Der Vorspruch zu dieser Veröffentlichung ist länger, als er es für eine EP mit drei Songs üblicherweise sein sollte. Das hat drei Gründe: Es ist unser erster Bericht über die noch junge Formation ANNEN BERG aus Portland, Oregon in den USA. Ihr Betreiber SCOTT JACKSON, 29 Jahre alt und Sternzeichen Schütze, ist ein interessanter Mann und hochqualifizierter Musiker, über den es einiges zu erzählen gibt. Und schließlich, was hier und da schon leise geflüstert wird, könnten ANNEN BERG aufgrund ihres Erfindungsreichtums, ihrer Spontaneität und natürlich ihrer unglaublichen Bandbreite an Folksongs zwischen
THE MAMAS AND THE PAPAS,
SIMON AND GARFUNKEL,
CALEXICO und
DEATH IN JUNE eine der großen Entdeckungen der kommenden Monate werden. Der 'weird folk'-Hype in den USA ist zwar wieder am Abebben, aber ANNEN BERG sind so unbekümmert und gar nicht gequält 'weird', dass ihre Musik fast schon wieder normal ist, schlicht und einfach schön. Die
DEVANDRA BANHARTs dieser Welt lässt sie auf jeden Fall links liegen.
SCOTT wuchs, so beschreibt er es, mit einem gesunden Musikmix aus Folkrock, Country, Metal (auch Death und Black) und Klassik auf. Sein erstes eigenes Instrument war mit elf Jahren ein Schlagzeug, kurze Zeit später eine Gitarre. Für ANNEN BERG spielt er dazu heute noch Bass und Keyboard. Spätestens an der Universität trat SCOTTs Vorliebe für außergewöhnliche Arrangements deutlich zutage: Er studierte Jazz, Klassik und barocke Vokalmusik und widmete sich dabei hauptsächlich der Aufgabe, eine Rockabilly-Version von "L'Euridice" niederzuschreiben, immerhin eine der ältesten Opern der Welt, vom Italiener
JACOPO PERI im Jahr 1600 vollendet. Die Mischung aus vor-barockem Gesang und
Arpeggio-artigem Gitarrenspiel, die SCOTT dafür fand, sollte später ein wichtiges Element von ANNEN BERG werden.
Das erste Projekt unter ebendiesem Bandnamen begann als Soundtrack-Ausschnitt: NATHAN MARCEL, ein mit SCOTT befreundeter US-Untergrundregisseur, bat ihn um einen Song. Es sollte ein Soundalike werden zu "I Am A Rock" von SIMON & GARFUNKEL, um eine Szene des dritten Teils von "
The Tales Of The Tele-Gods" zu untermalen, der gemeinsamen Kurzfilmserie der beiden, die von zwei Gothic-Außenseitern handelt. (Der Song war gedacht für ein Zusammentreffen der Hauptdarsteller mit einer Gruppe von 'Schnöseln', das damit endet, dass sich beide Gruppen mit Steinen bewerfen.) Die (nun sehr melancholische) Variante von "I Am A Rock" gefiel NATHAN, er baute sie in den Film ein und schrieb als Dank dafür ein paar improvisierte Lyrics, mit denen SCOTT den Song weiter umarbeitete und schließlich noch einmal neu aufnahm. Unter anderem borgte er sich dafür im örtlichen Gitarrenshop eine '
Rickenbacker Electric 12-String', um einen ähnlichen Sound hinzubekommen wie
ROGER MCGUINN bei den
BYRDS. Das erste Stück ANNEN BERG-Musik war geboren. (Zu hören ist es als "Wild Plant Stones" auf
myspace). SCOTT dachte sich 13 weitere Songtitel aus, NATHAN schrieb Texte (So arbeiten die beiden bis heute zusammen.) mit der Vorgabe einer heidnischen, naturnahen Perspektive, und SCOTT komponierte wiederum Musik dazu. Beide verwendeten dabei viel Melancholie und Romantik. Drei dieser Songs haben nun auf der Debüt-EP "Riddles Of The Worm" Platz gefunden, ein Album ("Followers Of The Worm") soll demnächst erscheinen. Außerdem hat SCOTT für ein paar Konzerte in Europa eine Werkschau (mit vielen 'rough versions') in der winzigen Auflage von 75 Stück hergestellt ("
All Things Must Last"), von der noch einige wenige Exemplare zu haben sind. Sie gibt einen guten Überblick über den frühen Stand der Entwicklung dieser Fast-Einmann-Band, denn live wie im Studio macht SCOTT JACKSON nahezu alles selbst, unterstützt nur durch sporadische Gastauftritte.
