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Dominik T.

VARIOUS: Khatyn. Tacet, Sed Loquitur

Erster Postindustrial-Sampler aus Weißrussland


VARIOUS: Khatyn. Tacet, Sed Loquitur
Genre: Post Industrial
Verlag: Stigmata...
Medium: CD
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Weißrussland (in der DDR sagte man Belorussland) war bisher ein weißer Fleck auf der Postindustrial-Weltkarte, doch gibt es seit einiger Zeit das subkulturelle Magazin "Stigmata", welches in der Hauptstadt Minsk hergestellt wird und die Postindustrialszenen von Russland, der Ukraine, dem Baltikum bis hin zum Kaukasus mit Informationen versorgt. In Zusammenarbeit mit Freunden aus diesen ehemaligen GUS-Staaten ist nun ein Sampler entstanden, der sich thematisch einer Tragödie der weißrussischen Nationalgeschichte aus der Zeit des großen Krieges widmet, aber auch darüber hinausgehen will. „Tacet, Sed Loquitur" lautet der lateinische Untertitel des Samplers, was soviel heißt wie „Er schweigt und trotzdem spricht er", die Redewendung ist eng verwandt mit dem Cicero zugeschriebenen Ausspruch „Cum tacent, clamant" - „indem sie schweigen, klagen sie an". Dieser Satz führt uns direkt mitten hinein in die Intention der Zusammenstellung: Es geht zuvorderst um ein Kriegsverbrechen, welches sich am 22. März 1943 im weißrussischen Dorf Khatyn (nicht zu verwechseln mit dem russischen Khatyn, wo 1940 ein Massaker russischer Stalinisten an polnischen Antibolschewisten stattfand) zugetragen hat. Am besagten Tag soll es zu einer Bestrafungs- und Racheaktion eines SS-Schutzbataillons und des SS-Sonderbataillons Oskar Dirlewanger gekommen sein: Auf der Suche nach Partisanen, die zuvor in der Nähe eine deutsche Patrouille angegriffen und dabei auch zufällig Hans Welke, den Kugelstoßolympiasieger von 1936, töteten, der Teil dieser Patrouille war, wurden kurzerhand nach offizieller weißrussischer Darstellung alle (etwa 150) Dorfbewohner, inkl. Frauen und Kinder, in eine Scheune getrieben und bei lebendigem Leib verbrannt. Die ausführenden SS-Bataillone bestanden überwiegend aus Ukrainern, die lange zuvor von den Deutschen gefangen genommen wurden und nun unter deutschem Oberkommando auf Seite des Reiches kämpften. Ihr spezieller, unsicherer „KAPO-artige Status" zwischen Kriegsgefangenschaft und Kollaboration, mag die besondere und berüchtigte Grausamkeit erklären. 
Dort wo einst Khatyn stand, steht heute stellvertretend für die über 180 weißrussischen Dörfer, die nach dem Krieg nicht wieder aufgebaut wurden, eine Gedenkstätte, die eine wichtige Rolle im „sozialistischen" Selbstverständnis und der Erinnerungskultur des heutigen, vom „Westen" wenig geliebten, autoritären Lukaschenko-Weißrusslands spielt. Man muss dazu wissen, dass Weißrussland einen besonders hohen Blutzoll zu zahlen hatte, da von 1941 an auf diesem Gebiet der russische Partisanenkampf gegen die Wehrmacht hauptsächlich ausgetragen wurde. Angeblich soll mehr als jeder vierte Weißrusse den Krieg nicht überlebt haben. Die Gedenkstätte Khatyn fällt gegenüber den anderen sozialistischen Gedenkstätten gegen „den Faschismus" besonders heraus, weil man sich hier den typischen Heroismus verkneifen konnte, nicht einmal Insignien wie Hammer und Sichel sind zu sehen (was stattdessen zu sehen ist, kann man hier sehen).

