Mitten ins musikalische Niemandsland der ausgehenden 1990er-Jahre hinein gründeten LLOYD JAMES und JOANNE OWEN im Jahr 1998 in London die Band NAEVUS. Als glühender Verehrer des britischen Neofolk rund um DOUGLAS P. – einige gemeinsame Fotos von JAMES und PEARCE sind auf der
NAEVUS-Homepage zu sehen – spielte LLOYD JAMES schon seit Jahren Neofolk-Songs auf der Akustikgitarre nach. Auf späteren Alben sollte er dann mit einigen seiner Vorbilder wie
ROSE MCDOWALL oder
JOHN MURPHY (beide bis heute als Bandmitglieder von NAEVUS geführt) zusammenarbeiten. Gemeinsam mit Bassistin JOANNE OWEN frönte er seit Mitte der 90er seiner anderen Leidenschaft, dem Punk, und versuchte sich an Songs der BUZZCOCKS oder der SEX PISTOLS. Diese Mischung aus punkiger Rotzigkeit und neofolkiger Akustik, gepaart mit einer zynisch-angewiderten Weltsicht, sollte zu einem Markenzeichen von NAEVUS werden. Vervollkommnet haben sie es im Jahr 2004 auf ihrer bislang besten CD, "
Perfection Is A Process". Ein paar Worte dazu finden sich in der
NONPOP-Besprechung des Nachfolgers "Silent Life" (2007).
Perfektion ist tatsächlich ein Prozess, den NAEVUS mit der ersten CD "Truffles Of Love" gerade begannen. Das Album erschien 1999, ein Jahr nach Bandgründung, in geringer Auflage. Die zehn Titel waren hausgemacht, also ohne fremde Hilfe aufgenommen, der Sound deshalb allenfalls mittelmäßig. Auch von 'Gaststars' war damals noch nicht viel zu hören, einzig der Bassist von
SIMON DREAMS VIOLET, der Italiener ROSARIO RIZZO, unterstützte NAEVUS; er ist der Band bis heute als 'Gast' treu geblieben und steuerte damals Bass und einen Song (Nummer 8, "The Lonely Remedial") bei. Im Eigenvertrieb unter die Menschen gebracht, versickerten die "Truffles" schnell und werden heute als Rarität gehandelt. Nun hat
OLD EUROPA CAFE den Erstling neu aufgelegt. Neben allen Lyrics im Booklet – bei NAEVUS immer ein Genuss – enthält die CD sechs unveröffentlichte Stücke, die aus derselben Ära wie die originalen zehn Tracks stammen. Der Sound wurde zeitgemäß aufgebessert.
Von Folk, der erst auf "Behaviour" (2002) richtig durchbrach, ist auf dem Debüt noch nicht viel zu hören. Die meisten Songs klingen wie eine Melange aus den SMITHS (die Melodien), ADAM ANT (die 80er-Jahre-Elektronik) und WOLFSHEIM (das gelegentliche Synthie-Klavier). Der seit "Control" (
NONPOP-Besprechung) leicht überstrapazierte JOY DIVISION-Vergleich soll an dieser Stelle einmal vermieden werden, obwohl die Band natürlich zu den Helden von LLOYD JAMES zählt. Die ersten Stücke werden von der peitschenden Drum-Machine bestimmt, die sich wuchtig in den Vordergrund schiebt und gegen die sich die sonore Schnurrstimme von JAMES durchsetzen muss. Sie gehen in die Richtung von "Kill Your Friends" (auf "Silent Life", 2007), allerdings ohne die Wucht und Lebendigkeit des neueren Songs zu erreichen. Auffällig sind vor allem die letzten drei Originallieder, auf denen jemand den Laut- bzw. Leisestärkeregler der Drum-Machine entdeckt hat und die allein deshalb schon prägnanter wirken; am (damaligen) Schluss steht mit "Blenheim" ein lupenreiner, bassiger New Wave-Hit. Erstaunlicherweise sind es die sechs Titel, welche damals nicht den Weg auf die CD fanden, die das meiste Potential erkennen lassen. Die Akustikgitarre von JAMES bekommt mehr Raum, und so entsteht schon sehr viel von dem später typischen punk-folkigen Gegensatz. "The Steep Face" (12) oder das wunderbar 80er-poppige "Mother, I'm Texture" zum Beispiel wüssten auch auf einem heutigen Album sehr zu gefallen.
Herausragend sind, und das ist bis heute so geblieben, die Texte der Band. Skurrile, surrealistische Geschichten mit einer gehörigen Portion Hass, etwa das Lied vom "Ekel vor dem menschlichen Mund" oder das erwähnte "Mother, I'm Texture", in dem ein Sohn mit seiner Mutter abrechnet. Gerade hat LLOYD JAMES übrigens ein Büchlein mit allen Texten von NAEVUS, auch von zukünftigen Songs, herausgebracht; es heißt "Slopped Down From Eden", soll zunächst bei Konzerten verteilt werden und später bei
WOODEN LUNG erhältlich sein.
Die 74 Minuten sind natürlich ein
Pflichtkauf für alle NAEVUS-Fans, die Spaß haben werden, in den – manchmal etwas rohen und monotonen – Anfängen der Band herumzustöbern. Zum Neueinstieg sollte eines der letzten beiden Alben, "Perfection Is A Process" oder "Silent Life" dienen, weil es sicher mehr Spaß macht, sich vom heutigen Stand aus zu den Anfängen vorzuarbeiten.