Noch bevor das Album der Schweizer NUCLEUS TORN überhaupt im CD-Spieler rotierte, stellte sich bei mir ein gewisser, distanzierter Zynismus, wenn nicht gar Hohn ein, dazu genügte ein flüchtiger Blick auf den Beipackzettel. PROPHECY pflegen nämlich fast immer die Musik ihrer Bands mit der eigentlich nichts und alles bedeutenden Vokabel „emotional“ zu beschreiben. Es heißt hier: "Das Album schafft Welten, die so noch nie ergründet worden sind. Ein Hörer, der uns dorthin folgt, wird früher oder später Zugang zu der emotionalen Tiefe von ‚Knell’ finden." Egal ob die Zielgruppe der verträumte, langhaarige und dichtende Gymnasial-Oberstufler (DORNENREICH, ALCEST) oder der schon etwas ältere, wahrlich tiefgründige und sensible Musikconnaisseur (ELEND, TENHI) ist, immer geht es in diesem Verlagshause wahnsinnig „emotional“ zu, und so dachte ich so bei mir als just dieses Wörtchen wieder einmal gebraucht wurde, „wow, wie ‚emotional’ wird’s denn diesmal“. Um es vorweg zu nehmen, ich wurde positiv überrascht. Was mit „emotional“ eigentlich gemeint ist, wird auch immer recht schnell klar. Es ist eigentlich eine Chiffre für die Erlebniswelt eines Hörerkreises, der etwas enger abgesteckt ist, als es das Wörtchen „emotional“, welches ja beansprucht für alle Hörenden zu gelten, suggerieren möchte. Es ist eine Welt, die ihre Wurzeln im „nordisch“ geprägten Black Metal der 90er hat, um von dorther ausströmend sich z.B. gruftiger Neoklassik, Trip-Hop, Shoegaze und Prog-Rock-Welten oder auch gleich FRANZ SCHUBERT („Eine Winterreise“) entdeckend zuzuwenden. Kennzeichnend für diesen Kreis ist es, dass eine bestimmte Art von Black Metal-Naturromantik entweder bewusst oder unbewusst nicht aufgegeben wird, selbst wenn diese Wurzeln irgendwann nur noch dem geübten Ohr auffallen, dafür war wohl zu einer bestimmten Lebensphase der Eindruck, den solche Alben wie „HEart Of The Ages“ (1995) von IN THE WOODS oder das gesamte Frühwerk von ULVER hinterlassen haben, zu wirkmächtig. Dies alles im Hinterkopf habend erwartete ich einen abermaligen Aufguss anspruchsvoller „Post-Black Metal-Naturromantik“, zumal das Cover auch schon wieder direkt in diese Erlebniswelt hineinführt: Nein, kein Troll, sondern ein minimalistisch schwarz/weiß gehaltenes Waldbild und auf der Rückseite ein alter Wandersmann von hinten mit einem Wanderstock, vermutlich Odin höchstpersönlich. Bandbiographisch wird man bei NUCLEUS TORN eher im Nebulösen gelassen, doch scheint mir gesichert, dass zumindest FREDY SCHNYDER, der Kopf des Ganzen, in irgendeiner Weise dem Umfeld jener kleinen, aber sehr interessanten Schweizer Black Metal-Szene um PAYSAGE D’HIVER und DARKSPACE entstammt, jedenfalls sind die ersten NUCLEUS TORN-Werke auf dem KUNSTHALL-Spezialistenlabel erschienen (welches von PAYSAGE D’HIVER betrieben wird). Zunächst war NUCLEUS TORN auch ein Ein-Mann Projekt. Ihre erste EP „Krähenkönigin“ (aufgenommen 1998, aber erst 2004 nur auf Vinyl veröffentlicht) bot vier unbetitelte Instrumentalstücke allein auf klassischer Akustikgitarre dargeboten und durchaus spannender zu hören, als sich das nun lesen mag, aber Obacht, es ist tatsächlich eher klassische Musik als ein Aufguss von ULVERs „Kveldssanger“ (1995) wie ihn EMPYRIUM einst boten. In den Jahren drauf wuchs NUCLEUS TORN zu einer richtigen Band heran mit heute sieben Musikern, darunter