Die Musik

Der Sampler ist nun mit PROPERGOL, BAD SECTOR, ATARAXIA, CAWATANA und FIR§T LAW (die einzigen Vertreter aus Deutschland) recht „szeneprominent" besetzt, die restlichen acht Projekte stammen alle aus dem Baltikum, der Ukraine oder aus Russland. Aus Belorussland sind zwei Projekte beteiligt.
Stilistisch ist der Sampler überwiegend im Sektor emotionaler, cineastischer „historical Ambient" (wie das Ikonen-Magazin einmal die Ambientform genannt hat, die historisch aufgeladene Samples in die Klangflächen integriert und damit was „erzählen" will) angesiedelt. Das geht bereits exemplarisch beim ersten PROPERGOL-Stück los, kein harsches Stück, wie man es sonst von dem Franzosen gewohnt ist, sondern eine akustisch-ambiente Umsetzung des Hineintreibens der Einwohner Khatyns in die Scheune meint man zu hören... Schreie, darauf folgend ohne Unterbrechung der Beitrag der belorussischen PRAGNAVIT. In diesem mischen sie jenen historischen Ambient mit volkstümlichen Elementen und einem traditionellen Begräbniszeremonie-Text. Schwerer und erdrückender geht's wohl nicht mehr, und doch geht es auch bei CYCLOTIMIA und BAD SECTOR in diesem Stil weiter, wobei die hochgelobten BAD SECTOR aus Italien ein Stück knapp unter ihrer Normalform abliefern und der CYCLOTIMIA-Beitrag bereits auf ihrer „Metamorphosis" 10" veröffentlicht wurde. Folkloristisch wird es dann erstmalig mit ATARAXIA. Der Rezensent ist es gewöhnt bei der Stimme der Sängerin FRANCESCA NICOLI entnervt weiterzuskippen, doch es hilft ja nichts, objektiv gesprochen ist das ein sehr glaubhaftes, anrühriges Klagelied, welches zum Glück ohne mittelalterliche Reminiszenzen auskommt. Der Sampler scheint hier für eine kurze Zeit im lateinischen Mitteleuropa angekommen zu sein, war doch bisher alles von einer russischen Schwere dominiert, übrigens ohne peinlich zu wirken.
Mit den russischen MOON FAR AWAY geht es jedoch gleich zurück in den „mystischen Osten", der sich hier vollkommen ironiefrei auf  nahezu dem ganzen Sampler austoben darf, doch beginnt hier auch der Historical Ambient zaghaft in eine Art archaische, neofolkkompatible Weltmusikform hinüberzugleiten. Sonore Männerchöre stimmen abermals ein traditionelles Klagelied an, welches auch bei den belorussischen OSI MIRA nicht aufhört, allenfalls mit Trommeln und Maultrommeln noch volkstümlicher wird und sich bei den hier kürzlich vorgestellten DONIS aus Litauen verstärkt in Richtung DEAD CAN DANCE wendet, diesmal mit Frauenstimme. Feierliche, traurige Weihrauchstimmungen reihen sich aneinander, am Stück gehört wird es einem fast zu viel, zumal hier jenes typische Neofolk-Dilletanten-Flair überhaupt nicht vorhanden ist. Die Instrumente sind jetzt schon seit dem ATARAXIA-Beitrag nicht synthetisch erzeugt, sondern echt. Was ist los? Warum ist das alles so professionell? Das Neofolkohr und mit ihm die Ganze interessierte Musikwelt, muss sich erst daran gewöhnen, dass auf dem Balkan, im Baltikum, im Kaukasus und in Russland überall Projekte entstehen, die sich in ihrem Selbstverständnis als Teil der (meist paganen) Neofolkszene verstehen, aber dennoch musikalisch so wirken, als könnten sie jederzeit hervorragend eine ARTE-Kulturdokumentation musikalisch untermalen (nicht, dass das automatisch eine Auszeichnung ist, aber ihr wisst was ich meine). Da kommt was auf uns zu! Die späte Saat des „Death Of The West" im unverdächtigen Weltmusikgewand und der Weg, den der Black Metal im eurasischen Raum eingeschlagen hat, wird auch sein Anteil dran haben.
Ausgerechnet CAWATANA aus Ungarn bleibt es nun vorbehalten, den einzigen Song beigesteuert zu haben, der wirklich komplett herausfällt und dabei richtig gut ist. Er fängt mit einem mitreißenden Trommelrhythmus an und entwickelt sich zu einem leicht wavigen Neofolkhit, der sich stark als eine Ehrbekundung an solch klassische SOL INVICTUS -Nummern wie „Long Live Death" hören lässt, lediglich der Mittelteil wirkt etwas unkoordiniert, aber "Danke" für diese Traditionsverteidigung, zumal die Trommeln endlich auch hier tatsächlich echt klingen!
Was sonst? Natürlich muss noch der FIR§T LAW-Beitrag als ein Höhepunkt erwähnt werden, der zwar für sie absolut typisch ist, aber mit ihrem Beitrag auf dem „Saturn Gnosis"-Sampler zu ihren besten Stücken gehört, kosmische Musik der Marke LOKI FOUNDATION, hier löst dich der Sampler das zweite Mal von der östlichen Schwere und landet kurz in Mitteleuropa, obwohl kurz vorher auch VISHUDDA KALI beweisen, dass sie große Fans der KLAUS SCHULZE ASH RA TEMPEL-Arbeiten sind.
Ein stimmiger, sehr schwerer, sehr östlicher Sampler, der sein Anliegen „Khatyn" eindrucksvoll, auch durch das gelungene Booklet mit anrührenden Bildern vermitteln kann. Die Beiträge sind durchweg hörbar und rund ein Drittel ist sogar richtig gut. Im Übrigen ist auch dieses Thema im Postindustrialkontext musikalisch verarbeitet nicht vollkommen neu, die Franzosen LAND widmeten sich 2002 auf ihrer über EIS UND LICHT erschienen 10" Vinyl "Idi I Smotri" ebenfalls zumindest verklausuliert diesem Thema, weil das historische Geschehen von Khatyn Grundlage des Films war, von dem sich LAND damals inspirieren ließen. LAND hätte sich mit ihrer Art des "emotionalen Ambients" auch nahtlos auf dem Sampler eingefügt.


