SIGUR RÓS: heima (+ hvarf-heim)

"heima" ist anders als die meisten Musik-DVDs. Dieser Satz allein würde schon fast genügen, denn 'anders' bedeutet in der Regel besser. Viele DVDs mit Titeln wie "XYZ live in...." oder "XYZ - Acoustic Tour" erfreuen zwar den Fan, dessen Sammlung wächst und der vielleicht den einen oder anderen Blick aus einer neuen Perspektive auf seinen favorisierten Künstler erhascht, in Form eines besonders gelungenen Interviews zum Beispiel. "heima" hat bei mir aber viel mehr bewirkt, denn die Aufnahmen haben mein eher diffuses Gefühl von 'gerne mögen' gegenüber der Band (Sie kommt aus Island, ist ein wenig verschroben und macht tolle Musik.) differenziert, so dass ich jetzt viel besser als vorher weiß, warum ich SIGUR RÓS eigentlich so schätze.

Regie hat der Kanadier DEAN DEBLOIS geführt, der lange Zeit in den Animationsstudios von DISNEY (!) arbeitete und für "Lilo & Stitch" eine Oscar-Nominierung (Regie) für den besten Animationsfilm erhielt. Er wurde der Band von Freunden als Langzeit-SIGUR-RÓS-Fan empfohlen und hat vor allem mit der ersten DVD von "heima" einen Meilenstein abgeliefert, den schönsten 'On The Road'-Film über eine Band, den ich kenne. Allerdings hatte er ohne sein Zutun mit Island auch einen der schönsten Hintergründe, die es geben kann. "heima" bedeutet übersetzt 'Heimat' oder 'Zuhause', und so ist die verfilmte Islandreise der Band auch ein 'Heimatfilm' geworden. Viele atemberaubende Landschaftsbilder sind zu sehen, Wasserfälle, spielende Kinder vor der Meeresbrandung, bunte Dorffassaden. Manche Kamerafahrten erinnern an die "Summers Isle" aus "Wicker Man", so rau und fast fühlbar schön ist die Natur. DEBLOIS mischt diese Bilder mit verschiedenen Elementen: Auftritten der Band (Man kann erahnen, was für eine rauschhafte Wirkung es hat, wenn die monumentale Musik von SIGUR RÓS auf diese monumentale Landschaft trifft.), Interviews mit den Musikern (in denen sie so freizügig wie selten über ihre Musik, den Schaffensprozess, ihre Heimat Island und die Menschen dort erzählen) und Akustiksongs, die beim Proben oder zu besonderen Gelegenheiten entstanden sind.

Ich könnte endlos viele Momente des Films aufzählen, die mir im Gedächtnis geblieben sind; hier ein paar der schönsten: Der Auftritt der örtlichen Blaskapelle, die am Nachmittag vor dem Konzert durch die Straßen ihres Dorfes marschiert und am Abend auf die Bühne zu SIGUR RÓS darf, unter frenetischem Jubel der Einwohner. (Die Brassmusik wird dann auf wunderbare Weise in den SIGUR RÓS-Sound integriert.) Der Bau einer Marimba (ein besonderes Xylophon, normalerweise mit Holzklangplatten) aus Schiefersteinen, auf der SIGUR RÓS später, auf DVD 2, einen Song spielen. Das Konzert in einem kleinen Gemeindehaus, bei dem vorne Babys versuchen, auf die Bühne zu krabbeln und hinten, an den Tischen, die Alten sitzen, mit zitternden Händen und wackeligen Köpfen um die weißen Porzellan-Kaffeekannen. Der Blick aus dem Fenster einer lange stillgelegten Fischfabrik, in der SIGUR RÓS später auftreten, auf einen Wasserfall. Das sekundenlange Bild eines Wäscheständers vor der Brandung. Und vielleicht am beeindruckendsten: Der erste akustische Auftritt der Band überhaupt, in snaefell, Songs für die Umweltschützer in ihren Zelten, die gegen den gigantischen künstlichen Damm im Hintergrund protestieren. Im Interview erzählt die Band anschließend sichtlich bewegt, dass die Landschaft inzwischen geflutet wurde, um eine Aluminiumhütte bauen zu können.
Bei jedem dieser Konzerte treten zwei Umstände deutlich zutage: SIGUR RÓS sind mit Leib und Seele Isländer und lieben ihr Land, und so ist "heima" eben keine Bandbiographie, sondern vor allem ein Film über Island. Und die Band will bei ihren Auftritten immer etwas schenken, das über bloße Musik hinaus geht. 'Kunst' ist ein großes Wort, aber ich denke, dass es genau das ist, was SIGUR RÓS machen. Das Quäntchen mehr, das die Musiker immer bereit sind zu geben, macht sie zu Künstlern. Die schlafwandlerische Sicherheit, die ihnen bei Konzerten, der Auswahl von Songs oder den Ideen für Videos innewohnt, lässt sie (das bestätigt die Band mehrfach) nahezu ohne Planung auskommen, so wie auch auf der zweiwöchigen Reise durch Island offenbar vieles spontan entstanden ist, mit dem unbändigen Willen, das Schönstmögliche zu schaffen. Unprätentiös, in sich ruhend und wissend, wo sie immer zuhause sein werden, feiern SIGUR RÓS mit Menschen, die sich wahrscheinlich nie eine Konzertkarte gekauft hätten, aber trotzdem von der ersten Sekunde an mit roten Wangen und großen Augen die Auftritte bestaunen. Zusammen mit der natürlichen Magie Islands ist "heima" deshalb selbst vor dem Fernseher ein großes Erlebnis. Wer die Möglichkeit hat, den Film gar auf einer Kinoleinwand zu sehen, sollte sie unbedingt nutzen. Der einzige Premierentermin mit Bandkonzert in Deutschland (Berlin) ist leider schon vorbei, zwei theoretisch erreichbare stehen noch in Wales und England an (3. bis 6. Dezember und 8. Dezember).

