|
Roy L.
Letatlin :: Sepoltura Delle Farfalle
Dada, Falter und die Avantgarde
Kategorie: Rezension
Erstellt: 12.08.2006
Wörter: 984
Artikelbewertung:
positiv:0% negativ:100%
Wladimir Tatlin (1885-1953) zählt neben Malewitsch und Rodtschenko zu den bedeutendsten Vertretern der russischen Avantgarde des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts. Eine im wahrsten Sinne aufregende Zeit der Umbrüche, Revolutionen, Manifeste, sowohl in der Politik als auch in der Kunst. In dem Pariser Kulturblatt "Le Figaro" verkündet der Italiener Fillipo Tommaso Marinetti 1909 sein in jeder Hinsicht radikales "manifest du futurisme", die Franzosen selbst stürzen mit dem Kubismus sämtliche konventionellen Regeln der Malerei. Besonders auf russischer Seite schien die aufkeimende Subversivität der Kunst beispielhaft mit der sozialistischen Bewegung in Wechselwirkung zu treten. Aus jeder Gasse des zerbröckelnden Zarenreichs lockte der - späterhin als kulturzersetzend entlarvte - Aufschrei des Fortschritts. Technologisierung schien die magische Antwort auf die schleichende Décadence des Zeitgeistes zu sein. Vorwärtspreschen, Geschwindigkeit, Dynamik. Tatlin suchte und fand als erster die Ästhetik der Maschine, er begründete eine "Maschinenkunst" sui generis, die im Grunde auch in der "Industrial Culture" unserer Subkultur als konsequente Fortführung und Ausformung erkannt werden darf. Seine "Konterreliefs" öffneten den Objekten Raum zur Dreidimensionalität, neue Materialien fanden Zugang zur Gestaltwerdung konkreter Kunstwerke, denen das Geistige, Abstrakte entgegengesetzt und zuwider war. Dass sich Tatlin nach der Oktoberrevolution mit einer derartigen Kunstauffassung naturgemäß begeistert in die Reihen der Sozialisten stürzte, wird man ihm nicht ernsthaft als systematische Bösartigkeit anheften können. Der Drang nach "ästhetischer Mobilmachung", nach Radikalisierung des Alltags mündete zweigleisig ins Totalitäre, das wusste Marinetti, der sich mit Mussolini arrangierte, genauso. Tatlins zugegeben geniales Glas-Stahl Turmprojekt "Monument der Dritten Internationale" blieb ebenso wie das kommunistische System nur Skizze und Utopie. Futurismus und Konstruktivismus erscheinen uns heute jedoch gerade ihres Scheiterns und Stolperns wegen interessant und Bands wie MUSHROOM'S PATIENCE, ZGA, VETROPHONIA, KONSTRUKTIVIST oder auch die ganz frühen NOVÝ SVET konnten diesem Einfluss kaum widerstehen. In ihrem unzähmbaren Hochgeschwindigkeits- und Formendrang überschlug sich eine ganze kulturelle Strömung, wurde selbst formlos und entfesselte letztendlich den überdimensionalen kopflosen Materialismus unserer Zeit. Heute erschöpft sich der Begriff der Technik auf der profanen, pragmatischen Ebene, damals war er ein Konzept gegen die große Weltkrisis. Mit dem "Letatlin", einer der späteren Schöpfungen des russischen Künstlers, kehrte Tatlin zum Organischen zurück oder suchte vielmehr eine Verquickung dessen mit der Technik. Ein Fluggerät in Form eines mechanischen Vogels sollte dem Menschen durch physische Antriebskraft in die Lüfte verhelfen. Das Leben hielt Einzug in die "Maschinenkunst", Formen wie Körperlichkeit, Kraft, Bewegung traten dem bloßen Stoff, vom Menschen ausgehend, gegenüber. Die Ästhetik gewann ihren Nutzen, der Nutzen seine Ästhetik, auch wenn der Entwurf nur Modell blieb.
