Erhebt man bei einer Tonträgerrezension den Anspruch, zunächst die zu rezensierende Musik möglichst so zu umschreiben, dass sich der Leser etwas drunter vorstellen kann, gerät man beim israelisch-russischen Ambient-Folk-Projekt AGNIVOLOK in ernste Schwierigkeiten. Vergleiche zur Musik anderer Bands, sonst das naheliegendste Mittel, einen Tonträger vorzustellen, sind hier ein eher zweifelhaftes Unterfangen, möglich sind am ehesten noch atmosphärische Vergleiche (im Unterschied zu stilistischen), die als Referenzpunkte dienlich sein könnten.
Doch zunächst vom Großen zum Kleinen: AGNIVOLOK bestehen aus der in der "heiligen Stadt" Jerusalem lebenden Malerin VERA (Gesang, Gitarre, Akkordeon), dem
CHAOS AS SHELTER-Soundtüftler VADIM GUSIS und dem mittlerweile recht bekannten Experimental-Musiker
IGOR KRUTOGOLOV. Sie alle sind in Russland geborene Juden, die irgendwann in ihrer Teenager-Zeit aus der russischen Diaspora nach Israel übersiedelten. Den "Input" der beiden Männer bei AGNIVOLOK hat man damit im Grunde schon beschrieben, denn besonders VADIM GUSIS' Beitrag liegt vollkommen auf der CHAOS AS SHELTER-Linie, während der hier nicht so sehr wahrnehmbare IGOR KRUTOGOLOV Elemente einfügt, die seinen Spielzeugexperimenten gleichen (
TOY ORCHESTRA). Sein unverwechselbares Gesicht erhält AGNIVOLOK aber erst durch die Stimme, das Charisma und das Gitarren- und Akkordeonspiel von VERA. Die Musik ist hiermit schon recht annehmbar umrissen, AGNIVOLOK sind so etwas wie die Antwort des "mystischen Ostens" auf die nordamerikanische "
New Weird Folk"-Bewegung, zu der sich BABY DEE, DEVENDRA BANHART oder
COCOROSIE und andere zählen lassen, und als deren Urahnen sich, nicht ganz zu Unrecht, momentan CURRENT 93 stilisieren. Bands dieser "Bewegung" eint im Allgemeinen ein gewisser "Freak-Faktor" (daher "weird"), das kann eine etwas dekadente, religiöse Beseeltheit, Transvestie oder einfach nur schräger Gesang oder phantasievolle Kostümierung sein. VERA, und ich glaube das schwingt bei AGNIVOLOK "hörbar" mit, selbst wenn man sie noch nie gesehen hat, wirkt original so, als sei sie der Bilderwelt
ALEJANDRO JODOROWSKYS entsprungen, dem Regisseur, der auch u.a. ALLERSEELEN stark beeinflusste. Es erübrigt sich zu sagen, dass sie großer Liebhaber dieses ebenfalls jüdischen Meisters ist, zusammen mit
LEO PERUTZ und
MICHAIL BULGAKOW prägte er die musikalische und lyrische Welt AGNIVOLOKS am nachhaltigsten.
AGNIVOLOK ist also ein Zusammenspiel aus CHAOS AS SHELTER, mitunter Akkordeon in bester AIN SOPH "Aurora"-Manier, simplem aber effektivem Akkorden mit der Akustikgitarre und russischem Frauengesang, kein Wunder, dass das nicht so wirklich eine Parallele in der Musikwelt hat. Vera singt leidenschaftlich, zart und intim, man hört sie atmen. Wer jetzt aber denkt, dass Ganze wäre "sexy" oder "lasziv" ist vollkommen auf dem Holzweg, Nein, AGNIVOLOK sind schon, wie auch CHAOS AS SHELTER, schicksalsschwer und "mystisch", wenn auch nicht bedrohlich. Bisher fielen Vergleiche zur unsterblichen NICO oder sogar zu NOVY SVET, das ist nachvollziehbar, aber auch ein
bisschen unbeholfen. Weitaus eher treffen Vergleiche zu
YANKA zu, eine mittlerweile verstorbene und in Deutschland sicher sehr unbekannte Punk-Folk-Ikone Russlands, die auch mit
GRAZHDANSKAYA OBORONA zusammenarbeitete. (Zu denen ich dringend mal etwas schreiben muss und die einer der absoluten Lieblingsbands der israelisch-russischen Szene um CHAOS AS SHELTER sind.) YANKA jedoch, war im Vergleich zu VERA um einiges robuster, ein
bisschen eine russische JANIS JOPLIN, während VERA mehr außerweltlich oszilliert zwischen Elfe und Kobold.
