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Roy L.
Ô PARADIS: Cuando El Tiempo Sopla
el tiempo no es real, como no lo son vuestros sueños...
Kategorie: Rezension
Erstellt: 11.09.2007
Wörter: 1453
Artikelbewertung:
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Es ist früh am Morgen. Dem leisen, rhythmischen Ticken des Weckers folgt der schrille, mechanische Weckruf, der uns in die endlose Maschinerie des Tages wirft. Wir sind Sklaven der Zeit, wir haben unsere Erinnerungen sortiert und nummeriert und in kleinen Schächtelchen abgepackt. Die Bewegung des Uhrzeigers ist im Grunde nur der erfundene Index irdischer Vergänglichkeiten. Die Tage und Stunden, in denen wir einander verlorengehen und uns wiederfinden, sind letztlich messbar, zählbar. Alles, was dazwischen passiert, gehört einer anderen Dimension an. Wenn der Wind weht, weht auch die Zeit in die Landschaften des Lebens. Der Dichter DEMIAN RECIO hat das Kleine und Große darin aufgespürt und schreibt mit Worten, die so einfach und klar sind, dass es schwer erscheint, sie selbst zu finden. Seine neue Sammlung von Liedern erzählt Geschichten über uns Menschen, die wir wie Puppen sind, Getriebene in der heiligen Maskerade des Kronos, mit all ihren Ekstasen und Depressionen. Ô PARADIS ist das merkwürdigste Musikprojekt, das jemals einen Fuß in den befleckten Zirkel des Post-Industrials gesetzt hat. Seit nahezu zehn Jahren nimmt Demian das auf, was ihm durch den Kopf geht und in all den Jahren ist er sich selbst dabei immer treu geblieben, denn alle Abzweigungen und Sackgassen unterwegs waren nur Teil eines nie vorhersehbaren Pfades. Vielleicht muss man THE DOORS, CRIME + THE CITY SOLUTION, MARC ALMOND, COIL, und natürlich auch NOVÝ SVĚT kennen und mögen, um ein bisschen von dem Kosmos zu verstehen, der Ô PARADIS umweht, auch wenn diese Referenzen musikalisch nur bedingt relevant sind. Als Kind der 68er Generation ist Demian auch ein rastloser Steppenwolf auf der Suche nach dem Unbenennbaren, für den CROWLEY, PESSOA, BERGMAN und RAMAKRISHNA wichtige Stationen und Quellen der Inspiration waren. Mit seinem eigenen Werk schwebt er in den Zwischenräumen zwischen Profanem und Sakralem, in denen die Melancholie zur existenzialistischen Grundhaltung wird. Ich selbst habe mir Ô PARADIS immer als leuchtenden Wanderzirkus am Rande einer schlafenden Großstadt vorgestellt, ein Ort, der dem Einsamen die Magie und den Trost eines Tempels oder Bordells spendet. Angefangen hat alles unter dem Namen DAKSHINESWAR in gemeinsamer Arbeit mit ROSA SOLÉ (CIRCE) und einer Reihe ambitionierter Demos, aus denen nach und nach das erste Album „Ensueños“ entstanden ist. Durch die lange Entstehungszeit stilistisch sehr verschieden und zerfahren, bleibt es doch bis heute der wichtigste und mit Liedern wie „Todo Inventado“ und „Conversaciones con uno Mismo“ eigentlich auch schönste Moment in der Diskographie des Katalanen. Nachdem Rosa das Projekt verließ, begab sich Ô PARADIS in den dämmrigen Untergrund. Das zweite Album „Reinos – El Invierno de los Cuentos“ ist eine düstere Trip-Hop- und Jazz-Reise durch feuchte Keller und U-Bahnschächte, mit psychedelischen Flöten-Intermezzi und seltenen, überraschenden Blicken in den Sternenhimmel. Das ganze schien ein bisschen wie die abgrundtief schwarze Kehrseite von PORTISHEAD und Demian sang vom Meer und vom Ende der Welt wie ein indischer Heiliger. Mit dem via AORTA veröffentlichten dritten Album „Serpiente de Luna, Serpiente de Sol“ hatte Ô PARADIS dann halbwegs den Durchbruch innerhalb der Neofolkszene geschafft, wenn auch das Album durchaus nicht zu den interessantesten Werken des Projektes zählt. Aber „Serpiente...