Nach eben dieser Konstruktion benannte sich ein ähnlich exzentrisch-avantgardistisches Trio aus Italien. Nach mehreren Demo-CD-Rs legten LETATLIN vor wenigen Monaten ihren ersten offiziellen Tonträger vor und dass dies mit allergrößter Unterstützung der perfektionistischen Überästheten von ARK Records geschah, verwundert nicht wenig, stellt doch "La Sepoltura Delle Farfalle" die erste wirklich experimentelle, schräge Veröffentlichung im ansonsten sehr folkloristischen Labelprogramm der Neapolitaner dar. Der musikalische Stil, der sich hier auf vierzehn Titel, mal mehr, mal weniger verfeinert und auf den Punkt gebracht, ausdehnt, ist, ich gebe es ungern zu, nur sehr schwer in Worte zu fassen. Einige Stücke kommen wie Garagenrock ohne Schlagzeug daher, Gitarrengeschrammel, das mit seltsam verfremdeten elektronischen Beats und nicht zu geringer noisiger Effekthascherei hinterlegt wurde. Dann wieder bedrohlich verwirrende, gitarrenquietschende Klangcollagen, Feedback, leicht rhythmisiert, trotzdem völlig strukturlos wie in "Arp (La Sepoltura delle Farfalle)", "Affoga l'Asino", und "Mechanical Flower". Viel Bass und typische Indie-Gitarren werden mit teilweise deftigen, teilweise poppigen Synthesizern zu einem sehr lockeren Kranz verflochten, was bewusst künstlich in den Raum gestellt wirken soll. Insgesamt so kühl und düster, dass es fast schon in die Gothic-Ecke gerückt werden könnte und so melancholisch-depressiv ("Carcasse", "Mancanza di Calore") und abgehoben, dass auch Neofolker mit Hang zur Schräglage ein Ohr riskieren dürfen. Mehr noch, LETATLIN haben sogar stellenweise ihre New Wave-Momente, die sie vor allem bei "Taiwan" und "Digestione di un Metabolismo Medio", oder etwas punkiger bei "Naissance du Robot" vergleichsweise songorientiert ausleben. Der Rest ist herrlich brachial im Sinne von "zerrissen", "introvertiert", "psychedelisch", "gitarrenlastig" und "tanzflächenuntauglich" ("Cerulex", "4 Corvi", "Antigas (La Nausea)"), plötzlich auch minimalelektronisch ("Plastic Shape") und dann leider von allzu digitalen Computersequenzen beherrscht ("Falene"). So ein großes stilistisches Spektrum, wie diese Aufzählung den Eindruck erwecken könnte, bedienen LETATLIN im Grunde gar nicht, es ist alles nur bruchstückhaft den verschieden Einflüssen entzogen und entliehen und dann unter eigener Flagge rekonstruiert, das Album wirkt dabei sogar sehr homogen und in sich stimmig, weil ihm so eine durchgängige, atmosphärische Grundierung anhaftet. Die kurzen, experimentellen Zwischenspiele, die durchweg surrealistisch aggressiven Gesänge und verzerrten Sprachfetzen spiegeln sich im Vexierbild atonaler Verstrickungen fast schon so komplex banal und dadaistisch wie manche NURSE WITH WOUND-Platten. Trotzdem verbleibt in den bunkerartigsten Klanggebäuden immer eine geringe Spur von Melodie, die das Album letztendlich doch als angenehm eingängig charakterisiert. "La Sepoltura delle Farfalle" erinnert hinsichtlich seiner Attitüde vor allem an alten Avantgarde-Rock, ein bisschen an PIERROT LUNAIRE in den Wirren des Computerzeitalters (aber keineswegs so theatralisch) oder auch an schräge Elektroniker der Achtziger, frühe CLAIR OBSCUR vielleicht. In der Umsetzung aber werden sämtliche Analogien von den leicht zu lokalisierenden modernen Klangelementen zunichte gemacht, was freilich auch den verwendeten Instrumenten zu schulden ist. Allerdings darf das auch kein Grund zum Weghören sein, man würde sich um eine intelligent arrangierte Veröffentlichung bringen. LETATLIN kreieren Musik für frisch belebte Mondlandschaften und sterile Wohnzimmer mit beängstigendem Fensterblick, in denen unzählige mechanische Geschöpfe durch den Äther flattern. Die zumeist italienischen Texte kreisen auf minimalistischen Bahnen um technologisch-philosophisch groteske Analysen, Aussagen zweiwertiger Logik, isolationistisch, entfremdend und doch pointiert wie konkrete Poesie, der zweite Titel könnte zudem auf Hans Arp anspielen, ungewöhnlich wäre es nicht. Ganz aus der Luft gegriffen ist auch der Bezug zu den Futuristen und Konstruktivisten nicht. Als derartig innovativ wie der Namenspatron Wladimir Tatlin mögen sich die drei Italiener sicher nicht herausstellen, aber in Sachen maschinenästhetischer Originalität eifern sie ihm nicht ungeschickt nach.
