In dem NONPOP eigenen Forum wurde schon verschiedenenorts bemerkt, dass Musik, die besonders „krass“, „furchterregend“ oder „brutal“ wirken will, dieses Ziel, wenn überhaupt, nur für kurze Zeit erreicht. Hat man sich ersteinmal an die Klänge gewöhnt, setzt beim Hörer, zumindest dann, wenn er ein gewisses Alter erreicht hat, eine Art Gewöhnungseffekt ein. Ab da wirkt alles, was vorher vielleicht noch schockierte, irgendwie bemüht und unfreiwillig komisch, was also tun, wenn man als Künstler partout keinem „Fun-Projekt“ vorstehen möchte? Das Beste ist., einfach nicht so dick aufzutragen. Atmosphärisch nicht das Traurigste, Wütendste und Böseste von allen bieten, ist ja schließlich kein Wettbewerb, sondern eben versuchen, die realen negativen Gefühle umzusetzen, statt die fiktiven zu schauspielern. Das alte Mannheimer TESCO-Urgestein ANENZEPHALIA hält sich meistens daran, versucht aber auch, seinen Weg nihilistischer Tonkunst konsequent ans Limit und darüber hinaus zu führen. Bewundernswert – soviel kann ich als Fazit vorwegnehmen – ist dabei, dass sie es immer schaffen, den Gewöhnungseffekt und die Gefahr des Unfreiwillig Komischen zu umgehen. ANENZEPHALIA, das ist (mittlerweile allein) ein gewisser BRIGANT MOLOCH, der nunmehr auch zum festen Line-Up der Kollegen von GENOCIDE ORGAN (GO) zählt. Sowieso ist die Verwandtschaft zu diesem, ebenfalls aus Mannheim stammenden Vorreiterprojekt stark, den auch WILHELM HERICH (GO) unterstützt ANENZEPHALIA regelmäßig. Wie schon in meiner EX.ORDER-Rezension beschrieben, gehören auch ANENZEPHALIA zu den Gründungsprojekten eines international geehrten deutschen Power Electronics-Stil, der nicht so dieses WHITEHOUSE’sche Fiepen und Krakelen in den Vordergrund stellt, sondern eher tieftönend rumort, rhythmischer ist, mit verzerrten Stimmen und Samples arbeitet und auch Ambientflächen in das Gesamtklangbild integriert. Im Falle von ANENZEPHALIA sind diese Ambientflächen sogar besonders ausgeprägt und häufiger zu hören als massiver Kracheinsatz. ANENZEPHALIA sind somit weitaus mehr als ihre deutschen Kollegen stilistisch zwischen Ambient-Industrial und Power Electronics einzuordnen. Man kann sagen, sie nehmen sich besonders konsequent alte „Industrial Culture“-Klassikerstücke wie TGs „Hamburger Lady“ zum atmosphärischen Vorbild und versuchen, auf diesem „analog klingenden“ Ausgangspunkt aufbauend, variantenreich zu sein. Das gelingt natürlich kaum oder besser: Es gelingt im Rahmen der engen Vorgaben, denn ab einem gewissen „Extremgrad“ lassen sich Variantenreichtum und stilistisches „Krass Sein“ nicht mehr gemeinsam bewältigen. So hat sich bei ANENZEPHALIA zwischen der ersten 7“ Vinylsingle „Lyse“ 1991 (TESCO 003) und der letzten Verlautbarung „Weltgleichschaltung 2006“ auf einem japanischen Splitalbum mit den Kollegen von INADE und OPERATION CLEANSWEEP auch nicht so schrecklich viel verändert, und thematisch wird die Phantasie des Hörers auch nur leicht durch die Titel gefüttert. Das geht dann von „Induratio Penis Plastica“ bis hin zu „Illegal Survivors“. Ein etwas anderes Bild von ANENZEPHALIA bekommt bzw. hört man allerdings bei Liveaufnahmen und Konzerten, hier gehen sie mit nochmals deutlich gesteigerter Brutalität zu Werke. Die Aufnahme, die 2001 auf dem ehemaligen COLD MEAT INDUSTRY-Sublabel DEATH FACTORY auf CD veröffentlicht wurde, zeugt davon auf beeindruckende Weise. Für mich über alle Genres hinweg eine der unheilvollsten und brutalsten Veröffentlichungen aller Zeiten, weil sie eben partout auch nach Jahren nicht „lustig“ werden will, obwohl sie auch ihre seltenen komischen Momente hat, z.B. wenn der Herr Goebbels die Vorteile des „Volks/EMP/Fängers“ erklärt). TESCO haben nun das zweite ANENZEPHALIA-Album „Ephemeral Dawn“ wiederveröffentlicht, welches schon 1995 nur als CD in einer 750er-Auflage erschien. Sich für dieses Format zu entscheiden war damals für diesen Stil noch sehr ungewöhnlich, nur wenige Projekte wie z.B. WHITEHOUSE, INTRINSIC ACTION oder BRIGHTER DEATH NOW wählten diese Form der Veröffentlichung schon vorher. Im direkten Vergleich zum Vorgänger „Fragments Of Demise“, der 1993 über RRRECORDS erschien, ist „Ephemeral Dawn“ deutlich weniger mit Samples beladen, d.h. B/MOLOCH und die, die ihm damals halfen, konzentrieren sich mehr auf sich und setzen – wenn überhaupt – ihre grollenden oder verzerrten Stimmen ein, man versteht allerdings sowieso nichts. Alles in allem ist „Ephemeral Dawn“ eher zäh und bedrückend als wirklich aggressiv, die tief rumorenden Ambientanteile überwiegen. Um es deutlich zu sagen, wer irgendwie „Musik“ erwartet, für den ist das Album nichts: Melodie gibt es