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Roy L.
IANVA: L'Occidente ep
„solo un punto cardinale e nulla più quest'Occidente...“
Genre: Folk
Verlag: Il Levriero
Erscheinungsdatum:
15. Oktober 2007
Medium: CD
Preis: ~8,00 €
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Il Levriero
Kategorie: Rezension
Erstellt: 20.10.2007
Wörter: 1124
Artikelbewertung:
positiv:60% negativ:40%
Noch glüht in manchen von uns die Begeisterung, die IANVA mit ihrer orgiastischen Neubearbeitung des Fiume-Mythos entfachten, da schwingt sich das seriöse italienische Musikprojekt schon wieder zu neuen Fahrten auf unruhigen Gewässern auf. Dieses Mal stößt die Reise ins Übergeschichtliche und durchdringt bittere Stürme und schicksalhafte Gewitter. Die vier auf „L'Occidente“ enthaltenen Titel deuten darauf hin, dass das anstehende zweite Opus den Maßstab der Leidenschaft und Tragik von „Disobbedisco!“ auf eine höhere Ebene trägt und das Fatum der beiden Charaktere (Maggiore Renzi und Elettra Stavros) durch das einer ganzen Kultur ersetzt. Wie eine antiquarische Postkarte wirkt das Coverbild, auf dem sich der stählerne Koloss eines Passagierdampfers seinen Weg über einen kalten und dunklen Ozean bahnt. Auf der Rückseite des Beiheftes ist der Koloss schon bezwungen und liegt traumversunken wie ein alter Korallenstock am Meeresgrund. Spengler und diverse andere Untergangsphantasien spuken durch dieses Bild, Europa wälzt sich in unruhigem Schlafe. Im Text des ersten Liedes steuert der Okzident, übersättigt und leergetrunken aber immer noch gierig nach Welt auf einen unausweichlich apokalyptischen Horizont zu, der nie erreicht wird. Es ist nicht der große emphatische Aufschrei einer Götterdämmerung, vielmehr das schwarze Loch der kulturellen Bedeutungslosigkeit und Impotenz und bei den verzweifelten Rettungsversuchen handelt es sich, schlimmer noch, nur um das Aufbäumen geistig und spirituell verarmter Moralisten, die mit einem Appell an diese oder jene Wertekodizes nur ihre eigene Haut zu retten versuchen. Ist dies also die Art und Weise, auf die das Abendland versinken wird, „not with a bang, but with a whimper“? Mit einem Paukenschlag zumindest hauchen IANVA dem siechen Okzident noch einmal Leben ein. Wie ein klanggewordener Monumentalbau dringt es, Schicht für Schicht, aus orphischer Tiefe empor: das Raunen der Fanfaren, das Feste und Todgeweihte in der Tragik der Streicher, das italienische Pathos im Maßstab eines ENNIO MORRICONE. „L'Occidente“ ist die Zurückeroberung des abendländischen Chansons, wie ihn SCOTT WALKER noch kannte, die letzte emphatische Mobilisierung des Folk-Rocks, das letzte große europäische Gefühl im Zusammenbruch des Westens, der nichts mehr als eine Himmelsrichtung ist. Wie ein eiliger Ritt durch dunkle Nebelschwaden verfinstert sich das Lied, immer wieder mit der schwärmerischen Geste des Akkordeons ausscherend, mehr und mehr zu einer trockenen Begräbniszeremonie jenseits romantischer Verklärtheit. Doch IANVA inszenieren diesmal kein tragisches Bühnenstück, sie verlieren sich nicht mehr im wilden, hitzigen Spiel der Figuren, sondern behalten in der höhergelegenen Perspektive des Erzählers den klaren, wissenden Überblick über das Geschehen. Von hier aus beobachten sie das Requiem einer Seele in Stürmen, die, trunken vom dunklen „Becher Nichts“, nur Untergang und vergangene Blüte kennt. Ein Abgesang auf die falschen Priester des europäischen Utopias, die in papiernen Bastionen mit halbem Herzen und ohne Glauben nur noch um ihr eigenes Leben kämpfen. Ein solches Lied beißt sich wie ein Widerhaken ins Bewusstsein – Oratorium der Schiffbrüchigen. Zweites Kapitel: Tiefe des italienischen Südens. Nocera Terinese, eine kleine Gemeinde in den Bergen Kalabriens, die jedes Jahr zum Ostersonntag Schauplatz einer fast rituellen Prozession von Flagellanten (hier: „Vattienti“) wird. Dornenkronen tragend, ziehen sie, von Knaben in roten Gewändern begleitet, durch das Dorf und schneiden sich mit dem „Cardo“, einer Korkscheibe, die von dreißig Nägeln oder Glassplittern durchsetzt ist, in ihre Beine, bis diese völlig blutüberströmt sind und ein Zustand religiöser Ekstase erreicht ist. Der Selbstgeißelung wohnt dabei nahezu etwas Dionysisches inne und tatsächlich scheint dieses „Ritual“ auf vorchristliche Wurzeln zurückzugehen. Anders als in der protestantischen und orthodoxen Kirche ist seltsamerweise im Katholizismus noch am stärksten ein vitaler heidnischer Kern ausfindig zu machen. Vermutlich ist es die Emphase von Prozession und