“ hatte immerhin etwas Feuriges, Erdiges im Blut. Das Album war deutlich ländlicher und kontinentaler als seine Vorgänger, mit leichtem Hang zu monumentalen und industriellen Ausbrüchen. Ein wenig so, als wäre Demian von langer Seereise aufs Land zurückgekehrt und würde sich dort richtig austoben und von vergangenen Abenteuern und den dualistischen Lebenskräften erzählen. Nach zwei magischen gemeinsamen Arbeiten mit NOVÝ SVĚT brachte der Wechsel zu PUNCH:-RECORDS zwei Jahre später ein gewagtes Experiment mit sich. „La Boca del Infierno“ war ein blutiger Höllentrip voller Poesie und Leidenschaft aus dem Mutterleib hinaus mitten unter die Grausamkeiten des Lebens und wieder zurück. Ein schwer verdaulicher Noise-Pop-Cocktail aus akustischen und elektronischen Elementen und verrückten asiatischen Soundcollagen, der bewies, wie sehr Ô PARADIS mit den Jahren an Progressivität und Unberechenbarkeit zugenommen hat. Nun liegt seit diesem Sommer mit „Cuando El Tiempo Sopla“ das fünfte Album vor, und es ist ohne Zweifel Demians großes Reifewerk geworden, das musikalisch viele Vergangenheiten hinter sich zurücklässt und auch emotional mehrere Schlussstriche zieht. Eigentlich müsste man einem solchen Album ein Publikum wünschen, das sich offenherzig zwischen PIANO MAGIC, MÚM und NURSE WITH WOUND bewegt, denn dort würde das Potential des Projektes nicht völlig unverbraucht verenden. Es geht darum, dass Ô PARADIS alle Möglichkeiten besitzt, neue und spannende Tendenzen in den aktuellen Independent-Pop einzuführen. Demians Musik ist heute eine moderne Art Psychedelic-Pop, nicht mehr ganz so radikal wie noch auf „La Boca del Infierno“, aber trotzdem experimentell genug, um nicht zu langweilen. Wie eingangs schon erwähnt, geht es auf diesem Album um das tickende Possenspiel der Zeit, in dem Demian traumtrunken das Lächerliche und die Nichtigkeiten entlarvt und auch zeigt, wie einfach, wie obligatorisch man sich darin verliert und wie schnell dann alles, sogar das eigene Leben groß und wichtig erscheinen will. Es ist die kleine menschliche Komödie, die zwischendurch viele Trauerspiele und Heldenepen kennt, Heucheleien und Aufrichtigkeiten. Es liegt alles so dicht beieinander und alles, was die einzelnen Akte voneinander trennt, ist das mahnende Schlagen der Turmuhr, das ungeduldige Weiterrücken des Zeigers, das enervierende Klingeln des Weckers, das aus den teilweise martialischen, teilweise nostalgischen Collagen hervorsticht. Die Lieder dazwischen duften wie seltene Blumen aus nächtlichen Gärten. Sie sind das entzückende Konzentrat aus Demians charakteristischen Cut-up-Rhythmen und Bassläufen mit gebrochenem Herzen, verwoben mit ein paar schwerwiegenden Celloverwundungen, Vinylknistern und tausend kleinen akustischen Narben, die Gitarren und Trompeten hinterlassen haben. Es tut weh, es sticht, es geht unter die Haut. Und dann dringt aus dem Dunkel eine unendlich wohltuende Stimme empor und legt sich wie Balsam auf die frischen Wunden. Man kann Ô PARADIS nicht hören, nur um so ein bisschen Musik zu hören. Man muss mit dem ganzen Herzen und allen Sinnen dabei sein, man muss viele Freuden und Schmerzen der Welt kennen und man muss naiv genug sein, um sie zu vergessen. O Freund, trinke für eine Stunde noch vom Weiß des Mondes. Du weißt nicht, was dir morgen geschieht. Es gibt Lieder auf „Cuando El Tiempo Sopla“, die können sich nicht entscheiden, welchen