Was ist bloß mit der italienischen Neofolk-Szene los? Gemeint ist jener Teil, der sich um ALBIN JULIUS’ (DER BLUTHARSCH)-Label HAU RUCK! scharte und den man kurz und bündig, um die Extraportion „Abenteuer“, „Anarchie“, "Virilität", aber auch jene clownesken Dilletanten-Atmosphäre auf den Punkt zu bringen, „Piraten Folk“ nennen könnte, Die Urväter jenes Piraten-Folks, AIN SOPH, sind aufgelöst, ebenso ihre Groupie-Band CALLE DELLA MORTE, um INNER GLORY ist es auch verdächtig still (Gibt es die überhaupt noch?) und SPIRITUAL FRONT übersetzten den ewigen Meilenstein „Aurora“ (von AIN SOPH) in kommerziellen, aber auch aalglatten Folk-Schlager, dem jeder Geist abhanden gekommen ist. Krise? Vielleicht ein bisschen, aber es besteht Hoffnung, bei HAU RUCK! in Gestalt der sardinisch-österreichischen Co-Produktion VARUNNA, die nach der Siebenzoll „Fuoco“ und der Split-Zehnzöller mit FORESTA DI FERRO (alle auf HAURUCK!) nun ihre erste Vollzeit-CD namens „Cantos“ vorlegen. Der Duce des Projekts ist ein junger, Uniform-tragender ALESSIO B. und die beiden Österreicher, die ihn hier als auch live unterstützen sind JÖRG B. (GRAUMAHD, DER BLUTHARSCH, AMESTIGON etc.) an der Gitarre und ALBIN JULIUS (DER BLUTHARSCH) höchstpersönlich, der trommelt und als Produzent fungiert. Behält man dies im Blick, ist es nicht weiter verwunderlich, dass VARUNNA ästhetisch, aber auch musikalisch relativ eng an den neueren DER BLUTHARSCH angelehnt sind, gesamtkonzeptionell ist es aber auch kein Fehler, VARUNNA in einem Atemzug mit MARCO DEPLANOs FORESTA DI FERRO-Projekt zu nennen, und im erweiterten ästhetischen Umfeld könnte man dann so etwas wie LUFTWAFFE platzieren. So abgesteckt klingt das ersteinmal nicht so bahnbrechend interessant, und Tatsache, der absolute Oberknaller sind VARUNNA auch nicht, dennoch wagen sie ein Stilmix, dem sich alle vorher genannten Projekte so nicht bedienen. Zusammen mit dem in der italienischen Neofolkszene sattsam bekannten, aber meist auch leidenschaftlich und glaubhaft umgesetzten Anarcho-Gestus, der aber immer auch ein bisschen gen Fiume schielt, entsteht dadurch auf „Cantos“ eine originelle Mischung, die man zumindest in diesem Sommer 2007 noch häufiger wird genießen können. „Sommer“ ist dann auch gleich ein gutes Stichwort, VARUNNA ist so Musik, zu der Soldaten vielleicht mal ein Eis schlecken oder einfach etwas im Schatten dösen. Das Bajonett und die Kopfbedeckung werden also zur Seite gelegt und der Hemdkragen gelockert, will sagen VARUNNA klingen manchmal etwas nach „DER BLUTHARSCH light“, obgleich ja schon DER BLUTHARSCH selbst auch nicht gerade (oder nicht mehr) einen „Stock im Arsch“ haben. Vor allem aber wird bei VARUNNA gerockt und zwar mehr oder weniger „unplugged“ auf akustischen Instrumenten, nebst gelegentlichen und gelungen spontan wirkenden Gitarrensoli. „Cantos“ ist dennoch ziemlich wenig folkig, eher ist es eine Art rhythmischer Country-Rock mit nicht zu überhörenden Einflüssen aus dem psychedelischem Postrock-Bereich und einer kleinen Brise Ska und Oi-Punk. Sänger ALESSIO B. klingt etwas besoffen nach ADRIANO CELENTANO und man kann vermuten, dass dieser Komödiant auch insgesamt einen wichtigen Einfluss auf das Projekt ausübt. ALESSIO B. singt nur leider oft etwas eintönig, formal ist es ein italienischer, tiefer Gröhlgesang, aber oft fehlt ein wenig Schmackes und Leidenschaft. Die Gitarrenarbeit hingegen ist gelungen, wie JÖRG B. selbst anmerkt: "so virtuos hab ich noch nie gespielt." Beim Hören meint man an einigen Stellen Passagen zu hören, die man so allgemein aus der psychedelischen Rockmusik zu kennen glaubt, aber es gibt auch ansatzweise so ebenfalls bekannte, selbstverlorene Postrock-Momente. Etwas verwirrt hat mich die Gesamtatmosphäre des Albums, die ist nämlich