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Michael We.
THE DOMESTIC FRONT: The Perfect Swarm
A Portrait Of Urban Overkill In 4 Movements
Kategorie: Rezension
Erstellt: 14.09.2007
Wörter: 906
Artikelbewertung:
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Würde THOMAS BAILEY Bücher schreiben, wäre er einer der sogenannten Cyberpunk-Autoren. Er würde unsere Zukunft in Science-Fiction-Romanen düster skizzieren: riesige Städte voller Gewalt, Lärm und Dreck, die Menschheit verseucht durch aus den Fugen geratene, biologisch-technische Experimente. BAILEY (der mit wechselnden Nachnamen auftritt, im Moment als THOMAS TRANSPARENT) ist ein Multi-Media-Künstler, der sich mit Film und Musik dieser Thematik widmet, und ich weiß nicht, ob dafür schon ein ähnlicher Oberbegriff erfunden wurde. Sein Soloprojekt THE DOMESTIC FRONT hat der 30jährige im Jahr 2000 in Japan gegründet, wo er ebenso gelebt hat wie in den USA (hauptsächlich in Chicago) und Europa. Seit 2003 wohnt und arbeitet er in Prag. In jedem Land, das der 'Nomade' (wie er sich selbst nennt) bereist, sucht er Kontakt zur jeweiligen 'Szene', also zu den Soundbastlern, den Videokünstlern, den Noisemusikern. So hat er mit dem japanischen Programmierer und Noisemusiker ISHIGAMI KAZUYA und dem omnipräsenten japanischen Cyberpunk-Autoren KENJI SIRATORI zusammen gearbeitet, in Europa mit dem tschechischen DJ PETR FERENC, der ihn bei vielen Auftritten begleitet, und in Skandinavien mit dem norwegischen Noise-Recken LASSE MARHAUG und dem schwedischen Künstler LEIF ELGGREN (der - als eines seiner Kunstwerke - unter anderem ein neues Königreich gegründet hat). In Chicago hat BAILEY als Keyboarder bei der Elektroband ZEEK SHECK gespielt und wiederum in Japan, um die vielen Formen experimenteller Musik auch veröffentlichen zu können, sein Label BELSONA STRATEGIC SCHALLPLATTEN gegründet ('Belsona' ist ein Esperanto-Wort und bedeutet so viel wie 'schöner Klang'). Die aktuelle CD von THE DOMESTIC FRONT ist in Europa allerdings beim dänischen Noiselabel 8K MOB RECORDS von DANNY KREUTZFELDT erschienen. Sie stellt, ebenso wie die anderen Arbeiten von BAILEY, die Hauptthese des Anthropozentrismus in Frage: dass der Mensch das Maß aller Dinge ist. THE DOMESTIC FRONT beleuchtet die Isolation des Menschen, die Anonymität, seine Anfälligkeit für Umwelteinflüsse wie Lärm und Krankheiten. So besteht eines der vergangenen Alben ausschließlich aus den bearbeiteten Atemgeräuschen eines Asthma-Kranken, ein anderes aus den Tönen, die entstehen, wenn Raw-Daten (die Rohdaten bei Digitalfotografie) von einer Soundsoftware abgetastet werden, ein (BAILEY) 'Mahnmal für die Privatsphäre im Digitalzeitalter'. Am meisten Aufsehen erregte bisher BAILEYs Beitrag zu einer Live-Radioshow in Chicago; zusammen mit LEIF ELGGREN schuf er eine 'voice message' für PARIS HILTON. "The Perfect Swarm" kümmert sich, wie schon der Untertitel deutlich macht ("A Portrait of Metropolitan Overkill In 4 Movements"), um das Phänomen der Verstädterung. Mehr als 50 Prozent der Menschheit lebt heute in Großstädten (Die sogenannten 'Metropolregionen' werden übrigens angeführt von Tokio mit sagenhaften 37 Millionen Einwohnern, gefolgt von Mexico-City und New York mit rund 20 Millionen). Anhand von vier ausgewählten Orten und dem dazugehörigen, komponierten Soundtrack (Es handelt sich nicht, soweit ich das hören kann, um 'field recordings'.) soll das Leben in solchen 'Mega-Cities' destilliert werden. Track 1 verdeutlicht die Menschenströme am Ausgang einer U-Bahn-Station in Tokio: Mit den für BAILEY typischen, hohen Frequenzen beginnt das Stück. Es fiept nervenaufreibend, wie ein bösartiges Insekt, am Anfang noch