Weg sie einschlagen, ob sie Folk, Trip-Hop, Funk, Ambient oder Indietronica heißen wollen. Am Ende sind sie nichts von alledem, und gehören nur sich selbst, ganz und gar. Es gibt „Cuerda“, das einmal ein Schlager hätte werden können, wenn es nicht so verdammt traurig und schräg wäre. Es gibt „Guarida“, das nach zwei Minuten vom Pfad abkommt und in einer betrunkenen Zirkusmelodie zu Ende keucht. Es gibt „Sexo a la Luna“, das wie ein friedliches Gebet von schlafenden Städten erzählt, die in ihren Träumen sprechen und von Booten aus Papier auf den Flüssen der Zeit. Es gibt Textstellen, die einen vor Schönheit erstarren lassen - „wie die Zeiger einer Uhr wanderst Du im Kreis, und die Dinge um dich herum fliehen deinen abwesenden Blick“, oder: „in der Nacht ist sie (die Zeit) der Liebhaber des Todes und während des Tages dessen Widersacher“, letzteres rezitiert in dramatischem Italienisch von PUNCH:-RECORDS Chef TAIRY CERON. Es gibt endlich „Desnuda“, das nach der Hälfte des Lebens einen tiefen Tunnel durch Gelächter und Krach zurück in die Kindheit oder in eine verschwommene Illusion derselben gräbt. „Gib mir mein Leben zurück. Gib mir meine Jahre zurück.“ Mehr als in einem solchen Moment kann sich ein Künstler nicht ausziehen und nackt bis auf die letzten Fasern der Seele sein. Manche Bands brauchen zweiunddreißig Gastmusiker, um einen kleinen, ranzigen Tropfen Emotion aus ihrem Orchester zu pressen. Demianist ganz allein in seiner Musik. In einer anderen Ô PARADIS-Besprechung habe ich tatsächlich einmal geschrieben, es mache keinen Sinn mehr, an dieser Stelle weiter zu rezensieren. Nun, was soll ich sagen? Macht es noch Sinn? Vielleicht sollte ich in aller Nüchternheit noch loswerden, das „Cuando El Tiempo Sopla“ ein ungemein wichtiges Album ist. Wichtig für die musikalische Entwicklung von Ô PARADIS, wie für große Teile der Independentmusik an sich, auch wenn es momentan noch nicht auf diese Weise rezipiert wird. Das Album erscheint zudem in ungewöhnlich seriöser Jewelcase-Gestaltung, die abgedruckten Texte werden von wunderschönen und grandiosen Zeichnungen und Malereien von Demians Vater RICARD RECIO begleitet. Die 14 Stücke erschließen sich vor allem in den Details, in den kurz aufzuckenden Andeutungen, dass alles ohne Grenze ist. Ihr Vorteil ist auch, dass sie keinen Mustern, keinen Strukturen folgen. Alles wächst mit großer Natürlichkeit aus sich selbst heraus und findet kleine Verknüpfungen zwischen dem Staub der Gassen und dem Staub der Sterne. Wenn die Zeit des Albums verstrichen ist, wissen wir, dass die Zeit nicht wirklich ist, denn diese Lieder bleiben unvergänglich. „Cuando El Tiempo Sopla“ ist das Werk eines Menschen, der nur er selbst ist, ein Dichter auf den goldenen Spuren zwischen Himmel und Erde.
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Verweise zum Artikel:
» Ô Paradis
» Ô Paradis @ MySpace
» Punch:-Records
» Punch:-Records @ MySpace
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Zusammenfassung
Demians fünftes Album ist sein großes musikalisches wie emotionales Reifewerk, das man nur hören sollte, wenn man mit dem ganzen Herzen und allen Sinnen dabei ist. Poetisch und zeitlos. Das Werk eines Menschen, der nur er selbst ist, ein Dichter auf den goldenen Spuren zwischen Himmel und Erde.
Inhalt
6:30
Días
Cuerda
Guarida
14:45
Dejar de Correr
Tiempo
Olvido
Desnuda
Luz del Presente
Sexo a la Luna
Espacio
3:59
6:66 (H.W.)
50min
PUNCH 022 | Jewelcase + 16seitiges Beiheft
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