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Roy L.
AIT!: Romanticismo Oltranzista
Kiss Kiss Bang Bang
Kategorie: Rezension
Erstellt: 29.03.2007
Wörter: 756
Artikelbewertung:
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Ein schwüles, dunkelrotes Scheinwerferlicht weidet auf dem Parkettboden, der einst „Post-Industrial“ hieß und heute nicht mehr anfällig für Namen ist. Es ist das Album „Romanticismo Oltranzista“, das eine gänzlich neue Realität exhibitionistischen Entertainments erfindet und exzessiver Schritte Bühnenbild für Bühnenbild durchwandert – abgedunkelte Hotelzimmer in den späten Siebzigern, zwielichtige Diskotheken nämlichen Zeitalters, verlassene Theater, Fetischklubs, Szenen italienischer Splatterpornos. Knappe drei Jahre bereitete der Chef des Hauses PUNCH:-RECORDS diese schillernd bizarre Show vor – eine Zeit, in der sich bei AIT! so langsam Reife und Erfahrung durchsetzten. Der Titel „Romanticismo Oltranzista“ bedeutet vage „Romantik-Extremist“ und weist auf eine Kontrastformel hin, die sich dem Wort nach politisch, ästhetisch, moralisch und erotisch interpretieren lässt. Wer mit dem Kosmos von PUNCH:-RECORDS ein wenig vertraut ist, wird wissen, dass hierbei alles und nichts davon in Frage kommt. Im Vordergrund steht das mit wilder Ausgelassenheit und ohne Regeln zelebrierte Spiel mit den Extremen, mit der Dynamik der Gegensätze, mit der Verschmelzung lasziver Frauenstimmen und giftiger Nazisamples, um es ganz kurz zu fassen. Das war bei AIT! im Grunde immer so. Inzwischen ist das Spiel jedoch ernster geworden, tiefgründiger, persönlicher und reflektierter. Von Samples und überschwänglich provokativen Referenzen fehlt nun jede Spur, das Album wirkt geradezu autopoetisch. In den Texten und der Musik steckt viel, ja vermutlich alles vom Duktus ihres Verfassers, der sich mit seinen Projekten ein Refugium schuf, in dem der Geist der 70er immer noch als eine Art Gegenkonzept zu einer „mondo morto“, einer toten Welt gestellt wird. Mit leicht nihilistischer Pose holt das ganze zu einem alles offenbarenden Striptease aus. Von seinem transparenten Schützengraben aus nimmt der extremistische Romantiker dann jegliche beweglichen Ziele unter Beschuss. Dieses Artilleriefeuer verrennt sich dennoch nicht in überschäumende Aggressivität, sondern ist mehr oder weniger in einen glanzvollen Showrahmen eingeflochten, der sich reichlich aus der Tradition obskurer und etablierter italienischer Unterhaltungskunst bedient. Das Ausmaß der Emotionen ist immens, Tränen des Jubels und bitterer Einsamkeit fließen, harte Worte fallen, Körpersäfte werden getauscht. Kaum einer kommt ungeschoren davon: Gott, die Gesellschaft und ihre Moralapostel und nicht zuletzt die Damenwelt haben es auf „Romanticismo Oltranzista“ nicht eben leicht. Einfacher fällt jedoch der musikalische Zugang: sonore Fanfaren geleiten den Hörer von Anfang an durch einen eleganten Zirkus von Freaks und lauten Performances. Der Entertainmentzauber wird mit inbrünstiger Leidenschaft und preziöser Raffinesse beschworen und die Szenerie wirkt insgesamt glamourös und glitzernd ausgeleuchtet. An sich kennen die zehn Stücke stilistisch keinen festen, eindeutigen Herkunftsort, außer dass sie sämtlich offensichtliche 70er Bezüge aufweisen. Geschüttelt werden auf „Romanticismo Oltranzista“ nicht nur Martinis sondern auch eine Reihe