nicht, Tanzbarkeit auch nicht, es gibt auch nicht so etwas wie „lichtere Töne“, ganz zu schweigen von symphonischen Elementen, insofern kommt auch garantiert keine heroische Stimmung auf. Was das Album zu bieten hat, ist Folter in Form von Zahnarztbohrern, undefinierbar brummenden Maschinen, mal ein Schlagen auf Eisen, offene Gashähne, heranrollende Tonnen, distanzierte Stimmen und Monotonie. Die "some higher piercing frequencies", von der die TESCO-Werbung spricht, tauchen eigentlich nicht wirklich auf. Drei, vier Stücke darf man als rhythmisch bezeichnen, und sie könnten den Hörer zu einem sehr zaghaften, todesnahen Mitwippen verleiten – Das ist dann Entertainment der Sorte ANENZEPHALIA. Lediglich das Stück "Schockwelle: Krisis" fällt hier deutlich heraus, weil es Kopfkino in einem konkreteren Sinne präsentiert. Man hört auf diesem etwas, das tatsächlich als plätscherndes Wasser zu identifizieren wäre, dazu dann wieder die üblichen Maschinen und vielleicht den Atem eines verängstigten Menschen und vogelartige Geräusche (Möwen?). Das Booklet ist im Vergleich zur Erstauflage nicht verändert, aus dem Faltblatt wurden lediglich Bookletseiten zum Umblättern. SADDAM HUSSEIN ist zu sehen, darunter eine zynische Bemerkung zum sehr wechselhaften Verhältnis der USA zu diesem Tyrann, später folgt ein kleiner Einstimmungstext, der überhaupt nur nochmal klar machen soll, dass wir es hier mit "Nihilismus" zu tun haben, dass es weltpolitisch kein Vor- und kein Zurück gibt und wir verloren sind. Hallelujah! All das führt dazu, ANENZEPHALIA hier eher in destruktiv-"politischer Stimmung" zu rezipieren als beispielsweise in "perverser Penis-Plastica Gestimmtheit", aber genauer weiß man es ja nicht. ANENZEPHALIA sind in allem, egal ob "Rape" oder "Terror" nochmal viel dezenter als die direkten Genre-Kollegen, national und international. Ist das Ganze nun gut? Als Antwort muss mindestens eine Respektbekundung her, ANENZEPHALIA schafften es hier tatsächlich, jene bestimmte "Hamburger-Lady"-Stimmung noch einmal weiter zu dehnen und sie an ihr vermutliches Ende und darüber hinaus zu führen, ohne irgendwann unfreiwillig lustig zu werden, vielmehr zeigen sie eine andere Konsequenz. Richtig „krasse Musik“ muss nämlich nicht immer nur irgendwann zum Lachen reizen, sie kann auch in unerträgliche Langweile münden. ANENZEPHALIA sind zwar nie im eigentlichen Sinne langweilig, das Gebotene ist vielschichtig, man kann sich drin verlieren und „Neues“ entdecken, aber atmosphärisch ist das alles schon so unsagbar vernichtend und zäh, dass man sich dem als Hörer selten freiwillig in konzentrierter Form aussetzen möchte. ANENZEPHALIA sind eine Wegmarke der letzten Ausläufer der „Industrial Culture“ und von der Konsequenz in meinen Augen eigentlich bedeutsamer als GENOCIDE ORGAN & Co. „Emepheral Dawn“ darf man zu den Klassikern des 90er Jahre-„(Post)Industrials“ zählen. Letztendlich ist bei diesem Stil die Differenzierung eh schwierig. Mal erwischt man sich dabei, dass man EX.ORDER für besonders gelungen hält, dann wieder ANENZEPHALIA, schlussendlich muss man auch die Italiener auf der Rechnung haben, die mir Projekten wie ATRAX MORGUE und MAUTHAUSEN ORCHESTRA jene absolute Vernichtungsatmosphäre auch sehr weit erforscht hatten, zu vergessen auch nicht die ganze BROKEN FLAG-Mannschaft (die allerdings meistens zu comichaft waren, um sie dazuzuzählen). Ein paar Alben dieser Art sollte man jedenfalls kennen.
Dominik T. für nonpop.de
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Zusammenfassung
ANENZEPHALIA sind Mitbegründer der deutschen Power Electronics-Szene und ein TESCO-Urgestein.
Wiederveröffentlichung des 1995er Albums. Mischung aus rhythmischen Power Electronics und ambienten Versatzstücken, sehr extrem und nicht lustig, ein wichtiges Album für den... Inhalt
Tracklisting:
1. Beneath The Shroud (5:02) 2. Regime (4:57) 3. Kachexie (4:11) 4. Infernal Wake (7:24) 5. Thaum (4:49) 6. Abiding Broadcast Contamination (5:34) 7. Genealogy Of Disease (5:54) 8. Liebombast (5:11) 9. Schockwelle: Krisis (7:24) 10. Ultra Fear Perception (5:16) 11. Coroners Eyes (Global Obsequies) (8:23) Tracks 1, 2 and 8 recorded at Kriszthell. Tracks 3, 4, 6 and 9 recorded live at Drais Sanatory. Track 5 recorded live at Rhenania Club. Tracks 7 and 10 recorded live at 4th Floor Institute. Track 11 recorded live at Rottchamber. All tracks recorded between 1992 and 1995. 10-Seiten Booklet mit Schwarz/Weiß-Bildern - Kruzifixe, Saddam Hussein auf Sendung, Selbstanzündung eines Menschen (schemenhaft) |
Ist doch schö, dass unser Forum-Geschreibsel zu höherem inspirieren kann - guter text, gern gelesen.