WALNUT AND LOCUST ist ein kleines, in Lyon, Frankreich, ansässiges Label für Industrial und all-gemein für experimentelle Elektronik. Auf dem jungen Label erschienen bisher Tonträger von
MERZBOW und dem polnischen Wahljapaner
ZBIGNIEW KARKOWSKI (der einst ziemlich gut Schopenhauers pessimistische Vorstellung von der Welt als Wille
akustisch umzusetzen versuchte, kleiner Tipp am Rande). "Cr02: A Tribute To Analog" ist der zweite Sampler des Hauses binnen kürzester Zeit. Mehr noch als die Vorgängercompilation "Red", auf der u.a. ein LETUM-Stück dabei war, besticht "A Tribute To Analog" schon durch seine kuriose Mischung von klangvollen oder zumindest bekannten und gänzlich unbekannten Künstlernamen. Zu den eher klangvollen Namen zählt sicher der Japan-Noise-Experimentalist AUBE, aber auch der Belgier EMPUSAE, der bereits auf DIVINE COMEDY und den Rhythmus-Industrial-Spezialisten HANDS veröffentlichte, und auch die Franzosen ULAN BATOR sind nicht ganz unbekannt, wenn auch eher unter Liebhabern des "Postrock". Was die Reputation betrifft, setzt CHRIS CARTER (THROBBING GRISTLE, CHRIS & COSEY), der ein exklusives Stück beisteuert, dem Ganzen sicher die Krone auf (super, dass er bei so einem unbekannten Label mitmacht). Dazu gesellen sich dann neun weitere Projekte, die mir vorher meist gänzlich unbekannt waren und überwiegend der französischen Experimental- Industrial-Szene entstammen. Konzeptionell geht es der Zusammenstellung natürlich genau um das, was im Samplernamen schon vorweg genommen ist. Man möchte der "Analog-Elektronik" seinen Tribut erweisen.
Unter "Analog-Elektronik bzw. Industrial" versteht man gemeinhin elektronische Musik, die nicht mit digitalen Mitteln erschaffen wurde (was aber nicht heißt, dass die eingesetzen Geräte nur eine Spur abspielen können, was ja im vollen Wortsinne "analog" wäre). Man sagt, völlig zu recht, dass analoge Elektronik weniger steril klingt, organischer und "
irgendwie" auch "menschlicher". Analoge Elektronik erfuhr in den letzten Jahren durch Projekte wie AIR, LADYTRON oder PAN(A)SONIC eine gewisse Renaissance, so wie auch generell 70er Jahre Nostalgie momentan ungewöhnlich "hip" zu sein scheint. Mittlerweile macht es aber auch der technische Fortschritt möglich, mit digitalen Mitteln "analog zu klingen", so dass zweifelhaft ist, ob man diese Unterschiede der Klangerzeugung wirklich immer so heraushören kann.
Wie dem auch sei, auf dem Sampler klingen sie eben alle "analog", wie sie das erreicht haben, ist zweitrangig.
Los geht's mit einem
ALEXANDRE PAX: "Sin Die". Sein Beitrag klingt wie eine Art Lautsprechertest, fünf Minuten mehr oder weniger ein Ton, gegen Ende mit Surroundeffekt. Mir gefällt's, aber mir gefällt auch radikalste Minimal Musik a la
WILLIAM BASINSKI. Unspektakulärer, aber guter Einstieg in die analoge Welt.
Es folgt
PINE TREE STATE MIND CONTROL: "Ode To Desert Pete". Geheimnisvoll-beschwörerischer Noise-Ambient, der dennoch melodiös ist. Durch das begleitende Flüstern erinnert es fast an "V.I.T.R.I.O.L., dem so wunderbaren Einsteig auf AIN SOPHs Klassiker "Ars Regia". Auch sehr gut!
Ähnlich magisch geht es mit
WE ARE GENTLEMAN und "Et L'on Tuera Tous Les Danseurs" weiter. Hochklassiger, spannender Dark Ambient mit BAD SECTOR-artigen, fibrigen Klängen und einer Art Wolfsgeheul-Imitat. Eine weibliche Stimme bekennt "I Love You Mummy and Daddy". Der Beitrag erinnert mich schon fast an BLOOD AXIS' "Beetween Birds Of Prey", ist auf jeden Fall ähnlich gut!
KASPER T. TOEPLITZ ist nun wieder ein bekannterer Name, zumindest wenn man weiß, dass dieser Mitglied bei
ART ZOYD ist. Frankreich hat so eine eigene Tradition sehr düsterer Progressiv-Rock/Jazz-Ka-pellen, von denen MAGMA und UNIVERS ZERO (inklusive henochischer Beschwörungen) die bekanntesten sind. ART ZOYD entstammen auch dieser Tradition, KASPER T. TOEPLITZ' Solo bewegt sich aber in schon bekannten, aber hochwertigen Dark Ambient-Bahnen. Sein Beitrag hier "Mean Density: 11.8" ist ein sich unaufhörlich steigerndes Meisterwerk dunkler Musik. Schon wieder sehr gut!
Nun folgt
AUBE mit "Reel For Reel". AUBE ist dafür berühmt und berüchtigt, dass seine elektronische Musik immer nur auf einer Klangquelle basiert, die dann kunstvoll manipuliert wird. So gibt es von ihm z.B. Aufnahmen von Feuer, Wasser aber auch vom Geräusch, welches durch Papierzerknüllen entsteht, "Pages From The Book" (1998) etwa basierte auf (angeblich) zerknüllten Bibelseiten. Seine Klangquelle hier, wird schon im Namen deutlich, die
Reel To Reel-Aufnahme. Guter Beitrag wieder, endet allerdings völlig abrupt.