orchestraler Kaleidoskope. Schaut man hinterher rein, zeigt sich nahezu eine italienische Solovariante von ROXY MUSIC, die sich in der Instrumentierung etwas verirrt hat und auf dem Weg durch bedrückend düstere Fabrikanlagen herbe Verletzungen hinnehmen muss, selbst aber auch ein paar brutale Faustschläge austeilt. Das ist wie immer nur die halbe Wahrheit und selbst die eigenartige Hybridbezeichnung Lounge-Rock reicht kaum aus, um die alternierenden Stimmungen des Albums gehaltvoll einfangen zu können. Grandios inszenierte Schlager rollen wuchtig über die Bühnen nobler Theaterhäuser hinweg, die introspektiveren Nummern baden sich eher im nächtlichen Dämmerschein anrüchiger Etablissements. Das ganze Orchester ist auf einen Rhythmus ausgerichtet, der zwischen zischenden Peitschenhieben und heroischen Schlagzeugorgasmen variiert. Dezente, unterschwellige Noiseteppiche („Tempo Morto“), klaustrophobische NEUBAUTENkeller („Dio“), rasante Psychobillyjagden („Il Mondo E' Morto“) und böse Retrobeat-Rock'n'Roll-Explosionen („Una Dedica“) sind allesamt Teil einer großen, emotionsgeladenen Variétévorstellung, die sich an ein Publikum mit Stil und distinguiertem Geschmack richtet. In den glanzvollsten Momenten beschwört ein episch angelegtes Instrumental in schwerwiegender GOBLIN-Tradition den alten Ruhm italienischer Horrorfilmsoundtracks und die Neuaufnahme des Klassikers „Donna“ evoziert einen würzigen Schuss NOVÝ SVET-artiger Genialität im Gewand perverser Downtempo-Folklore. Wer bei der meisterhaften „Bulli E Pupe“-Doppelsingle seiner Zeit Herzrasen und feuchte Unterwäsche bekam, wird „Romanticismo Oltranzista“ schnell in sein Herz schließen können, obwohl gesagt sein muss, dass Tairy eher den gutgekleideten Dandy als kriminellen Straßenjungen spielt. Das dritte AIT!-Album ist endlich das ausgereifte, erwachsene Spiegelkabinett seines Schöpfers, auf das PUNCH:-RECORDS von Anfang an hinarbeitete. „Romanticismo Oltranzista“ und Tairy sind bis an die äußersten Grenzen miteinander identisch. Es ist ein Werk, dessen Gesamtkompostion aus Musik, Text und Gestaltung von 70er Allusionen durchzogen den bekannten Kontrapost von destruktiver Energie und sexueller Eleganz bis zum Kernpunkt auslotet. Es ist das Manifest eines Einzelnen, geboren aus monomanischen Obsessionen und exhibitionistischem Solipsismus. Wie es das echte Showgeschäft einst vermochte, inszeniert und illustriert es eine unzeitgemäße Traumwelt, ein Hotelzimmer in postpsychedelischem Design. Ein Ort voller Vinylknistern, ein Ort an dem die Welt noch lebendig ist und Tairy tanzt und tanzt und tanzt...
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Verweise zum Artikel:
» AIT!
» AIT! @ MySpace
» Punch:-Records
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Zusammenfassung
Mit seinem dritten Album intoniert AIT! eine Wiedergeburt der glitzernden 70er und kleidet deren Lounge, Rock'n'Roll und Horrorsoundtracks in dunkle, elegante Seide. Grandios orchestriert und stilvoll in Szene gesetzt ufert das Album zu einer Ein-Mann-Show für Erwachsene aus. A punch of its own!
Inhalt
Uno Spettacolo Adulto
Io Ballo Da Solo
Tempo Morto
La Libera E Democratica Società Moderna
Le Tue Labbra Grigio-Blu
Dio
Una Fantasia Strumentale
Il Mondo E' Morto (Trent'anni Fà)
Una Dedica
Donna (Re-Recorded 2007)
43min
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