Bereits vor einigen Monaten erschienen, aber erst jetzt in den zwielichtigen Regendünsten des Novembers seinen ganzen Zauber entfaltend, zeigt sich "Patagonie" als eines der in letzter Zeit bemerkenswertesten Alben aus der Sparte akustischer Landschaftsmalerei.
Hinter dem Projekt FIN DE SIÈCLE, steht das Künstlerduo STEPHANE FLAUDER und FLORENCE CAILLEUX. Ihre Zusammenarbeit ist inzwischen leider schon passé, nur das bereits abgeschlossene
"Nine Barns"-Album wird als finales Vermächtnis noch Anfang nächsten Jahres, ebenfalls über
OPN veröffentlicht werden. Fortgeführt wird allerdings FLAUDERs Arbeit an
CAULDRON MUSIC, einem produktiven, unkommerziellen Label für experimentellen Ambient, in dessen Dunstkreis interessante Bands wie
AL AMOR DE LA LUMBRE und
SEMPER EADEM und die weniger originellen
STORM OF CAPRICORN anzutreffen sind. Gerade in Frankreich bildet sich auf diese Weise immer stärker ein enger Zirkel von Musikern heraus, der sich vom posenreichen Szenedschungel ein wenig separat hält und wieder mehr Kunst zum Selbstzweck betreibt. Man gibt sich gern "alternativ", intellektuell, auch ein wenig nostalgisch, ohne dabei einen gewissen Anspruch an Modernität aufgeben zu wollen.
Die atmosphärischen Klangcollagen von FIN DE SIÈCLE scheinen bedeckt vom Staub längst verflossener Dekaden. Eine Art retro-stilistische Innenarchitektur durchzieht die Veröffentlichungen der Franzosen wie altmodische Tapetenmuster. In den vergangenen fünf Jahren ist von dem Projekt ein eher fragmentarisches Mosaikwerk an die Oberfläche gedrungen. EPs, Splits, CD-Rs in extrem geringen Auflagen, die später zur freien Verfügung durchs Weltnetz wirbelten und manchmal wieder verschwanden. Mit "Patagonie" liegt nach dem unbetitelten Debüt auf
DIVINE COMEDY nun im Grunde erst das zweite wirkliche CD-Album vor. Die Musik von FLAUDER und CAILLEUX anhand einzelner Flächen und Samples als "Ambient" festzumachen, erweist sich dabei einerseits als schwierig, andererseits würde es dem ambitionierten Schaffen beider Musiker nicht gerecht werden. Klassizistische Tendenzen und Einflüsse aus postmodernem Alternativ-Pop schleichen sich zunehmend in die Kompositionen und lassen sie manchmal sperrig und verquer, hin und wieder jedoch auch leicht verdaulich erscheinen. Neo-Klassik wäre an dieser Stelle dennoch eine fatale Bezeichnung, da es von hier aus nur noch ein Katzensprung zum Szenewort "Bombast" ist, das für diese Musik ungeeigneter nicht sein könnte. Auch stehen FIN DE SIÈCLE mit ihrer schwebenden "l'art pour l'art" Attitüde eher in neo-romantischer, symbolistischer Tradition, was den anfangs unoriginell wirkenden Bandnamen zumindest chronologisch-historisch plausibel macht.
Ganz so verfangen in einer düster verregneten Karussellfahrt im Paris der Jahrhundertwende wie das Vorgängeralbum, gibt sich "Patagonie" allerdings nicht. Freilich lassen sich auch hier äußerst antiquarische Klavierarrangements aufspüren und überhaupt dringt aus diesen Stücken der schwere Duft von Vergangenheit und Erinnerung. Aber es ist eher eine große Unzeitigkeit, die sich über dem Album ausbreitet, eine abstrakte Welt, die sich ausschließlich aus für sich stehenden Stimmungen aufschlüsselt. Sphärische, rustikale Augenblickslandschaften werden mit gewollter Verschwommenheit entworfen und belebt durch ein sparsames Kammerspiel von Klavier, Violine, Akkordeondrones und subtilen krautrockigen Gitarrensaiten, die immer nur im Hintergrund wehmütig verhallen. Leicht verzerrte Grooves und moderne elektronische Rhythmen mischen sich in dieses fragile Netz und ergeben, gepaart mit den verträumten Tasten eine kühle, wandlungsfähige Melange. Durchglänzt wird dies alles vom Knistern, Klopfen und Poltern einer sehr lebendigen Geräuschkulisse, die in Form von möwenkreischendem Meeresrauschen und dem würzigen Hauch eines unerwartet milden Windes ihre inspiriertesten Momente erlebt.