Bitte bewerte den Artikel fair und nach sachlichen Gesichtspunkten. Deine Stimme gibt dem Redakteur eine wichtige Rückinformation über seine Arbeit.
Verweise zum Artikel:
» Letatlin
» ARK Records
Anzeige:
Namentlich gekennzeichnete Beiträge spiegeln ausschließlich die Meinung des jeweiligen Verfassers bzw. Interviewpartners wieder. Nachdruck (auch auszugsweise) nur mit schriftlicher Genehmigung durch den Betreiber dieser Seite.
*Du bekommst max. eine Nachricht pro Woche mit allen neuen Artikeln.
Du kannst die Wochenschau jederzeit abbestellen.
Das Spartenmagazin für authentische Musik...
Seit dem ersten Januar 2007 ist das Musik- und Kulturmagazin NONPOP offiziell auf Sendung.
NONPOP richtet seinen Fokus auf jene Themen, die im Niemandsland zwischen Mainstream und Subkultur nur mäßig oder nie in ihrer gesamten Vielgesichtigkeit ausgeleuchtet werden.
Talentierte Redakteure gesucht...
Du wolltest schon immer professionell über die Themen schreiben, die Dich ganz besonders interessieren und Deiner Meinung nach zu wenig beachtet werden? Trotz Deiner Fachkenntnis bist Du wissbegierig und neuen Themen gegenüber aufgeschlossen? Dann wollen wir gern mehr von Dir erfahren!
Erfahrungen sammeln...
Als Redakteur profitierst Du bei uns von der Arbeit mit einer professionellen Autorensoftware, der Hilfe einer Lektorin und dem Fachwissen aller Redakteure. Für den praktischen Einstieg werden Dir zudem wichtige Informationsmaterialien zur Verfügung gestellt. Innerhalb der Redaktion steht man sich jederzeit mit Rat und Tat zur Seite.
Eine Idee verwirklichen…
NONPOP ist ein unkommerzielles Magazin. Es ist uns daher nicht möglich, Autorengehälter zu zahlen. Als Mitarbeiter erhältst Du jedoch kostenfreie Rezensions-Exemplare, Akkreditierung zu bestimmten Veranstaltungen und natürlich wertvolle journalistische Erfahrungen. Wirke mit an einer gemeinsamen Idee!
Schreib uns...
Für einen ersten Eindruck reicht eine formlose und kurze Vorstellung mit einem kleinen Überblick zu Deinen musikalischen & kulturellen Schwerpunkten und ein aussagekräftiger Probetext. (Das Thema kann frei gewählt werden.) Wenn Du bereits eine genaue Vorstellung davon hast, an welcher Stelle Du Dich bei uns besonders einbringen kannst, schreib das bitte gleich dazu.
Sollte eine regelmäßige Mitarbeit für Dich nicht in Frage kommen, kannst Du auch als freier Redakteur beim Magazin mitarbeiten.
(Werde Online-Redakteur bei NONPOP!)
Bitte kontaktiere uns über unser Kontaktformular.
Um die Funktion vor Mißbrauch zu schützen, ist es nur registrierten Mitgliedern möglich, diesen Artikel zu bewerten. Bitte logge Dich ein.
Um die Funktion vor Mißbrauch zu schützen, ist es nur registrierten Mitgliedern möglich, diesen Artikel zu kommentieren. Bitte logge Dich zuerst ein.
|
Zusammenfassung
Die erste offizielle CD des italienischen Avantgarde/Post-Rock/New Wave Projektes, mit großem Bezug zum russischen Konstruktivismus, ist musikalisch kaum, inhaltlich nahezu unmöglich in zwei kurzen Sätzen zusammenzufassen. Originell und intelligent produziert. Reinhören, wer gern experimentiert!
Inhalt
Carcasse
Arp (La Sepoltura delle Farfalle)
Taiwan
Cerulex
Affoga l'Asino
Falene
Digestione di un Metabolismo Medio
Plastic Shape
4 Corvi
Mancanza di Calore
Mechanical Flower
Naissance du Robot
Antigas (La Nausea)
(31)
42min
ARK006 | DigiPak mit 12-seitigem Beiheft
NONPOP RADIO
Nonpop Radio starten:
Hier
Ebay- Angebote zum Thema:
letatlin
|