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Philip A.

Nachtrag: The Dresden Dolls

Es war einmal ein Review


Nachtrag: The Dresden Dolls
Genre: Kabarett
Verlag: Roadrunner...
Erscheinungsdatum:
6. September 2004
Medium: CD
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Die folgende Rezension entstand im November 2004 und war damals eigentlich für die Veröffentlichung in einem anderen (Print-) Medium vorgesehen. Seit dieser Zeit geduldig im 'Sent-Folder' meines Email-Faches wartend, hat sie schon fast historischen Wert erreicht, denn mittlerweile ist viel Wasser die Flüsse dieser Welt hinunter gegangen und auch die kleine Band aus Massachusetts ist so klein nicht mehr. Natürlich habe ich das damals (und natürlich schon viel früher) prophetischerweise vorrausgesehen. Aber leset selber. Es war einmal ein Review:

Ich gebe zu, es ist eine Seltenheit geworden, aber wer mich in erbarmungslose Schwärmereien ausbrechen hören möchte, lenke das Thema dezent auf eine kleine Gruppe aus Bosten, Massachusetts - die Dresden Dolls. Waren sie bis noch vor einem Jahr ein Geheimtipp meinerseits, mit dem ich gerne jedem, der es herausforderte, auf die Nerven gefallen bin, wurde die letzte (bzw. erste Deutschland-) Tour schon von VIVA unterstützt. Ein kommerzieller Erfolg, wie ihn selten eine andere bis dato unbekannte Formation so zu recht verbuchen konnte, wie die Dolls.
In der Tat sind sie schon jetzt auf dem besten Wege, zu einem Shootingstar der Independent Szene zu werden*. Und das ist auch der Punkt, an dem es anfängt, etwas komplizierter zu werden, denn dieses Wörtchen "Independent", das ja mittlerweile (zumindest hierzulande) schon eine eigene relativ abgegrenzte und gar nicht mehr so unabhängige Schublade bildet, werden manche nicht so einfach durchgehen lassen. Und schon wieder zu recht: Die Dresden Dolls - ein äußerst charismatisches Duo, bestehend aus der Pianistin, Sänger- und Lyrikerin Amanda Palmer und dem Schlagzeuger Brian Viglione - führen mit ihrer Musik, für deren Beschreibung regelmäßig in Rezensionen Songwriter, wie Nick Cave, Tori Amos oder Komponisten, wie Kurt Weill herangezogen werden, ein erstaunlich erfolgreiches Nischendasein, das sich schwerlich nur in dem üblich breiigen Slang des allgemeinen Musik-Schubladisierens wieder findet. Face it: Die Dresden Dolls sind im Moment wahrscheinlich einzigartig mit dem, was sie tun.