„Khatyn" ist, wie bereits erwähnt, heute eine zentrale, weißrussische Gedenkstätte. Es wäre daher absolut falsch diesen ersten weißrussischen Postindustrial-Sampler als eine Art subversiven Akt zu deuten, eher ist das genaue Gegenteil richtig. Der beiliegende Text ist mehr oder weniger (mit Verweis) von der Internetpräsenz der Gedenkstätte abgeschrieben, insofern hat man hier eher ein Postindustrialdokument "offizieller", weißrussischer Lukaschenko-Geschichtspolitik in den Händen, die gewohnheitsmäßig nach sozialistischem Duktus „antifaschistisch" ist (während die degenerierten „Antifaschisten" des Westens sich für Weißrussland wohl eine „orangene Revolution" wünschen und angesichts eines „Antiwestlertums", das hier mit Händen zu greifen ist, üblicherweise von „tiefer Sorge" ergriffen werden).
Der Begleittext versucht zwar an verschiedenen Stellen diesem Khatyn-Gedenken einen universalistischen Anstrich zu verpassen, indem etwa dem Sampler ein weiteres, eher unbeholfenes Motto gegeben wird: „Every war is a crime..." und z.B. noch Hiroshima und Dresden erwähnen und folglich Khatyn nur ein "Beispiel" sein soll, doch steht das vollkommen der konkreten „weißrussischen" Sampler-Ästhetik entgegen. Von Nicht-Weißrussen mit moralischem Impetus ein Khatyn „Gedenken" einfordern, hieße die weißrussische Perspektive zu übernehmen, dies wiederum hieße, Geschichte zu vermoralisieren. Man kann sich aber zu Geschichte nicht so verhalten als müsse man dafür oder dagegen sein, weil jede Nation nur ihre jeweils eigene hat, an der man weiter bauen muss, will man nicht, dass ein paar wenige Sieger festlegen, welche Verbrechen mehr, welche weniger "gedenkwürdig" sind.
All das schließt natürlich nicht aus, so eine Khatyn-Gedenkstätte oder eben so ein Sampler dennoch eindrucksvoll zu finden oder sich berühren zu lassen. Dem Sampler gelingt das gut. Empfehlung!

 
Dominik T. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» Gedenkstätte Khatyn
» Stigmata Magazin


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Zusammenfassung
Gedenksampler für Khatyn.
Sehr "östlicher" aufwühlender Ambient und neofolkloristische, osteuropäische "Weltmusik"

Inhalt
Tracklisting:

1 Propergol Seventy-Five / The Bullet Or The Flame (5:02)
2 Pragnavit Popiet Hatyni (8:35)
3 Cyclotimia Lament (4:33)
4 Bad Sector Inner Pulse (5:35)
5 Majdanek Waltz Prayer (4:45)
6 Ataraxia Etretat (6:54)
7 Moon Far Away Volna Shumit (4:13)
8 Osi Mira Ziazulia Myia (3:17)
9 Donis Žalio Vario (4:30)
10 Cawatana May (4:07)
11 Vishudha Kali Monuments & Dust (7:34)
12 Fir§t Law Group Dynamics (Requiem For The Common Sense) (7:10)
13 Necro Stellar Stay And Burn (7:51)

Digipack, Schönes Booklet mit einführendem Text, alten Photos der Kriegsjahre usw.
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