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J. Jóhannsson: IBM 140 A user's manual

Musik aus dem hohen Norden


J. Jóhannsson: IBM 140 A user's manual
Genre: Neo - Klassik
Wörter: 1079
Vertrieb: 4AD
Erscheinungsdatum:
Oktober 2006
Medium: CD
Preis: ~17,00 €
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Es ist sicherlich unumstritten, dass die isländische (non-)populäre Musik bis zum heutigen Tag zu den geheimnisvollsten und faszinierendsten Erscheinungen gehört. Ebenso wird die künstlerische Umtriebigkeit dieses Nordvolkes zu oft unterschätzt, sieht man einmal von der zur Hollywood-Diva verkommen Größe BJÖRK ab. Doch ob man es glaubt oder nicht, trotz der gerade einmal dreihunderttausend Köpfe zählenden Einwohnerzahl blühen in Island seit etlichen Jahren die kreativen Künste, welche längst schon die Grenzen des Gletscher- und Geysir-Landes überschritten haben und wenigstens stoßweise Einzug in die restliche Welt halten und Nichtisländer vom isländischen Charme kosten lassen. Insbesondere die Hauptstadt Reykjavik kann eine enorme Künstlerkonzentration aufweisen, was bei gerade einmal knapp 120000 Einwohnern zwar gering wirken mag, europaweit aber einmalig sein dürfte. Überhaupt gilt das isländische Volk als eines der kunstgierigsten auf der Welt. Nirgendwo sonst findet man (im Verhältnis) so viele Bibliotheken und Leseratten wie dort, wo Mensch und Natur bis zum heutigen Tag einen eisernen Kampf führen. Ein Kampf, welcher die Bewohner Islands von Beginn an prägte und  zusammenschweißte. Ein Gemeinschaftsgefühl also, welches in anderen Ländern Europas absolut undenkbar ist.

Doch vom Kampf mit der Natur zurück zur kreativen Ader der Isländer, wenngleich diese nicht unwesentlich vom Einfluss der Urgewalten geprägt ist. Weitaus bedeutender als die musikalische Geschichte Islands ist die literarische, welche einen Großteil der Kultur dieses Landes ausmacht. Man denke hier an die Werke der nordischen Mythologie beginnend im 9. Jahrhundert mit der SKALDENDICHTUNG, welche als früheste europäische Kunstlyrik gilt, und die ebenso wichtige zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert von SNORRI STURLUSON niedergeschriebene Prosa-Edda. Auch in der modernen Literatur finden sich einige Glanzlichter des Nordens, man denke an  HALLDÓR LAXNESS (bürgerlich: HALLDÓR GUDJÓNSSON, Literaturnobelpreis 1955) oder an den Schriftsteller ARNALDUR INDRIÁSON, welcher in den letzten Jahren einige Bestseller-Werke publizierte, welche auch in Deutschland erfolgreich waren. Soviel im Groben zur Gewichtung und Dominanz der Literatur für den isländischen Kulturraum.

Wie bereits erwähnt, erst in den letzten Jahren gelang es der Musik, sich über die Grenzen Islands hinaus einen Namen zu machen, wobei es neben der hier bereits erwähnten BJÖRK (Vorgängername: KUKL) und dem bisher als am erfolgreichsten geltenden Musiker SIGUR RÓS in Island Musikbands, Projekte und Stilistiken/Genres wie Sand am Meer gibt. Bereits vorgestellt wurden bisher BARDI JOHANNSON alias BANG GANG  (Nebenprojekt: HAXAN), die isländisch-italienischstämmige EMILIANA TORRINI und natürlich das phantastische Projekt MÚM. Ebenso sollten an dieser Stelle ausgewählte Bands wie BRÚDRÝGINDI (Punk/Hardcore), Dr. GUNNI (Sesamstraßen Pop), PORNOPOP (Rock/Ambient), SEABEAR (FOLKLORE) oder das APPARAT ORGAN QUARTET (Psychedelic, Jòhannsson war da übrigens Mitglied) wenigstens namentlich erwähnt werden, weil diese auch außerhalb Islands bereits Erfolge verbuchen konnten und einen kleinen Teil des musikalischen Spektrums belegen. Für den Leser weitaus wichtiger bzw. interessanter dürfte HILMAR ÖRN HILMARSON sein, welcher neben seinen neoklassischen Kompositionen bei The ARYAN AQUARIANS und PSYCHIC TV mitwirkte und gemeinsam mit DAVID TIBET/CURRENT 93 die Scheibe „ISLAND HÖH“ (Durtro 1991) aufnahm bzw. sich für deren musikalische Arrangements hauptsächlich verantwortlich zeigte. Ebenso war er der Soundtrack-Komponist des phantastischen Films „Börn Náttúrunna“ („Children of Nature“) und arbeitete gemeinsam mit dem Post-Rocker SIGUR RÓS am Soundtrack „Englar Alheimsins“ („Angels of the Universe“). Nebenbei ist er Hohepriester der isländischen Asatrugemeinde, welche seit 1972 staatlich anerkannt ist (siehe hierzu auch das Interview in ZINNOBER Ausgabe 7). Von RÓS und HILMARSON ist es nun ein kleiner Schritt zu JÓHANN JÓHANNSSON, einem Solokünstler, der erstmals im Jahre 2002 mit seinem Debüt „Englabörn“ für Aufsehen sorgte und sich damals bereits neben den beiden großen Vertretern einreihen konnte. Außerdem arbeitet er als Produzent für MARC ALMOND und PANSONIC...Doch nun zur CD:

Musikalisch ist sein Stil dem von HILMARSON oder HAXAN nicht unähnlich, war das Debütalbum bereits eine gekonnte Mixtur aus Neoklassik und Ambient Musik, teils synthetisch, teils handgemacht. Im Oktober letzten Jahres veröffentlichte er das Album mit dem ungewöhnlichen Namen „IBM 1401, A User’s Manual“, welcher nicht von ungefähr kommt: 1971 erzeugten drei Isländer (JÓHANN GUNNARSON, ÖRN KALDALÓNS und ELIAS DAVIDSSON) in Reykjavik Klänge auf diesem Rechner mit Hilfe eines frühen virtuellen Instruments mit Namen HAMMOND B3 ORGAN (mit verschiedenen Ringmodulatoren, Verzerrungen (Distortions) und Filterpedalen). Teile dieser inzwischen 35 Jahre alten Aufnahmen „verwertete“ JÓHANNSSON bei den Stücken „Card Read-Punch“ und „Printer“, wobei die Klänge von Sprechpassagen eines unbekannten Instruktors aus dem Jahre 1971 begleitet werden. Diese unbekannte Stimme gab auf einem Tape ursprünglich Anweisungen für den Umgang mit dem alten IBM System.  Die restlichen Arrangements und Aufnahmen entstanden zwischen 2003 und 2006 in verschiedenen europäischen Städten, unter anderem Skálholt, Florenz, Madrid und Zürich. Das Ergebnis der gesamten Prozedur kann sich durchaus sehen lassen, denn entstanden ist ein knapp 43 Minuten langes Werk verschiedenster Stimmungen und Emotionen. Während die gesampelten Soundfragmente aus dem Siebzigern durchaus Dark Ambient-lastige  Züge aufweisen und nicht ganz unbedrohlich wirken (sieht man einmal ab davon, dass der Sprecher IBM System-Bedienungsinstruktionen im Jahre 1971 gibt, aber das ist mutmaßlich isländischer Humor), zeigen sich die anderen Musikstücke gewohnt neoklassisch und führen die bisher bekannten JÓHANNSSON- Kompositionen kontinuierlich weiter. Musik mit Seele, mal sinnlich und fast schon spirituell, dann wieder dramatisch und ungestüm: Piano, Streicher, Orchester, dezente Chöre und Stimmeinsätze. Die neoklassischen Passagen (teilweise eingespielt vom Prager Philharmonieorchester) werden aber immer wieder von teilweise kaum hörbaren Eruptionen und Geräuschen begleitet, manchmal aber auch durchbrochen und  regelrecht erschüttert, ohne dabei aber die Gesamtatmosphäre zu zerstören oder nur zu unterbrechen. Trotz der vielen Brüche, Schwingungen und Klangwechsel bleibt eine übergeordnete Stimmigkeit des Albums als Ganzes erhalten.

Mit der Musik bleiben sie natürlich nicht aus, die Bilder, unverkennbar isländisch - eine große Reflexion der Heimat des Komponisten: Die Weiten der Insel mit ihren einmaligen Landschaftsbildern, ihrem unendlichen Horizont. Man denkt an die nahezu unbeherrschbaren Naturgewalten (auch wenn es beheizte Straßen gibt), die riesigen, unbewohnbaren Landschaftsabschnitte, lebensfeindlich und dennoch auf merkwürdige Weise anziehend. Ebenso fehlt natürlich ein gewisses Pathos nicht, das hier aber regelrecht verpflichtend ist, denn solche Klangmalerei darf nicht frei von überkochenden Emotionen sein, weil die Bilder und Kräfte dahinter einfach riesig und eigentlich unbegreifbar sind. Dass den Klängen immer auch etwas Spirituelles, ja Mystisches beiwohnt, muss eigentlich gar nicht erwähnt werden. Trotz der vielen Klangspielchen und Samples besitzt „IBM 1401, A User’s Manual“ eine ziemliche Eingängigkeit, die aber zu keiner Zeit Langeweile hervorruft, weil der Zuhörer immer wieder neue Facetten und Ideen hinter bzw. in der Musik entdecken kann.

Fazit: Neoklassik trifft auf Experimentalmusik und Ambient, angereichert mit einer Brise Humor und durchtränkt von dem berühmten isländischen Touch, was will man mehr? Hier handelt es sich um eine weitere kleine Perle aus dem Norden Europas, die nicht nur erwähnt, sondern empfohlen werden muss. Großartig!


 
für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» Johann Johannsson
» Hörproben


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Kommentare
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IBM 1401, a User´s Manual
(27-02-2007, 12:04)
http://www.ausersmanual.com/index.html

Zusammenfassung
Fazit: Neoklassik trifft auf Experimentalmusik und Ambient, angereichert mit einer Brise Humor und durchtränkt von dem berühmten isländischen Touch, was will man mehr? Hier handelt es sich um eine weitere kleine Perle aus dem Norden Europas, die nicht nur erwähnt, sondern empfohlen werden muss....

Inhalt
Titelliste:

Part 1 - IBM 1401 Processing Unit (8:32)
Part 2 - IBM 1403 Printer (9:33)
Part 3 - IBM 1402 Card Read-Punch (10:23)
Part 4 - IBM 729 II Magnetic Tape Unit (7:15)
Part 5 - The Sun's Gone Dim And The Sky's Turned Black (7:09)
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