Der erste Anblick des sehr umfangreichen Artworks mit dem Faible für die Salonästhetik der Berliner 20er Jahre und die von Amanda angebotene Stil-Beschreibung ("Brechtian Punk Cabaret") geben eine grobe Ahnung, wo es hingehen wird. 
Allerdings, um hier ein Missverständnis vorneweg zu eliminieren: Die Dresden Dolls sind weder eine Kabarettcombo noch eine Punkband, noch ein Mittelding aus beiden. Ein Kompromiss in irgendeiner Form würde nicht der enormen Energie gerecht werden, die hier durch die Verbindung, einer fast ausschließlich auf Piano und Schlagwerk reduzierten Instrumentierung und Amandas grandioser Stimme entsteht. Es ist vielmehr ein gekonntes und humorvolles Spielen mit den verschiedenen Elementen der zuvor genannten Richtungen, die sich in ihrem Gesamteffekt zu einem beeindruckenden musikalischen Kaleidoskop addieren, das in jedem Song aufs Neue zur Explosion gebracht wird. Es ist eine Aura aus Nostalgie, Theatralik und sarkastischer Komödie die sich mit hoher Intensität durch das Album zieht, permanent in der Dynamik einer schizophrenen Gefühlswelt befindlich, die sich unvermittelt in donnerndem Zorn und dann wieder in stiller Melancholie entladen kann. 
Dass Kunst in vielerlei Hinsicht eine Form der Neuschöpfung des Künstlers an sich selbst ist, zeigt sich auch in Amandas Texten, in denen sie verschiedene Rollenskripte durch-zappend wie ein Teenager auf der Suche nach einer möglichen Identität, einen geistigen Kleiderschrank durchwühlt und dabei entwirft und verwirft, um dem Zuschauer die verschiedenen Konzepte - mal schallend lachend, mal mit zynisch-provokantem Lächeln in Lolitapose und mal leise seufzend - um die Ohren zu schleudern. 
So zelebriert Amanda in "Girl Anachronism" die künstlerisch konzeptualisierte Selbstzerstörung als narzisstisches Feuerwerk (ohne die fehlende Selbstironie) und führt in dem Song "Perfect Fit" dann jedoch eine etwas nachdenklichere Bestandsaufnahme ihrer Persönlichkeit durch, die hier in verschiedene Fähigkeiten und Beschränkungen zerlegt wird, auf der Suche nach einem roten Faden darin, einer legitimen Ich-Definition nachforschend.
Es ist in solchen fragilen Momenten des Albums, dass die Distanz, die durch die Kunst mit geschaffen wird, durch jene selbst überbrückt wird und es dem Zuhörer fast bis auf die Schmerzgrenze gestattet wird, sich dem Künstler zu nähern. Die Dynamik zwischen humorvollem Entwurf und teilweise dramatischer Authentizität, verleiht diesem Werk seine Ehrlichkeit, innerhalb derer sich der Zuhörer in die Reflektion miteingebunden fühlt.
Stellenweise erinnert das Album so etwas an ein psychoanalytisches Puzzle oder das Versteckspielen des Akteurs, der sich immer kurz während des Wechsels der Garderobe dem Zuschauer in seiner Verletzlichkeit und auch Verletztheit zeigt, die in der Interaktion des Zerbrechlichen mit den Gegebenheiten einer zerbrechenden Außenwelt entsteht. 
Diese vielen Künstlern nachgesagte Sensibilität gegenüber dem Weltgeschehen und die damit einhergehende Unfähigkeit oder just der Unwille sich seiner zuweilen erdrückenden Realität zu entziehen (jeder sollte in dem Kontext das Brecht'sche Werk "An die Nachgeborenen" kennen), findet ihren Ausdruck u.a. in der für den "Rock against Bush"-Sampler eingespielten Cover-Version des Black Sabbath-Klassikers "War Pigs" und den persönlichen Bemühungen der Band für eine Abwahl des (unglücklicherweise) wieder amtierenden U.S.-Präsidenten W. Bush.

Bei allen tiefer gehenden Auseinandersetzungen, sollte eine Tatsache allerdings nicht unterschlagen werden: Die Dolls sind in erster Linie Entertainer - und zwar begnadete! Wer die Möglichkeit hat, die beiden live zu erleben, sollte diese unbedingt wahrnehmen. 
Ich möchte hiermit attestieren, dass Amanda und Brian - zumindest meiner Einschätzung nach - eine der wenigen Bands sind, die es vermögen, mitten in manischer Performance für circa zehn Sekunden in eine pantomimisch-mechanische Schockstarre zu verfallen, um dann synchron zum Ausgangspunkt des Geschehens zurückzukehren. Hier wird der Wahnsinn gefeiert und mit ihm die Kunst, als l'art pour l'art, als das im autarken Kosmos ihrer Entstehung einzig gültige Gesetz, in dessen Zentrum der Künstler als Schöpfer dieses Gesetzes steht. 
Ja, und wahrhaftig: Es wird Kabarett gemacht!

* (anm. d. Autors heute: Tja, Virgins und Sony Musics dieser Welt - gegen eine vernünftige Bezahlung würde ich in Zukunft auch für euch ein bisschen herum orakeln ;-))


 
Philip A. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» The Dresden Dolls

Themenbezogene Artikel:
» The Dresden Dolls - Yes, Virginia


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