anders als man bisher vermuten konnte, eher selten ausladend-angrifflustig, sondern erstaunlich introvertiert. Schuld daran ist wohl die Produktion, das ganze Album klingt etwas dumpf, um nicht zu sagen valiumbetäubt und der VARUNNA-Country-Rock dadurch etwas abwesend. Vermutlich war das keine Absicht, die Musiker hatten bestimmt eher vor Augen, den Neofolkern mal zu zeigen, was für Sponti-Rocker sie eigentlich sind und das Ergebnis ist nun irgendwie etwas mit streckenweise schon Trance-artigen Shoegazer-Qualitäten. Nun, macht eigentlich nichts, das Spontane kommt weiterhin gut rüber, vor allem das Laune hebende „Redipuglia“, auf dem begleitend gepfiffen wird als befände man sich in einer TERENCE HILL/BUD SPENCER-Italo-Western-Komödie und „Noi Senza Voi“, mit Abstand der (dann doch) druckvollste und Oi-lastigste Song des Albums. Sehr gelungen auch das frivole „Polvere“, der einen ein bisschen in alte NOVY SVET-Zeiten zurückholt und sich zu einem Stimmungshit entwickeln könnte. Abgeschlossen wird das Album mit dem eingängigen „Europa!“, wohl ein Tribut an die „eurozentristische“ Tradition, begründet von solchen Größen wie eben DEATH IN JUNE, SOL INVICTUS oder THE STRANGLERS. Das ist was zum Mitsingen! Überhaupt die Lyrics, die sind zwar im rätselhaften Booklet nur in Fetzen abgedruckt, aber es scheint sich viel um die „bleierne Zeit“ Italiens zu drehen, der Zeit also Ende und Mitte der Siebziger, in der sich systemoppositionelle Kräfte von „links“ und „rechts“ gegenseitig die Köpfe einschlugen und von der es heißt, dass der italienische Militärgeheimdienst SIMSI und die CIA oft blutig ihre Finger im Spiel hatten, um in einer „Strategie der Spannung“ eben die Opposition gegeneinander aufzuhetzen, während ein radikaler Schüler JULIUS EVOLAs, GIORGIO FREDA, in dieser Zeit seine Programmschrift bzw. sein Bündnisangebot an die radikale Linke „La Disintegrazione Del Sistema“ verfasste. Die Schrift kann man getrost als den auch international gesehen ambitioniertesten Versuch der Herstellung einer Querfront betrachten. WERTHAM bzw. FORESTA DI FERRO beschäftigten sich bereits damit und erst letzte Woche wurde der zumindest angebliche Attentäter des Bombenattentats von Bologna 1980, bei dem 85 Menschen starben, in letzter Instanz zu 30 Jahren Haft verurteilt. Dem Umfeld des Attentäters widmeten MICHAEL MOYNIHAN (BLOOD AXIS) und MARCO DEPLANO (FORESTA DI FERRO) in „Apocalypse Culture II“ eine kleine Untersuchung. Dies also der erweiterte Kontext. Fazit: Psychedelischer Country-Rock im DER BLUTHARSCH-Stil, der (allerdings nicht nur) ein düsteres Kapitel der jüngsten Geschichte Italiens als Inspiration dient, das ist an sich schon ein Lob wert. Streckenweise ist die Musik jedoch etwas lahm, aber zumindest vier, fünf Stücke haben ein beschwingtes Flair und machen großen Spaß. Vermisst habe ich ein paar "kriegerische" Samples, wenigstens ein kleines Sirenchen, denn noch auf der VARUNNA 7" "Fuoco" wurde soetwas noch kunstvoll hinter den Neoolk gemischt, aber diese 7" war eh konventioneller als nun "Cantos". Ein gutes Sommeralbum und Pflicht für Fans der jüngeren DER BLUTHARSCH.!
Dominik T. für nonpop.de
Verweise zum Artikel: » VARUNNA Themenbezogene Artikel: » VARUNNA: Ferro E Ruggine
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Zusammenfassung
Psychedelischer Country-Rock im DER BLUTHARSCH-Stil. Streckenweise ist die Musik jedoch etwas lahm, aber zumindest vier, fünf Stücke haben ein beschwingtes Flair und machen großen Spaß. Ein gutes Sommeralbum und Pflicht für Fans der jüngeren DER BLUTHARSCH!
Inhalt
1. Terra
2. Redipuglia 3. Ichnusa 4. Mala e il mare 5. Noi senza voi 6. Mala 7. Piombo '70 8. Polvere 9. Stele 10. Europa! Digipack mit einem rätselhaften, eher halbgelungenen 10-seitigen Booklet. |