abgemildert durch ruhige, ambientartige Droneflächen im Hintergrund, aber schon sehr bedrohlich. Durch das Beimischen von an- und abschwellenden Brummtönen und dem Kreischsound von Daten, die als Audio ausgelesen werden, entsteht erstaunlich klar das Bild von Menschenmassen, mal wie in Zeitlupe, mal im Zeitraffer, bis wir - vermutlich am Ende des Tages - nach wüsten Lärmloops wieder bei ruhigeren Droneflächen landen. Das Gewitter, das auf eine Sportveranstaltung in Chicago niedergeht (Track 2), flirrt aufgeladen mit Energie, entlädt sich in fast schönen, reinigenden Momenten, prasselnd, um am Ende, nachdem alle Menschen vertrieben sind, die Natur ihren eigenen, wenigen Geräuschen zu überlassen. "Al Burj" ist ein im Bau befindlicher Wolkenkratzer, der das Wahrzeichen einer künstlichen, rund 400 Quadratkilometer großen Insel vor Dubai werden soll. Track 3 führt in einem modernen Schnellfahrstuhl aus Glas nach oben, es zischt und brummt, man hört die Stockwerke vorbeigleiten und wird oben mit Wucht von dem Ausblick getroffen, dem Schock, den eine riesige, von Menschen erbaute Insel bei jedem vernünftigen Individuum hervorrufen muss. Der letzte Track führt nach Bangalore, Indien, in ein Call Center. Auch hier wird der Lärmpegel vieler Menschen auf einem Fleck mit hohen Frequenzen umgesetzt, dazu quellen aus allen Ecken Sounds, die wie langsam rückwärts abgespielte Stimmen klingen. Nach einer großen Eruption (Netzüberlastung?) setzt eine Phase der Ruhe ein, mit der "The Perfect Swarm" ausklingt. THOMAS BAILEY schafft es mit dem typischen 'Noise-Krach', sehr klare Bilder von den Dingen hervorzurufen, die er beschreiben will. Dabei verwendet er - im Gegensatz zu den vielen Equipment-Fetischisten, die es im Noise gibt - außer seinem Laptop keine zusätzliche Hardware. Vielleicht klingt sein Sound gerade deshalb organischer, zum Anfassen. Wie Architektur, auf die man die Hand legen kann. Die Absicht, die Menschheit mal wieder vor sich selbst zu warnen und ihr den eigenen Lärm und Dreck vor Augen zu führen, lässt sich außerdem sehr gut auf die persönliche Umgebung eines jeden Hörers übertragen. Ich zum Beispiel kann mir zu Track 1 (den Menschenmassen in der U-Bahn) auch prima das neue, riesige und widerliche Einkaufszentrum meiner Heimatstadt (ca. 300.000 Einwohner) vorstellen, das laut ist und schlecht riecht und den Rest der Innenstadt kaputt macht. Die CD ist ein Pflichtkauf für alle gestandenen Misanthropen, zumal sie - wie immer bei 8K MOB - zum Selbstkostenpreis (4 Euro) verkauft wird und schlicht, aber ästhetisch mit einem schwarz-weißen Faltcover verpackt ist. Außerdem sind die nächsten Werke von THE DOMESTIC FRONT vielleicht schon nicht mehr so einfach zu bekommen: BAILEY überlegt, eine der nächsten CDs ausschließlich in fahrenden U-Bahn-Wagons der großen Metropolen der Welt zu verkaufen.
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Verweise zum Artikel:
» BELSONA-Label
» DOMESTIC FRONT @ myspace
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» NOISE TRADE COMPANY: Crash Test One
» Interview: ROBOTOMY OPERATION
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Zusammenfassung
Eine Scheibe für alle aufrechten Misanthropen. THOMAS BAILEY kreiert mit typischen Noise-Elementen verschiedene Szenarien, etwa aus einer U-Bahn strömende Menschenmassen oder die Atmosphäre in einem Call Center. Lärmend, hektisch und nervös, ein Manifest gegen Großstädte.
Inhalt
1. Shinjuku Station, West Exit, Ticket Gates (11:39)
2. Piorun Blesses A Sporting Event At Soldier Field, Chicago (11:50)
3. Ascending Al Burj Dubai (6:38)
4. Bangalore Call Center, 3 A.M. (11:36)
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