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Michael We.

RAISON D'ÊTRE: The Luminous Experience

Zwischen Erleuchtung und Baustelle. Live in Enschede 2008


RAISON D'ÊTRE: The Luminous Experience
Genre: Dark Ambient
Verlag: Cold Meat
Erscheinungsdatum:
September 2008
Medium: CD
Preis: ~13,00 €
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Was klingt wie eine Baustelle vor der Haustür? Ein Chor aus NONPOP-Lesern wird an dieser Stelle antworten: "90 Prozent aller Dark Ambient-Mucke!!" Stimmt. Der Grat zwischen Kunst und Mist ist bei Dark Ambient besonders dünn, und die großen Worte, die hier oft zur Musik gemacht werden, halten häufig nicht, was sie versprechen. Selbstverständlich gibt es starke Ausnahmen wie LAND aus Frankreich, REUTOFF aus Russland, KRAKEN aus den Niederlanden oder eben – phasenweise – PETER ANDERSSON aus Schweden. Alle kommen mit wenigen Accessoires aus und schaffen dafür umso intensivere, dunkle Welten.
Ein paar Stichworte zur Arbeit von PETER ANDERSSON, der zeitweise an neun verschiedenen Projekten beteiligt war, finden sich hier. Das bekannteste und kommerziell erfolgreichste dürfte RAISON D'ÊTRE sein, das ANDERSSON – wie die meisten anderen Projekte auch – vor allem solo betreibt. Mit "The Luminous Experience" liegt das elfte Album in 17 Jahren vor; ein besonderes, denn es ist das erste offizielle Livewerk von RAISON. Ohne Studio ist es sicher noch schwieriger, Dark Ambient-Musik zu erzeugen, die sich von belanglosem Geschepper abhebt. Denn was monatelanges Basteln, ausgeklügeltes Timing und stimmige Produktion an dichter Atmosphäre erzeugen, kann auf der Bühne ganz schnell flöten gehen. Nun ist aber PETER ANDERSSON ein sowohl leidenschaftlicher als auch ehrgeiziger Profi. Deshalb ist der Mitschnitt seines Auftrittes im niederländischen Enschede trotz diverser (nicht hauptsächlich musikalischer!) Mängel zumindest für RAISON D'ÊTRE-Fans ein Ohr wert.

Fangen wir damit an, was es alles nicht gibt: Ich habe zwar oben für dezentes Beiwerk geworben, aber nur die nackte CD ist vielleicht etwas wenig. Es gibt kein Booklet, keine Infos zu den Songs (welche sind neu, welche nur überarbeitet) etc. Ebenso hätte ich mir bei einem Konzert zum Thema 'Licht' oder 'Erleuchtung' gut einen Multimedia-Track vorstellen können, und sei es ein kurzer Eindruck mit Wackelkamera, denn ich bin überzeugt davon, dass es eine schicke Bühnenshow gab. Davon ist aber nicht einmal ein Foto zu sehen. (Apropos 'Licht': PETER ANDERSSON ist ein guter Mensch. Ich glaube nicht, dass sein gewähltes Thema einen Bezug zu der im Jahr 2000 in Enschede explodierten Feuerwerksfabrik bilden soll.) Überhaupt ist der CD kaum anzumerken, dass es sich um einen Livemitschnitt handelt. Der nicht unbekannte Club "Atak Poppodium" fasst immerhin 300 Zuschauer, die regelmäßig Bands wie WOVEN HAND oder CHRISTIAN DEATH zujubeln. Auf "The Luminous Experience" ist kein einziger davon zu hören, selbst am Ende der 72 Minuten wurde offenbar jede Publikumsreaktion entfernt.

