Wenn DIMO DIMOV schon einmal gelebt hat, dann als Schamane im mittelalterlichen Bulgarien, das steht nach diesem Album fest. "Yer Su" widmet sich dem
Tengrismus, dem Glauben aller Turk- und mongolischen Völker Zentralasiens während der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung. Datierte Aufzeichnungen zu dieser Naturreligion reichen zurück bis ins 4. Jahrhundert nach Christus. Auch das Turkvolk der Protobulgaren, den Vorfahren der slawischen Bulgaren, verehrte damals Tengri, eine männliche Gottheit, welche oft sehr allgemein als 'Geist des Himmels' oder 'endloser blauer Himmel' beschrieben wurde. Wichtigster Bestandteil des Tengrismus war die These, dass alles in der Natur von Tengris Geistern bewohnt wird (
Animismus). Für Bulgarien erklärte Zar
BORIS MICHAEL KHAN im Jahr 864 das Christentum zur Religion. Damit hörte der bulgarische Tengrismus offiziell im 9. Jahrhundert auf zu existieren, wenngleich sich viele Namensgebungen – etwa für den Berg Tangra (= Tengri) – weit länger hielten. Mit "Yer Su" wurden die Erd- und Wassergeister des Tengrismus bezeichnet, die also Steine, Seen oder Flüsse beherrschten. Hier kam der Schamane ins Spiel, der Verbindungsmann zu diesen Naturgeistern. (Tengrismus wird bis heute auch als 'Schamanismus' bezeichnet.) Er hatte vor allem die mächtigsten "Yer Su" milde zu stimmen, die ansonsten der Legende nach in der Lage waren, ganze Volksstämme zu vertreiben. Diese Rolle füllt der aus Bulgarien stammende und mittlerweile in Deutschland lebende DIMO DIMOV, wenn auch einige hundert Jahre später, mit seiner Präsenz und der tiefen, beschwörenden Stimme ganz hervorragend aus.
Das musikalische Konzept ähnelt dem der letzten SVARROGH-Veröffentlichungen: Zu Balkanfolk, der zwar kaum noch an den Black Metal der Anfangstage erinnert, aber nach wie vor eine düstere, urige Atmosphäre ausstrahlt, tauchen verschiedene Stimmen auf. In diversen Sprachen (Bulgarisch, Italienisch, Englisch, Litauisch), mal singend, mal rezitierend, werden mystische, altertümlich anmutende Texte vorgetragen. Dennoch unterscheidet sich "Yer Su" deutlich von zum Beispiel der jüngsten EP "Temple Of The Sun" (
NONPOP-Besprechung). Während die Musik dort noch klar in einzelne Songs eingeteilt war, die sich voneinander abhoben, fließen auf dem neuen Album alle Tracks ineinander, wachsen zusammen. Die Nahtstellen werden gekittet mit 'field recordings' von knirschenden Schritten im Schnee und immer wiederkehrendem, wehmütigem Mädchengesang, wie sich überhaupt viele Zutaten wiederholen, was den rituellen Charakter des Albums verstärkt. Es entsteht ein einziger, 80 Minuten langer 'Beschwörungssong', in dem auch die – wie auf jedem SVARROGH-Album zahlreichen – internationalen Gäste aufgehen, die allesamt weniger tragende Parts spielen als sonst: KOSTAS (
DÉFILÉ DES ÂMES, Klarinette), MARCEL P. (
ALLERSEELEN, Vocals und Lyrics), VALENTINA (
DER FEUERKREINER, Vocals) und MICHAEL (
NEGURA BUNGET, Elektronik).
Ausgangspunkt und breite Basis von "Yer Su" sind, zusammen mit DIMOs Schamanenstimme, die traditionellen bulgarischen Instrumente, die DIMO als ausgebildeter Musiker (Klavier und Schlagzeug) alle selbst bedient: Dudelsack, Balkangeige, Mandoline, Balkanflöte und Okarina (Tonflöte), jedes Instrument handgefertigt in einer der zahlreichen Folklore-Hochburgen des Landes. Bis heute lehrt Bulgarien seine Jugend an Folklore-Hochschulen Fächer wie Instrumenten- oder Trachtenkunde. Behutsam über den Folk gestreut, als scharfe Gewürze sozusagen, werden Gitarren, Drums, einige Drones und ganz selten harsches Noise-Geknarze. Dazu flüstern, grummeln, beten und singen DIMO und seine Begleiter, mal wie ein russischer Männerchor, mal wie Obertonsänger aus Tuva. Fetzen bulgarischer Gedichte aus dem 19. Jahrhundert werden ebenso vertont wie Teile litauischer Geisterbeschwörungen. Wake Up Sky, Wake Up Stone, Wake Up Earth, Wake Up Water! Was bei dieser unüberschaubaren Vielfalt der Bestandteile (noch längst sind nicht alle aufgezählt) am meisten überrascht: "Yer Su" wirkt an keiner Stelle überfrachtet oder beliebig, sondern im Gegenteil stets so aufregend und lebendig, als wäre das Album spontan eingespielt worden, mit viel Improvisation und mehr Rücksicht auf die Stimmung als auf Songstrukturen. So erinnert es manchmal an die rauen
WALDTEUFEL-Songs, ohne jedoch deren Purismus zu lange durchzuhalten.
Wer diesen balkanischen Apocalyptic Folk aus Südosteuropa schon auf dem Vorgängeralbum "Balkan Renaissance" schätzte, wird mit dem Nachfolger in eine Welt eintauchen, die noch erdverbundener und schamanischer ist. Mit dem kommenden Herbst, dem Abschnitt des Jahres, in dem gerade die Erd- und Wassergeister am lebendigsten waren und sind, naht die perfekte Zeit für "Yer Su". Voraussetzung, um einen Zugang zu finden, ist allerdings eine Leidenschaft für Balkanfolk, der weite Teile des Albums ausmacht.
Die
NONPOP-Rezension eines früheren SVARROGH-Albums ("Kukeri") mit einigen Worten zur Arbeit von DIMO DIMOV und seinem Bezug zu Black Metal findet sich
hier.