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Micha W.

George MacDonald: Lilith

Im Geiste romantischer Kunstmärchen


George MacDonald: Lilith
Genre: Literatur
Verlag: Klett-Cotta
Erscheinungsdatum:
1996 (Erstausgabe 1895)
Medium: Buch
Preis: ~13,00 €
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Der noch junge Mr. Vane hat gerade erst sein Studium beendet, als er unvorhergesehen das väterliche Gutshaus mitsamt Anwesen erbt. Nichts ahnend zieht er ein und muss sich schon bald mit merkwürdigen Phänomenen auseinandersetzen: Als er in der Bibliothek einen Schemen ausmacht, verfolgt er ihn und stolpert - wie, das weiß er selbst nicht so ganz - in eine schier endlose Heidelandschaft, die sich bis zum Horizont erstreckt. Das verfolgte Phantom stellt sich als der vor Generationen verschollene Hausbibliothekar heraus, der dem frisch gebackenen Gutsbesitzer sogleich seine Gastfreundschaft anbietet und diesen zu einer Übernachtung in etwas einlädt, das er für eine Leichhalle hält. Auch wenn Vane zunächst einwilligt, flieht er voller Panik mitten in der Nacht und landet genauso unverhofft in seinem Haus, wie er es einst verließ. Von nun an wechselt der Gutsherr (zunächst unfreiwillig) immer wieder die Welten, um schließlich in jener anderen Dimension auf eine Reise geschickt zu werden, die ihn für immer verändern soll…

Betrachtet man die phantastische Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, fällt auf, dass sich die Mehrheit ihrer Vertreter wahlweise der Dekadenz und dem Fin de Siècle oder (pseudo-)okkulten Denksystemen verpflichtet fühlte - Hanns Heinz Ewers sei an dieser Stelle genauso genannt wie Eric Count Stenbock oder Gustav Meyrink. George MacDonald allerdings orientiert sich in eine ganz andere Richtung: In der Tradition romantischer Kunstmärchen stehend, brechen in "Lilith" an allen Ecken und Enden diejenigen Themenkomplexe hervor, denen nicht ganz ein Jahrhundert zuvor bereits ein Novalis nachgespürt hat: das Verhältnis von Imagination und empirischer Realität, die Überlappung von Leben und Tod sowie das pantheistische Wesen Gottes;  mit dem gesamten Repertoire der Romantik werden Mr. Vane, zu Beginn noch das Exempel eines profanen Menschen, und der Leser konfrontiert, und in der Tat vermag es "Lilith" zumindest partiell, die Poesie und den Zauber, die dieser Epoche und ihren Werken innewohnten, wieder aufleben zu lassen. Es ist nicht zu hoch gegriffen, wenn man behauptet, dass der Roman in seinen gelungensten Momenten Poesie atme, fühlt sich der Leser in diesen Augenblicken doch gänzlich weltentrückt - aber leider sind diese Situationen recht rar gesät. Dem stehen allerdings einige Makel gegenüber, die die Freude an der Lektüre nachhaltig schmälern: So sind die einzelnen Ereignisse der Handlung ein wenig zu sehr perlschnurartig nacheinander aufgereiht, und auch wenn das lineare Moment in Reiseerzählungen stets ein potentielles Problem für den Autor darstellt, ist es doch schon bei weitem besser gelöst worden als von MacDonald. Der beachtet es nämlich erst gar nicht und lässt seinen Protagonisten unbeirrt von einer Station zur anderen ziehen, ohne sich darum zu bemühen, der Wanderschaft Vanes mittels Verquickungen ein gewisses Mindestmaß an 'Dichte', an 'Gedrungenheit' zukommen zu lassen. Zu der rein formal-handwerklichen Beanstandung gesellt sich eine gewisse Konsternation über die eine oder andere ideologische Anwandlung des Autors: Dass der christliche Charakter des Romans gegen Ende immer fundamentalere Züge annimmt, ist dabei genauso störend wie die gleichermaßen naive und überspitzte Idealisierung von Kindlichkeit: Als Vane auf eine Gruppe Kinder vom Säuglings- bis ins frühe Jugendalter trifft, ergeht sich MacDonald über Seiten in der Lieblichkeit "Der Kleinen", wie ihre Glöckchenstimmen die allerherrlichsten Lieder anstimmen, wie sie lachend übereinander purzeln und in einen heiteren Reigen verfallen, zu dem sich sogar die Tiere des Waldes gesellen… Bei einer solch übersteigerten Portraitierung stellt sich natürlich unweigerlich die Frage nach einer möglichen Persiflage, doch gibt der Roman keinen einzigen Hinweis auf eine solche. Für bare Münze genommen, bleibt nicht mehr, als über so viel Idealisierung den Kopf zu schütteln…
    Doch was bleibt vom Roman? Abgesehen von seiner interessanten literaturhistorischen Positionierung ist "Lilith" zweifelsfrei ein Werk, das - besonders anfangs - Poesie und große Momente besitzt, die allerdings zusehend im Strom der zunehmenden formalen wie inhaltlichen Irritationen untergehen. Ein Roman, der es wert ist, zur Kenntnis genommen zu werden - mehr aber auch nicht.

 
Micha W. für nonpop.de



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Abgesehen von seiner interessanten literaturhistorischen Positionierung ist "Lilith" zweifelsfrei ein Werk, das - besonders anfangs - Poesie und große Momente besitzt, die allerdings zusehend im Strom der zunehmenden formalen wie inhaltlichen Irritationen untergehen. Ein Roman, der es wert ist,...

Inhalt
George MacDonald: Lilith. Roman. 335 Seiten,
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