Ein stilistischer Wechsel ist danach mit
TERMINAL SOUND SYSTEM "Mi Clatter" fällig. Hinter dem Namen verbirgt sich ein Australier namens SKYE KLEIN, der sonst noch bei
HALO, einer Sludge-Noisecore-Band spielt. Mit T.S.S. versucht er sich hier an einer Art "
Illbient" mit starken Dub-, Jazz-Einfluss und Rockschlagzeug. Sehr düster und was für Liebhaber von SCORN, aber auch BOHREN AND THE CLUB OF GORE und späte ULVER. Wunderbar!
EMPUSAE vs. AGATHOKLESS bleibt mit "Tunnel Visions V2.02" leicht im Dub-Bereich. Melodiöser, cineastisch-futuristischer Dark-Ambient mit Dub- und Techno-Trance-Einflüssen, das Stück lässt einen direkt an eine Mondlandschaft und auch ein wenig an den "Twin Peaks"-Soundtrack von JULEE CRUISE denken. Auch wirklich gut und sicher typisch für den Belgier, der, was man auch hört, dem Umfeld von
THIS MORN OMINA entstammt.
CHRIS CARTER, für mich durch seine unauffällige Art immer schon der "Charlie Watts des Industrial" gewesen, steuert mit "Birdy Num Num" ein für ihn absolut typisches, schon fast fröhliches, rein instrumentales Minimal-Coldwave Pop-Lied bei. Er erinnert hier ein wenig an
THE GENETIC TERRORISTS, sein altes Projekt mit BRIAN WILLIAMS (LUSTMORD) oder auch an seine Soloscheibe "
The Space Between", 1991.
Bei
MAGGOT BREEDER, einem Philippino, der in Kanada lebt, und "Igorot" muss nun jeder Beschrei-bungsversuch versagen. Es ist auf jeden Fall der experimentalste Beitrag auf der Compilation, eine verfremdete, südostasiatische Frauenstimme trifft auf allerlei Glöckchen und Rasseln. Es ist nicht wirklich Ritualmusik, vielleicht eine Art Ethno-Ambient, auf jeden Fall bemerkenswert!
Mit
.cut wird es nun leicht rockig, es handelt sich wohl um das Projekt des Labelbetreibers selbst. Geboten wird elektronischer, sanft gleitender schlag-zeugbefreiter Postrock, ganz klar was für KRANKY-, speziell PAN(A)SONIC-, und LARSEN-Liebhaber. Gesungen wird nicht, lediglich im Hintergrund französisch gesprochen. Sehr chillig und gut.
Im ähnlichen Stil, aber mit weitaus psychedelischerem Einschlag, geht es mit der französisch/italienischen Band
ULAN BATOR weiter. Das Projekt, benannt nach der Hauptstadt der Mongolei, ist in den Postrock-Kreisen, die es betrifft, gar nicht mal so unbekannt. Selbst MICHAEL GIRA (THE SWANS etc.) spielte sogar schon bei ihnen mit und scheint sie auch für sein Label
YOUNG GOD REC. unter Vertrag genommen zu haben. Klanglich orientieren sich ULAN BATOR ein bisschen an deutschem Krautrock a la FAUST, CAN oder
AGITATION FREE, d.h. ihr Beitrag "C02" ist eine langgezogene, Trance-artige Postrocknummer geworden, die mich, dem Bandnamen gemäß, einleben lässt in JOSEPH BEUYS' Vorstellung einer "Inneren Mongolei", womit er eine eurasische Altai-Steppen- Spiritualität zu erfassen suchte.
Mit MOLASSES, einem Folk-Projekt von
MIKE MOYA, einst Gründungsmitglied von GODSPEED YOU BLACK EMPEROR! und Teil der Livebesetzung von ELIZABETH ANKA VAJAJIC und nun auch aktiv bei den anderen
CONSTELLATION RECORDS Bands HRSTA und SET FIRE TO FLAMES, klingt nun diese tolle Compilation völlig unerwartet mit Americana Folk im WOVEN HAND-Stil aus, ein großartiger Song!
Mit dem eigentlichen Thema der Compilation hat das zwar nun nichts mehr zu tun, aber vielleicht habe ich da eh etwas falsch verstanden.
Fazit: Wie schon an den zwölf Einzelrezensionen erkennbar, bin ich recht begeistert von dieser Zusammenstellung. "Tribute To Analog" ist vollkommen frei von musikalischen Aussetzern, fast jeder Beitrag ist richtig klasse und der Sampler erfüllt auch was man von einem Sampler so oft erhofft, aber so selten eingelöst sieht: Er bietet exklusive und gute Stücke von bekannten Interpreten und dazu eine Vielzahl von neuen Namen, die alle absolut positiv überraschen. Ich kann mich auf Anhieb gar nicht erinnern, wann ich das bei einem Sampler zuletzt erlebt habe. Daher eine absolut dicke Kaufempfehlung, ich bin sicher, dass den Kauf von "A Tribute To Analog" niemand, dessen geschmackliche Vorlieben zwischen Old-School Indus-trial und Postrock liegen, bereuen wird. Mein großer Dank an WALNUT AND LOCUST.