Sänger PATRICK SCHAAD, der auch bei der unbekannten Metalcore-Band MISBEHAVED beschäftigt ist, sowie einer Cellistin, einer Violinistin, einem Flötisten und einer weiteren Sängerin. Letztere sind vermutlich allesamt Musiker, die mit Metal im Allgemeinen gar nichts zu tun haben und sicherlich eine klassische Musikausbildung genossen. Hieran lässt sich bereits erkennen: Klassische Musik ist seit „Krähenkönigin“ ein integrativer Bestandteil ihrer Musik, aber was sonst noch? Ja, es ist tatsächlich ziemlich schwer, die musikalische Schublade annähernd zu bestimmen. Die Erwartungshaltung ist nun sicherlich die, dass NUCLEUS TORN im weitesten Sinne eine Metalband sind, und es stimmt auch, dass ihr „Nihil“-Debütalbum eine ausgefeilte und gleichmäßig verteilte Mischung aus klassischer, aber sehr finsterer Kammermusik, keltisch geprägtem Progressiv-Folk-Rock und Doom (-Metal) bot, aber diese Klassifizierung ist nun bei ihrem ambitionierten Nachfolger „Knell“ auch schon wieder zu großen Teilen außer Kraft gesetzt. Vier, zum Teil überlange und unbetitelte Stücke befinden sich auf „Knell“, da die Musik weder Strophen noch überhaupt sich wiederholende Grundthemen kennt, ist es, wenn man nicht mit einem Auge auf die CD-Anzeige schielt, unmöglich zu erhören, wenn eine Komposition aufhört und die nächste beginnt. Die fast einstündige Spielzeit lässt sich also am Stück hören und kann im Umkehrschluss auch an anderen Stellen, als es die Anzeige vorgibt, unterbrochen werden, wenn es einem beliebt. Die düstere Kammermusik ist geblieben, aber auf „Knell“ fehlt das folkige Element und auch „Rock“ trifft das Ganze nicht mehr, stattdessen ist direkt fühlbar, und an einigen Stellen auch explizit und deutlicher hörbar als noch auf „Nihil“, das Album hat etwas mit lebensverneinenden (Black)-Metal, aber vielleicht auch nihilistischem NEUROT RECORDINGS-Experimental-Hardcore zu tun. Erste (wilde) Assoziationen für diese "lauten Momente": THORNS (Man höre "Aerie Descent" im Vergleich.), weniger jazzige GUAPO treffen auf SHINING und die Labelkollegen ELEND. Die größte Nähe besteht jedoch vielleicht zu den alten Belgiern UNIVERS ZERO. Die aggressiven Elemente brechen auf dem Album immer sehr plötzlich eruptiv hervor und äußern sich weder durch Raserei noch durch keifenden Gesang, sondern allein durch kaltes, abgehackt wirkendes, durchschlagendes Schlagzeugspiel. Faszinierend an „Knell“ ist vor allem das Laut/Leise-Wechselspiel zwischen Klavier, Cello, Flötentönen einerseits und der hervorbrechenden Gewalt andererseits, vielleicht hat dieses Faible für Kontraste tatsächlich was mit der Schweizer Alpenlandschaft zu tun. Bis auf wenige Momente wird auf „Knell“ strikt zwischen Kammermusik und roher Gewalt unterschieden, wenn Klavier und Streicher ertönen, schweigen in der Regel Schlagzeug und E-Instrumente, genauso andersherum. Allein die Geige darf noch ein bisschen mitklingen, wenn's beginnt heftig zu werden, doch bevor die MY DYING BRIDE-Assoziationen zu penetrant werden, begibt sie sich wieder in Wartestellung. Eigentümlich auch die Momente, die den Klassik-Instrumenten vorbehalten sind. Es ist weniger ein harmonisches Zusammenspiel zu vernehmen, eher ist immer jeweils ein Instrument dominant. Streckenweise glaubt man einem „musikalischen Märchen“ wie „Peter und der Wolf“ (SERGEJ PROKOFJEW), diesmal aber für