Es ist keine konkrete Geschichte, die in diesen ineinandergeschichteten Klangbildern wiedergegeben wird, sondern vielmehr ein Haltmachen an 15 Stationen einer Reise durch ein ewiges, zeitloses Herbstgefühl. Alles schmeckt nach süßem Dahinscheiden, nach Weiterziehen im weichen Licht eines Kühle verheißenden Sonnenuntergangs. In jedem der Titel schwingt etwas Finales, Abschiedsvolles mit, besonders die entrückend quietschenden Gitarren von "Patagonie III" deuten mit großer Feinfühligkeit auf eine saugende Ferne hin. Das Album würde sich womöglich sehr gut als Begleitung eines elegant photographierten, isolationistischen Roadmovies eignen ("
La cruz del sur" oder "
Historias Mínimas" z.B. - da wären wir passenderweise auch in Patagonien angelangt...). FIN DE SIÈCLE bedienen mit ihren melancholischen Impressionen und Stillleben auch diese wieder neu in Mode gekommene Emotionslastigkeit und Einfühlsamkeit von Bands wie
SIGUR RÒS,
MOGWAI oder
GYBE!. Die Franzosen jedoch hegen mehr Hang zum Experiment und Schrägsein, ihre Dimensionen sind daher auch weitaus weniger episch und sinfonisch, sondern haben eher Wohnzimmercharakter. Aber ihre Musik ist gleichsam romantisch, ein Prädikat, das hier nicht als jene Düsterromantik pubertierender Weltschmerzgruftis verstanden werden soll. Eine klare Abgrenzung zu solch Depressionen heischender
Cold Meat - Nachtschwärze lässt sich in dem langen gänsehauterregenden Stück "Where The Lilies Cry A Last Time" erkennen, das in Zusammenarbeit mit SERGE USSON (STORM OF CAPRICORN) entstanden ist. Ein elegischer Teppich aus noisig klirrendem Herbststurm,
minimalistischsten Gitarrengriffen, dem sanften und leisen Anschwellen der Tasten und geflüsterter Poesie. Es fällt nicht schwer, dieses Stück in sich eindringen und schwirren zu lassen, weil es, auf eine völlig schmucklose Initimität reduziert, nichts Fremdkörperliches mehr an sich hat. Die Ornamentik dieser neuen Romantik besteht gerade darin, dass ihre Schlichtheit vom inneren Gefühlsinventar des Hörers unendlich verziert wird.
Ähnlichkeiten zu den ebenfalls aus Frankreich stammenden
LAND lassen sich vor allem an der anachronistischen Eleganz und dem Drang zum Nur-Ästhetizismus festmachen. Die virtuose Präzisiertheit und Klasse von LAND erreichen FIN DE SIÈCLE jedoch noch nicht. Müssen sie auch nicht, denn ihre Kompositionen zeigen Tendenzen auf, die das Projekt aus dem Genre- und Szenekontext relativ weit herausbewegen.
"Patagonie" ist trotz seiner genannten Qualitäten längst kein Meisterwerk. Gerade wegen seiner unvorsichtigen stilistischen Ausflüge und der Einzelbildhaftigkeit in der Abfolge der Titel, wirkt das Album sehr zerfahren, zuweilen auch bruchstückhaft. Einige der kürzeren Titel flattern eilig an einem vorüber, ohne einen stärkeren Eindruck hinterlassen zu können. Das Konzept des Tonträgers hat im Gunde eher den Tagebuchcharakter über Jahre hinweg angesammelten Stückwerks. Zu bemängeln ist außerdem die stellenweise dürftige Tonqualität. Lautstärkeschwankungen ziehen sich durch das gesamte Album, manche Stücke sind schlecht ausgesteuert und prasseln im schlimmsten Fall. Die Musik von FLAUDER/CAILLEUX hätte in der Tat besseres verdient, denn von diesen beiden Kritikpunkten abgesehen, haben sie mit "Patagonie" ein Album geschaffen, das vor allem interessant und innovativ ist und genügend Raum für "magische Momente" bietet. Man sollte sich dafür genügend Zeit nehmen, man sollte es an einem Sonntag hören, im scharfkonturierten Farbenspiel eines Herbstnachmittags bei einer Tasse Kaffee, den Geist auf schattige Wanderungen schickend.