Sprechvorträge zu Gitarrenbetten (teilweise mehr als zehn Gitarren pro Lied) perfektioniert hat.

Gleich der erste, der Titelsong, kommt mit der unverkrampften Poesie eines Kinderreims daher, wie überhaupt die gesamte CD oft an ein Kinderbuch erinnert: bunt, poetisch, geheimnisvoll und zum Mitmachen, -raten, -schunkeln etc. Akustikgitarre und Bass bestimmen das Bild, auch der dezent schräge, sich aber nahtlos in den Song einfügende Zwischenteil hält sich an die einfache Melodie und klingt wie auf der Blasharmonika gespielt. Die schunkelige Seemannsakustik mancher Postpunk-Shanties von NAEVUS wird mit Geige (und Querflöte) in "Traffic Island" (2) wiederbelebt. Trotz 'exotischer' Instrumentierung schlägt das Rockpendel auch hier in Richtung Folk-, nicht Prog- aus. An den Vorgänger "Silent Life" schließt am ehesten "Meat On Meat" (3) an, der rockigste der neuen Songs. Treibend, marschierend und mit Mundharmonika, aber nie zu dick aufgetragen. "The German" (4) ist eine 'Murder Ballad' zwischen CAVE und POGUES. Mit prima Pub-Atmosphäre durch die Geige von MATT HOWDEN und einem ungewöhnlich deutlichen Text: 'Der Deutsche' wird am Ende im gemeinsamen Besäufnis nicht von seinen Sünden losgesprochen, sondern von den Kneipenbesuchern niedergesplattert. Der stark rezitierende Vortrag früherer Zeiten taucht bei "Dented Mess" (5) wieder auf: lakonisch, rotzig, schnodderig und mit E-Gitarre. Der ergreifendste Song aber ist... nicht der spektakuläre 18-Minüter, sondern die Coverversion "The Troubadour" (6), hinter der eine traurige Geschichte steckt. Komponiert hat ihn mit DOMINIC O'CONNOR einer der besten Freunde von LLOYD JAMES. Vor vier Jahren kam er bei einem Autounfall ums Leben, war schon mit "Dominic Song" im Geiste auf "Silent Life" präsent. Der Originalsong ist auf einer myspace-Seite nachzuhören, die der NAEVUS-Kopf extra vor dem Erscheinen von "Relatively..." eingerichtet hat. Klanglich bewegt sich die Neuinterpretation auf dem DEATH IN JUNE-Niveau der 1990er-Jahre: sehr wehmütig und ausschließlich mit akustischer Gitarre vorgetragen. Zum Schluss: "Go Grow", die Hymne in typischem NAEVUS-Gewand. Der spacige, wabernde Einstieg stoppt schon nach zwei Minuten abrupt und wird durch diesen unverwechselbaren Rhythmus ersetzt. Hinter Gitarre und Bass schleppt sich ein Schlagzeug, immer eine Millisekunde zu spät, langsam marschierend und torkelnd in diesem Epos über die Evolution. Die ambienten, dahintickenden Instrumentalparts laden ein zum Schwelgen, und die Zeit verschwindet beim Hören, schrumpft wie im Flug auf gefühlte Sekunden.
Die recht nüchterne Schilderung der sieben Songs soll nicht verschleiern, dass NAEVUS ein magisches Album geschaffen haben, mit naivem Charme, den auch das Cover (von LLOYD JAMES) einfängt. Schlicht und reif ist "Relatively Close To The Sea" geworden, nicht so verkrampft bemüht um Perfektion wie das vorangegangene Album. Viele der Stücke haben NAEVUS schon live ausprobiert, vielleicht muss deshalb nichts mehr angetestet werden. Plastisch und eindringlich wird die Welt mit akustischen Instrumenten und den Texten von JAMES beleuchtet, die übrigens alle im Booklet abgedruckt sind. Zusammen mit "Perfection Is A Process" das mit Abstand beste Werk der Band. Ach ja, die leidige Frage der Einsortierung: Machen NAEVUS (noch) Neofolk? Genügt die Freundschaft zu KIRLIAN CAMERA und SPIRITUAL FRONT, die Verehrung von DOUGLAS P. für diese Rubrik? Ist es vielleicht doch Postpunk-Rockfolk? Vorschläge werden ab sofort entgegengenommen.

Vinyl-Nachtrag: Kurz vor dem Album hat HAU RUCK! (am 20. Oktober) die Vinylsingle zur CD veröffentlicht. Die sieben Minuten der A-Seite füllt ein Ausschnitt von "Go Grow", zwei Coverversionen schmücken die B-Seite: zunächst das sehr akustische, mit dem Cello von JOANNA QUAIL wieder fast folkrockige "Now That I've Paid For You", das im Original von GREG FERRARI (bzw. dessen Band WOMB, an der sich JAMES und OWEN ab und zu beteiligen) stammt. Klarer Favorit dieses Dreiteilers ist aber der letzte Titel, "Stephanie, I Forgive You", geschrieben von DAVID E. WILLIAMS. Ein durch und durch melancholischer Britpop-Song, offenbar eine Abrechnung mit der Ex-Freundin, von NAEVUS vorgetragen im Stile der GO-BETWEENS. Mindestens eines der beiden B-Seiten-Lieder hätte es ruhig noch aufs Album schaffen dürfen, denn das ist mit 45 Minuten – leider! – recht kurz geraten.

Zwei aktuelle Konzertflyer und ein Livefoto von NAEVUS

 
Michael We. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» NAEVUS @ myspace
» "Go Grow" @ youtube
» HAU RUCK! @ myspace

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Zusammenfassung
LLOYD JAMES ist vom vortragenden Musiker zum Geschichtenerzähler geworden und hat ein Album wie ein magisches Kinderbuch geschaffen: bunt, poetisch, geheimnisvoll. Die angekündigte Prog-Revolution bleibt aus (Puh!). NAEVUS sind NAEVUS und müssen nichts mehr beweisen. Reife Leistung!

Inhalt
1 - Relatively Close To The Sea (4:27)
2 - Traffic Island (3:56)
3 - Meat On Meat (5:19)
4 - The German (6:48)
5 - Dented Mess (2:28)
6 - The Troubadour (4:02)
7 - Go Grow (17:40)
8 - Relatively Close To The Sea (Reprise) (0:43)
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