Weihe, das Inszenieren eines Gemeinschaftskultes, das das heidnische Ritual nur ersetzt, nicht bezwungen hat. In „Santa Luce dei Macelli“ wird deutlich, wie eng christliche und heidnische Traditionen in Dörfern wie Nocera Terinese – der Heimat von Sängerin STEFANIA D'ALTERIO - miteinander verschlungen sind, auch wenn der Text mehr oder weniger auf eine Restauration der „alten Götter“ anspielt. Blutrot und feurig wie ein schwerer Wein, entfaltet das Lied in rascher Trunkenheit sein vielschichtiges, archaisches Aroma. Klassisch taktet es auf, mit sakralem Übermut wirft es sich vor den Altar der „Schlachthäuser“, dann stürzt es durch die übervölkerten Gassen, graziös wie der große italienische Schlager zu Zeiten DALIDAs, ländlich und üppig wie eine traditionelle Mazurka, dekadent und gefährlich wie ein kurzer Blick hinter die Kulissen eines Cabarets. Und schließlich gipfelt es in einem orchestralen Finale, größer als jede Rockoper, ein wenig die britischen Prog-Folker von FUCHSIA in Erinnerung rufend, jedoch strenger, bestimmter, kochend in der Sonne des Südens. Was für ein Lied... von einer Imposanz und Komplexität, die wahrscheinlich seit Jahrzehnten nicht mehr erreicht wurde. „Santa Luce dei Macelli“ ist IANVAs bisheriger Meilenstein, ein in sich stringentes, leidenschaftliches Epos, das sich, mehrere überraschende Wendungen nehmend, mit mythischer Lebendigkeit vor dem Hörer auftürmt. Ein vierminütiges, instrumentales Stück beschwört darauf folgend die Seele des italienischen Landes, zwischen Ruhe und Stürmen gelegen. Unzählige Bilder mediterraner Landschaften fügen sich aneinander, bedrohlich und bezaubernd, und stets von einer saftigen Frische durchdrungen. Ein überaus inspirierendes und imaginatives Stück Musik. Mit dem letzten Titel, einer italienischen Neubearbeitung des epischen STRAWBS-Klassikers „The Battle“ schließt sich der „weltanschauliche“ Kreis der Veröffentlichung. IANVAs Vorgehensweise ist hierbei nicht die einer gewöhnlichen Coverversion, vielmehr wird der Text, der ursprünglich eine Szene aus den englischen Bischofskriegen darstellt, in den Kontext des Ersten Weltkriegs gestellt, in dem nicht Bischofs- und Königstreue um eine Burg, sondern Italiener und Österreicher um die Besetzung eines Berges streiten. Natürlich wechselt dabei die Vogelperspektive der STRAWBS-Version bei IANVA in eine rein italienische Sichtweise. Das zynische Resümee, dass die viele Opfer fordernde Schlacht keine Sieger außer den Aasgeiern kennt, ist aber auch hier noch im übertragenen Sinne herauszulesen. Musikalisch orientiert sich „In Battaglia“ mit großem Respekt sehr stark am Original, nur dass die 70er-typischen Orgelflächen hier von im Grunde noch viel altmodischeren Bläsern abgelöst werden und IANVA insgesamt einen deutlich ernsthafteren, tiefgründigeren Duktus pflegen, was sich schon in der schieren Wucht der Chöre andeutet. Ich will nur kurz zusammenfassen: Bei IANVA handelt es sich um eine Gruppe großartiger Musiker und großartiger Sänger. Es ist eine Gruppe von Menschen mit Herz und vielen Ideen, die sich einer identitätsstiftenden Tradition verpflichtet fühlen und aus dieser Position heraus großen Mut besitzen, immer wieder Neues, Erfrischendes zu wagen. IANVA bilden in vielerlei Hinsicht die vorderste Vorhut einer archäofuturistischen Geisteshaltung, die weder revolutionär noch reformistisch, sondern einfach nur für-sich-seiend einen letzten Anker für das sinkende Schiff bietet. Ihre EP „L'Occidente“ ist ein ekstatischer Ausblick auf das, was sich irgendwann in naher Zukunft am Horizont zeigen wird. In einen üppigen Bilderreigen gehüllt, der jedem italophilen Nostalgiker einen heftigen Stich durch Leib und Seele jagen muss, ist jeder kleine Sekundenbruchteil dieser Veröffentlichung mehr Wert als ganze Plattensammlungen zusammen und letztlich wäre ohne eine Gruppe wie IANVA die heutige Musikkultur eine fade und gänzlich langweilige Angelegenheit.
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Verweise zum Artikel:
» IANVA
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Zusammenfassung
Nach dem fulminanten Drama „Disobbedisco!“ kehrt die italienischste aller Musikgruppen mit dem Prolog zu einem eher episch angelegten Werk zurück. Auf kleinstem Raum wird „L'Occidente“ zu einer poetischen Meditation über das Schicksal des Westens, Italien, Blut, Leidenschaft und Glauben. Monumental!
Inhalt
L'Occidente
Santa Luce Dei Macelli
Il Sereno E La Tempesta
In Battaglia
23min
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