"Cherries" besteht aus sieben Liedern, die fast alle im beschriebenen Sinne Ambient und mystischen Folk im Wechselspiel bieten, lediglich drei Stücke könnten als Beispiele von guten CHAOS AS SHELTER-Beiträgen durchgehen. (Was sie de facto dann auch sind.) Sowieso ist das Namenswechselspiel bei AGNIVOLOK und CHAOS AS SHELTER manchmal ein klein wenig irreführend. Die
DARKWOOD- und CHAOS AS SHELTER-Splitveröffentlichung "
Lapis" (2004), war z.B., weil VERA nicht nur das Cover malte, sondern auch sang, eigentlich schon fast ein AGNIVOLOK-Album. Wer dieses, in der DARKWOOD-Diskographie sehr aus dem Rahmen fallende, Album mochte, dem wird auch mit Sicherheit AGNIVOLOK zusagen. Weiter möchte ich Hörern von THE MOON LAY HIDDEN BENEATH A CLOUD, von THE REVOLUTIONARY ARMY OF THE INFANT JESUS, von NOVY SVET, von AIN SOPH und sogar CURRENT 93 (DAVID TIBET würden sie garantiert gefallen.) raten, AGNIVOLOK einmal anzutesten. Musikalisch ist es sehr anders, aber die Chancen, dass es gefällt, stehen gut, auch wenn sie sicher ein "Geheimtipp" bleiben werden. Zugegebenermaßen ist AGNIVOLOK auch nicht etwas für jede Uhrzeit. Eine "normale" Wertung entfällt, wer sich angesprochen fühlt, weiß Bescheid.
AGNIVOLOK "Sculptor" (CD) The Eastern Front, 2006, Wiederveröffentlichung, Original, 12" Vinyl, Stateart, 2002
Zeitgleich mit "Cherries" wurde auf EASTERN FRONT auch das AGNIVOLOK-Debüt, welches 2002 auf STATEART als 12" Vinyl veröffentlicht wurde, auf CD neu aufgelegt. Als Bonus wurde mit "Angels" noch ein bisher unveröffentlichtes, vierminütiges Folklied hinzugepackt. Der Musikstil AGNIVOLOKs erscheint mir damals, die Stücke stammen aus den Jahren 2000 und 2001, noch ein wenig experimenteller angehaucht gewesen zu sein. Der künstlerische Anteil VADIM GUSIS' war wohl auch noch ein
bisschen ausgeprägter. Auch sind Flöte und Klavier zu vernehmen, dafür weniger Akustikgitarre. Der Opener "Heart Of Stone" erinnert fast ein wenig an die Pianostücke auf AIN SOPHs "Kshatriya" (1988). Abgeschlossen wird "Sculptor" mit dem sperrigen, über 20- minütigen Instrumentalstück "Penance", auf dem sich vor allem VADIM GUSIS in bekannter CHAOS AS SHELTER-Manier austobt und auskundschaftet, was aus einer Geige alles so herauszuholen ist. Augenblicklich fühlt man sich hier an manch eine
NURSE WITH WOUND/
ARANOS-Kollaboration erinnert, und tatsächlich, "Penance" würde auch auf so Alben wie "
Acts Of Senseless Beauty" (1997) oder "
Santoor Lena Bicycle" (2001) passen, daher ganz nett, aber nicht umwerfend originell.
Insgesamt kann man drüber streiten, ob diese Wiederveröffentlichung nun so unbedingt nötig war. Gewiss, die Musik hat es verdient, aber das Originalvinyl ist vermutlich nicht schwer zu finden. AGNIVOLOK gehören sicher nicht zu denen Projekten, die auf Ebay große Summen erzielen, insofern wird man bestimmt auch noch in zehn Jahren in Ruhe zwischen dem STATEART-Vinyl und der EASTERN FRONT-CD-Version wählen können. Ich rate zur CD-Version, da der Bonussong "Angels" AGNIVOLOK von einer eher ungewohnten, weil unbeschwerter folkigen (mit Mundharmonika) Seite zeigen.
Die CD kommt mit einem neuen Cover, das STATEART-Vinyl erschien in einem weißen Cover, nun die CD-Version mit schwarzem Cover und einem schicken, okkulten (?) Symbol.
Interview mit VERA und VADIM GUSIS - AGNIVOLOK, CHAOS AS SHELTER für Lichttaufe