Um uns endlich der Musik zuzuwenden: Auf ihrer Internetseite haben sich ANNEN BERG unter 'Darkwave & Western' einsortiert, was aufgrund der Vielfalt der Band eine von zahlreichen zutreffenden Beschreibungen ist. Als ob man auf einer Zeitreise kurz vor einem kalifornischen Röhrenradio der 60er-Jahre Halt macht, fällt zunächst einmal der Harmoniegesang auf. ROGER MCGUINN wurde ja schon erwähnt, und ich bin mir sicher, dass "Turn!Turn!Turn!" oder "Mr. Tambourine Man" ganz oben auf SCOTTs persönlicher Playlist stehen. Tatsächlich beschreibt er die "Ekstase beim Singen von Harmonien" als Hauptbestandteil von ANNEN BERG. Auch SIMON AND GARFUNKEL und ihr Wechselspiel aus teils bombastischem Folkrock ("Sounds Of Silence"), teils dahingehauchten Tönen ("Scarbourough Fair") sind nicht weit. Die Vocals sind hoch, fast falsett-artig ("Ich höre beim Schreiben Jungfrauen in der Kirche singen", sagt SCOTT), was vielen Liedern eine fröhliche Leichtigkeit verleiht. So trällert sich die Stimme von Gastsänger DAVE MORTENSON (Ex-Frontmann der Seattle-Band
BONE CELLAR) durch "Le Derniére Combat", den ersten der drei Songs auf der EP, mit Schlagzeug, perlender Sixties-Gitarre und Hintergrund-Chor, dass es einem leicht ums Herz werden könnte – wäre da nicht der Text. Denn ANNEN BERGs "Interesse am europäischen Neofolk" (Zitat) ist zwar nicht mit direkten musikalischen Vergleichen beizukommen, es ist aber deutlich zu spüren, in Form einer ausgeprägten Verehrung der Natur und all ihrer Lebewesen, abgesehen vom Menschen. Die Ästhetik der Band stellt ihn nicht in den Mittelpunkt, streift ihn oft nur. "Le Derniére Combat" kündigt – wie der Titel verrät – die letzte Schlacht an, die Dämonen mit ihren Weltuntergangsglöckchen blinzeln bereits um die Ecke. Auch im zweiten Stück, "Riddles Of The Worm", erscheint der Mensch nur als Störenfried, wenn sich ein Wurm philosophische Gedanken über die großen Trampler macht. Was die Musik angeht, sitzen wir dieses Mal direkt bei den
BEACH BOYS und den MAMAS AND THE PAPAS auf dem Schoß. Wie ein Trichter lenkt das Stück Elemente von 60er-Jahre-Pop auf einen Punkt. Die Harmonien platzen aus allen Nähten, chorale Vocals säuseln zum Dahinträumen. Das letzte Stück schließlich geht in Richtung der ruhigen, psychedelischen Singer-/Songwriter wie
NICK DRAKE oder B'EIRTH von
IN GOWAN RING, mit nachdenklicher E-Gitarre und typischer Folkflöte. Wiederum ist der Name mit "Doom Control" programmatisch, und die geänderte Musikfarbe zeigt auch innerhalb der wenigen Stücke auf der EP schon, zu welcher Variation SCOTT JACKSON in der Lage ist.
Viele weitere Titel stehen auf den myspace- und
Last.fm-Seiten von ANNEN BERG zur Verfügung, wehmütig und staubig wie die Westerngitarren von CALEXICO ("Tarot Of The Dawn") oder rein folkig (und ein wenig freakig) in Bruderschaft mit den Schotten von
KITCHEN CYNICS. Bei all der beschriebenen Leichtigkeit der Musik wird aber klar, wie schwer es sich SCOTT beim Komponieren macht: Die Songstrukturen sind unorthodox, manche Lieder kommen ohne Refrain aus, andere sind wie ein Dauerrefrain ohne Rest, Tempo und Instrumentierung wechseln ständig. Nicht umsonst berufen sich ANNEN BERG auf
GUSTAV MAHLER, denn dessen Prinzip war eine sich ständig weiterentwickelnde Musik, die ohne Wiederholungen auskommt.
Wie schön, dass diese EP erst der Anfang von ANNEN BERG ist! Ich bin überzeugt davon, dass spätestens der für die kommenden Wochen angekündigte Longplayer den Weg auf die Schreibtische der Musikredakteure jenseits von NONPOP finden wird. (Ja, es gibt noch eine andere Welt da draußen.) Aufgrund des großen musikalischen Könnens von SCOTT JACKSON werden sie sogar das Selbstbekenntnis zum Neofolk wohlwollend ignorieren und das Projekt aus Portland mit Fug und Recht bekannt machen. Bis es soweit ist, können wir einen Hauch von Exklusivität genießen und uns freuen, etwas Besonderes ausgegraben zu haben.