Neben der Standard-DVD-Version mit einfachem, 8-seitigem Booklet (hier besprochen) gibt es auch eine 'limited version' mit 100-seitigem Büchlein, die dann in Deutschland aber schon weit mehr als 30 Euro kostet. Auch die knapp 30 Euro für die Standardpackung sind - für eine Doppel-DVD - viel Geld. Im Internet stöbern lohnt sich; wer zum Beispiel einen 'code free'-DVD-Player hat, bekommt die unlimitierte Version in den USA fast für die Hälfte des deutschen Preises.

Die Doppel-CD "hvarf / heim", die begleitend zum Film erschienen ist, würde ich - nach all der Begeisterung für "heima" - in die oben genannte Kategorie 'Für Fans' einordnen. Auf "hvarf" ('Zufluchtsort', 'Hafen') sind fünf bislang unveröffentlichte Songs aus verschiedenen Schaffensperioden versammelt. "salka" (2002) wurde für das Album "( )" geschrieben, hat es aber dann aus 'irgendwelchen Gründen' (sagt die Band) nicht auf die CD geschafft. "hljómalind" (1999) sollte auf einer EP nach "ágætis byrjun" erscheinen, die aber nie herauskam. "í gær" (2000) ist zusammen mit den Songs für den Soundtrack von "Angels Of The Universe" entstanden. "von" und "hafsól" (beide 1995) sind alternative Versionen der Stücke des ersten SIGUR RÓS-Albums "von" (1997). Teilweise sind die Songs für SIGUR RÓS-Verhältnisse recht rockig (2 und 5), und heraus ragt vor allem die neue alte "von"-Version, im Gegensatz zum hauchdünnen Original eine elegische Hymne mit schmetternden Vocals von "JÓNSI" und perfekt darauf abgestimmtem Schlagwerk plus Streicher. Da ich aber der Meinung bin, dass man SIGUR RÓS immer am besten albenweise hört, weil sich ihre Magie nur dann komplett entfaltet, und weil die Songs darüber hinaus nichts mit "heima" zu tun haben, bin ich nicht ganz überzeugt von "hvarf". Besser funktioniert "heim", die zweite CD, mit sechs Akustiksongs. Diese Lieder sind auch auf "heima" vertreten, beim Auftritt vor dem Umweltschützercamp zum Beispiel, weil es einfach keine Möglichkeit gab, dort Technik aufzubauen. Außerdem ist es auch für eingefleischte Fans ein Novum, die Band akustisch zu hören. Diese Seite von SIGUR RÓS ist allerdings gewöhnungsbedürftig. Man hat zwar das Gefühl, den Musikern sehr nahe zu sein (was aber vielleicht auch davon abhängt, ob man zuvor den Film gesehen hat und sich an die entsprechenden Situationen erinnert), dennoch geht den Liedern viel von der SIGUR RÓS sonst eigenen Intensität verloren. Die für gewöhnlich riesige Palette zwischen 'laut' und 'leise', die der Musik ihre Wucht verleiht, schrumpft zusammen auf das, was bei einer, nennen wir sie 'folkigen' Variante möglich ist. Am besten gefällt mir wiederum "von", weil Sänger "JÓNSI" hier die verschiedenen Stimmungen des Songs sensationell wiedergibt und die Instrumente weit hinter sich lässt. (Vermutlich würde "von" auch a capella überzeugen.) Ob diese CD nun solo, also ohne Film funktioniert, und ob man für die elf Songs 20 Euro ausgeben muss, kann ich nicht eindeutig bejahen. Fans werden an dieser Stelle nur milde lächeln und die Platte schon längst besitzen. Ohne Einschränkung ans Herz lege ich jedem die wundervollen "heima"-DVDs.

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