Das Album bietet einen vollständigen Mitschnitt des Konzerts aus dem vergangenen Sommer. Von den neun Stücken sind sechs neu und unveröffentlicht, drei stammen von älteren CDs, klingen live aber anders ("Wasteland" von "The Empty Hollow Unfolds" aus dem Jahr 2000, die beiden "Metamorphyses"-Teile vom gleichnamigen Album aus dem Jahr 2006, das hier auf NONPOP besprochen wurde.)
Ein überraschend deutlicher Eindruck von "live" entsteht dann doch durch Glockenklänge und Schlaginstrumente, die zum Teil akustisch, nicht elektronisch erzeugt wurden. Einige Songs erfahren dadurch etwas Uriges, Erdiges, klingen stellenweise wie das Intro zu alpinem Wurzelfolk. Es überwiegen aber die typischen Dark Ambient-Sounds, also Röhrenkleppern, Höhlenklopfen, Hall und Synthesizerdrones. Alles zusammen schwillt in manchen Momenten zu einer kraftvollen, beeindruckenden Komposition an. Gleich der erste, zehnminütige Track mit einer brummenden Melodie und einem künstlichen Mönchschor ist mitreißend und entrückend, spannt einen Bogen von Stille bis zu Dark Ambient-Orchester und macht den Unterschied zu bloßem Geschepper sehr deutlich. Einige andere Tracks – wie der zweite – klingen nach Ritualmusik, vor allem durch die hypnotische Wiederholung der Percussion und an- und abschwellende Drones, manchmal bis hin zum Noise. Kommen – wie in Track 3 – noch zahlreich elektronische Hörner und Stahlglocken dazu, könnte beinahe MARKUS WOLFF von WALDTEUFEL im Hintergrund auf der Bühne stehen. Reines Geklapper ist allerdings auch zu finden, in der Mitte der CD (4 und 5) liegt der Hörer auf den Gleisen und eine U-Bahn braust über ihn hinweg; leider eher anstrengend. Dafür entschädigen aber die monumentalen Tracks wie der erwähnte erste, von denen es mit "Mouldering The Forlorned - Part I" (7) mindestens noch einen ebenso guten gibt. Mit dem dramatischen Aufbau, der düsteren, traurigen Atmosphäre und den klaren, schönen Melodien würden diese auch von der Länge her gewaltigen Gebilde jeden Soundtrack schmücken, der die entscheidende Schlacht in einem Historienfilm untermalt. (Selbstverständlich geht sie verloren, die Schlacht.)
Die Produktion ist – passend zum Titel – sehr sauber, voll und klar. Eine erleuchtende Erfahrung kann man beim Hören nachvollziehen, weil viele Passagen etwas geheimnisvoll Glimmendes, Leuchtendes haben. Der sphärische Hintergrundchor trägt seinen übersinnlichen Teil dazu bei. Ich habe nach dem ersten Durchgang festgestellt, dass ich gerne bei ANDERSSONs Auftritt dabei gewesen wäre, weil von der Bühne sicher noch eine ganz andere Faszination ausgeht als von dieser nackichten CD, die das Liveerlebnis vor allem mit den schwächeren Songs (klopf schepper) nur unzureichend einfängt. Weil die Produktion aber gut ist, die Anzahl der hörenswerten Songs überwiegt und ANDERSSON gleichzeitig viel neues Material vorstellt, ist das Album für hartnäckige Dark Ambient-Hörer, zu denen RAISON D'ÊTRE-Fans zählen, praktikabel.

 
Michael We. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» RAISON @ myspace
» Interview mit ANDERSSON (IKONEN)
» KRAKEN @ NONPOP
» REUTOFF @ NONPOP
» LAND @ NONPOP

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» RAISON D'ÊTRE: When The Earth ...
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Kommentare
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Publikum?
Surtalgoi (30-10-2008, 12:04)
Die Abwesenheit von Publikumsgeräuschen lässt sich leicht erklären: es waren nur 20 Leutchen anwesend. Die Bühnenshow bestand aus 2 geloopten Hintergrundvideos (eines davon von Bocksholm ... also offensichtlich nicht exklusiv für die Show).

Trotz allem ein sehr stimmungsvoller Abend.

Zusammenfassung
Das erste Livealbum von RAISON D'ÊTRE in 17 Jahren. Keine einfache Sache, was aber für alle Liveauftritte Richtung Dark Ambient gilt. Hier retten einige tolle, lange und dramatische Songs mit Mönchen und Glocken vor'm Versinken im Geschepper. Für ANDERSSON-Fans deshalb zu empfehlen.

Inhalt
01 - The Invisible Gate Of The Temple (10:44)
02 - Metal Stone Mental Heart (6:23)
03 - The Luminous Shield (10:55)
04 - Metamorphyses - Phase III (8:00)
05 - Metamorphyses - Phase IV (6:57)
06 - Wasteland (7:15)
07 - Mouldering The Forlorned - Part I (8:01)
08 - Pathfinder (6:02)
09 - The End Of The Key (8:20)
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