Erwachsene, zu lauschen. In diesen Momenten ist „Knell“ atmosphärisch eher traurig als verstörend. Das einzige was leider an dem Album ziemlich stört und vieles zunichte macht, ist der Gesang, und zwar sowohl der männliche als auch der weibliche, die etwa gleichmäßig verteilt auftreten. Zum Glück wird allgemein nicht so viel gesungen. Zum Album hätte ein sonorer Sprechgesang, vielleicht auch ein Keifen und Growlen gepasst, auch eine Variante des beliebten (von THEATRE OF TRAGEDY einst etablierten) „die Schöne und das Biest“-Dialoggesangspiels hätte unter der strikten Prämisse, das nicht allzu „gothisch-Rüschenhemd“-mäßig umzusetzen, vielleicht gewirkt, aber was hören wir stattdessen? Einen weiblichen Allerweltsgesang, der okay ist, und einen harmlosen, männlichen Klargesang, der sich ein bisschen an GARM (ULVER) zu ARCTURUS-Zeiten anlehnt und auch ein wenig Doom-Pathos verströmen will. Leider deplaziert bei dem aufregenden Drumherum und doppelt schade, denn so hat man sich ein aufrührerisches Flair verbaut und kommt zu dem Schluss, dass es doch „nur“ wieder so „träumerische Naturromantiker-Black Metaller“ sind. Andererseits schafft es NUCLEUS TORN so erst recht zwischen die Stühle. Mit „Knell“ haben sich NUCLEUS TORN einen Riesenschritt nach vorne bewegt, nach dem Vorgänger „Nihil“, einem Album, das auf seine Weise bloß typisch für die eingangs beschriebenen „emotionalen“ Post-Black Metal-Welten war, hätte ich diese Steigerung hin zu neuen, aber auch tatsächlich finster und bedrohlich wirkenden Ufern nicht erwartet. NUCLEUS TORN sind jetzt mit ELEND, TENHI und SECRETS OF THE MOON sicher das Beste, was PROPHECY derzeit zu bieten hat. Ich hoffe, so geht es für NUCLEUS TORN weiter, angeblich ist das nächste Album schon komponiert. Nach reifliche Überlegung habe ich mich oben bei der Angabe des Genres für „Post Black Metal/Prog-Rock“ erschienen, obwohl „Knell“, wie gesagt, kaum „Rock“ ist, aber durch den Gesang haben sie sich das bildungsbürgerliche „Prog-Rock“ redlich verdient! ...und „Black Metal“ einfach, weil das zumindest potenziell der Thron aller nihilistisch sein wollenden Musik ist, die mit Schlagzeug und E-Gitarren erzeugt wird.... Wirklich sehr "emotional" alles!
Dominik T. für nonpop.de
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Zusammenfassung
Wechselspiel zwischen Kammermusik (Streicher, Flöten, Klavier) und eruptiven, nihilistischen (Black Metal?) Ausbrüchen. Sehr interessant, wenn mit irgendwas vergleichbar, dann noch am ehesten nah an ELEND und UNIVERS ZERO.
Schlechter, klarer Gesang. Inhalt
1. I 08:04
2. II 14:30 3. III 29:14 4. IV 04:16 Total playing time 56:06 |
Dominik hat natürlich vollkommen recht. Die Scheibe ist super!
@Boyd,
Also so furchtbare Bands wie WITHIN TEMPTATION oder THE GATHERING sind schon wirklich eine Beleidigung und ich finde zu NUCLEUS TORN passen sie nicht einmal im Entferntesten, komplett falsche Baustelle! (speziell WT).
Ich finde die Scheibe relativ nichtssagend, erkenne keinen roten Faden, und für meinen Geschmack biedert sich das ganze teilweise doch sehr an Within Temptation und Konsorten (auch wenn es hier wesentlich progressiver zur Sache geht) an. Zudem fehlt den Gitarren der nötige Druck und der Gesang... naja... Der weibliche Gesang erinnert mich zwar an Anneke van Giersbergen, aber irgendwie werde ich mit dem Ganzen nicht warm.