Den Begriff 'Datenfolk' aus der Überschrift habe ich irgendwo einmal gelesen im Zusammenhang mit
KAMMERFLIMMER KOLLEKTIEF. Mit anderen Worten: Ich habe ihn geklaut, weil er mir für die zu beschreibende Musik gut gefiel. Außerdem enthebt er mich eines Problems, das sich immer stellt bei Artikeln über KAMMERFLIMMER KOLLEKTIEF: wo genau anfangen?? Die meisten KAMMERFLIMMER-Rezensionen versuchen zunächst, die Musik in die Nähe eines Genres zu packen, was misslingen muss. Denn die (mindestens) dreiköpfige Band aus Karlsruhe im Südwesten von Deutschland macht keinen Jazz. Sie macht auch keine Ambient- oder gar Dark Ambient-Platten, keine Avantgarde-Musik, sondern irgend etwas dazwischen, manchmal vielleicht sogar alles zusammen. Auf 'Jinx', der sechsten Veröffentlichung, kommen sogar noch ein paar neue Genres hinzu, zwischen die sich das Kollektiv setzt, Country zum Beispiel, durch den dezenten Einsatz einer Steel Guitar. Ähnlich ist es mit den Musikern, mit denen
KAMMERFLIMMER KOLLEKTIEF verglichen wird. 'Alte Hasen' nennen gerne ROBERT WYATT, den Mitbegründer von SOFT MACHINE, und natürlich JOHN CALE, TOM WAITS oder PENTANGLE. Mir fallen zum Beispiel die deutsche Countryband FINK ein, BOHREN UND DER CLUB OF GORE und ab und zu BRIAN ENO oder LAURIE ANDERSON. Aber es ist dasselbe wie mit den Genres: Das KOLLEKTIEF bewegt sich wie im Slalom elegant um die meisten Vergleiche herum. Allein dafür muss man die Band schon mögen, denn wie viele Musiker dürfen von sich sagen, dass sie einen unverwechselbaren Stil entwickelt haben?
Nun also 'Jinx', in der Kernbesetzung HEIKE AUMÜLLER (Harmonium, Gesang, Synthesizer), JOHANNES FRISCH (Bass, Perkussion) und THOMAS WEBER (Gitarre, Elektronik, Klavier), die sich nach den vielen Auftritten der letzten Jahre herausgebildet hat. Unterstützt werden die drei von namhaften, klassisch ausgebildeten Musikern wie
HARALD KIMMIG (Geige) und
MARTIN SIEWERT (Gitarre). 'Jinx' ist ein Wendehals, ein Vogel, der seinen Hals um fast 180 Grad drehen kann, um Feinde zu irritieren. Man sagt ihm deshalb Hexenkräfte nach, und 'to put a jinx on someone' bedeutet so viel wie 'verfluchen'. Vielleicht darf ich das einfach mit 'verzaubern' übersetzen, denn dann passt es wieder zur Platte. Schon die ersten Töne (ist es ein Vibraphon?) von 'Palimpsest' versetzen in Trance. Der Song reiht sich ein in die Handvoll von Liedern, die tatsächlich dazu taugen, eine Nacht allein mit einer Flasche Rotwein und Musik zu verbringen, so gelassen und melancholisch harmonieren die Gitarren, die Geige, der tiefste der tiefen Bässe und das, was ich für ein Vibraphon halte. Dazu weint die Country-Steelgitarre, und dazwischen fährt ein wenig Dark Ambient-Elektronik, die die Geigenmelodie allerdings nur zerhackt, um die anschließende Harmonie noch deutlicher zu betonen. Eine ebenso perfekte Einheit sind der Perkussionrhythmus und die abgehackten Silbenfetzen von HEIKE AUMÜLLER im Titeltrack 'Jinx', der unmerklich anschwillt, Instrument um Instrument bereichert wird und mit der immer bedrohlicher werdenden Silben-Beatbox AUMÜLLER fast in einer Kakophonie endet, um sich gerade noch rechtzeitig wieder zu beruhigen. 'Live At The Cactus Tree Motel' (das es irgendwo in British Columbia tatsächlich gibt) ist eine minimalistische Countryballade für eine schummerige Bar, die nachts um 4 Uhr noch geöffnet hat, mit Piano, Steel Guitar und einem Hauch von Synthesizer, aber - und das ist eines der Markenzeichen von KAMMERFLIMMER KOLLEKTIEF - nie kitschig. 'Gammler, Zen & Hohe Berge' (wie das gleichnamige Buch von KEROUAC, einem der Autoren der sogenannten Beat-Generation) ist ein klassisches Ambientstück mit einigen Raffinessen und einer 'Buddha Machine', die so klingt wie der C64-Soundtrack zu 'The Last Ninja'. 'Both Eyes Tight Shut' (ein Zitat aus dem DYLAN-Song 'Workingman's Blues #2') beginnt wie eine PINK FLOYD-Ballade, zu der HEIKE AUMÜLLER noch einmal beweist, dass sie über ähnliche 'human beat box'-Qualitäten verfügt wie TOM WAITS. A propos: Dessen Stimme könnte während 'Jinx (Version)', Track 6, jederzeit einsetzen, um mit der Musik von KAMMERFLIMMER KOLLEKTIEF eine seiner besten Balladen zu schaffen. Um die zwei Minuten und 26 Sekunden von Track 7 würde sich ob seiner Traurigkeit jede Düsterband reißen. Und der längste und letzte Titel (8), 'Subnarkotisch', ist das erste Industrial-Stück der Welt (um mal ein bisschen zu übertreiben), das zum großen Teil mit akustischen Instrumenten eingespielt wurde; ein Anflug von Chaos aus dem Orchestergraben und eigentlich das typischste
KAMMERFLIMMER-Stück auf der neuen CD.
Dass diese Beschreibung von 'Jinx' leicht gestückelt klingt, liegt allein an der Unzulänglichkeit meiner Sprache. Es ist das größte und wichtigste Geheimnis von KAMMERFLIMMER KOLLEKTIEF, dass ihre Platten immer ein Ganzes ergeben, wie unterschiedlich auch die eingesetzten Mittel und Referenzen der Songs sind. So lebendig, aber auch so harmonisch wie ein riesiger Zoo (inklusive Wendehals). Das gilt insbesondere für 'Jinx', eine abgeklärte CD, die eben trotz aller Vielfalt eine aus einem Guss eingespielte Stimmung ist. Daneben wirken die Vorgängeralben, selbst die gelobten 'Absencen' oder 'Cicadidae', irgendwie unfertig und rau, so als hätte die Band lange Jahre - auf hohem Niveau - geübt und geübt, bis die Songs von 'Jinx' aus ihren Instrumenten herauspurzelten. Neue Richtungen (Country) und Ideen (Silben-Beat) werden ausprobiert, trotzdem ist die CD unaufgeregter, weniger improvisiert, weniger flirrend-jazzig als die letzten Veröffentlichungen. Alles ist so gewollt und gekonnt. 'Jinx' ist für mich eines der besten Alben mit 'moderner' Instrumentalmusik, irgendwo zwischen Jazz und Ambient. Man sollte es besitzen, allein um mitreden zu können. Dazu kommt noch - wie von
KAMMERFLIMMER KOLLEKTIEF gewohnt - Coverkunst, die den Namen verdient hat. Deshalb endet diese Rezension ausnahmsweise mit einer uneingeschränkten Kaufempfehlung. Kaufen!
Vielen Dank fuer diesen Artikel. Ohne diesen waere ich wohl nie ueber die Genialitaet dieser Band gestolpert. Werde mir die Truppe im Juli in Berlin defintiv live ansehen.