Noch pünktlich vor dem TESCO-Festival beim diesjährigen
treffen.de">Wave-Gotik-Treffen ist mal wieder ein Funksignal der fast schon in der Versenkung geglaubten Mannheimer
Functional Organisation zu vernehmen. Das TESCO-Sublabel hatte sich in der Vergangenheit einzig der Wiederveröffentlichung alter, längst ausverkaufter Industrial-Klassiker angenommen und daran ändert sich mit dieser vorliegenden Doppel-CD von PROPERGOL freilich nichts.
Jérôme Nougaillon ist mit seinem klanggewaltigen Projekt schon seit über zehn Jahren aktiv und entstammt eigentlich dem Umfeld des nordfranzösischen Kultlabels und "Deadly Actions" - Veranstalters
Nuit Et Brouillard. Seine ersten beiden Alben erschienen Ende der Neunziger in eigener Sache und liebevoller Handarbeit; selbstredend war die Auflage erschreckend gering. Zu damaliger Zeit war PROPERGOL ein immerhin ganz interessanter Geheimtipp, und wer sich die beiden CD-Rs gekauft hatte, darf sich jetzt im Besitz gesuchter Erstlingswerke wähnen, denn inzwischen hat sich der Franzose mit "Renegade" und "United States" zu einer echten Szenegröße aufgeschwungen, Anfang Juni wird er in Leipzig zum ersten mal überhaupt auf der Bühne stehen und damit sicherlich für größte Verwunderung sorgen. Da ist es verständlich, dass TESCO nun so gnädig sind, und "Un déchaînment de violence" und "Cleanshaven" als remasterte CDs, jedoch aus Gründen der Spieldauer ohne Bonusmaterial in einem Doppeldigipack neu herausgeben.
Un déchainment de violence: Schon damals besaß PROPERGOL alle Qualitäten, um im Kreise der Power Electronics-Elite begeistert aufgenommen zu werden. Es war laut, kompromisslos, vollgestopft mit aggressiven und sensiblen Samples, die eine halbe Videothek füllen würden, stets unterbewusst brodelnd, und oftmals sich gewaltigen Eruptionen hingebend. Wenn man sich das Album jetzt noch einmal, sozusagen retrospektiv, anhört, fallen einem freilich die anfänglichen Schwächen des Projektes auf. Die ersten beiden bedrohlich düsteren Stücke "The laboratory is a total wreck" und "Gruesome (chair et crochet)" kreieren natürlich eine unglaublich dichte, cineastische Atmosphäre, aber sie wirken in ihrer Aneinanderreihung aus Klangereignissen fast schon etwas willkürlich, zufällig und ebenso bilden sie nicht gerade einen optimalen Einstieg ins Album, da der noiseerprobte Hörer sich gut eine Viertelstunde gedulden muss, bis die Entfesselung der herbeibeschworenen "violence" endlich mit "Notre fin sera solitaire" eintritt. Doch auch die krachigeren Parts wirken nicht immer ganz so professionell, wie man es heute von PROPERGOL gewohnt ist. Gerade im selbstbetitelten "Propergol" und "Acte spontane" vernimmt man seltsam abgewürgte Noisestrudel, monotone und simple Effektabfolgen und befremdliche "Spielfehler", die vielmehr ein jugendliches Experimentieren mit den Geräten vermuten lassen. Ausgenommen ist hier natürlich der Hit "Fin de siècle", in welchem autoritär hingespuckte Sprachsamples und verzerrte Sequenzen in ein messerscharf schneidendes, aber sehr strukturiertes Inferno münden. Gar keine Frage, dass
Jérôme Nougaillon im Gegensatz zu vielen anderen Namen in diesem längst übersättigten Genre hier ein überwältigendes Werk zusammenflickte. Verglichen mit den späteren Alben, ist "Un déchainment de violence" allerdings deutlich weniger berauschend.
Cleanshaven: Ein Jahr später ließ das nachfolgende Album bereits die Tendenz zu rhythmisch durchdachten Noiseorgien, die stets von soundtrackartigen Collagen unterbrochen und begleitet werden, immer schärfer durchblicken. Man konnte diese unbarmherzigen siebzig Minuten gut überstehen, da sie einerseits extrem abwechslungsreich gestaltet waren und andererseits das hirnrindenstimulierende Krachspektakel mit nahezu angenehmen Schwingungen ins Blut ging. Die ersten drei, schier endlos langen Stücke beißen sich hier mit basslastiger, heftiger Inbrunst ins gemarterte Fleisch, dass man vor dieser Klangwellenübermacht ganz und gar bewusstlos wird und besonders das Titelstück besitzt mit seinen granitfesten, kontinuierlichen Schlägen fast tantrischen Charakter. Danach ist oberflächlich betrachtet eigentlich schon die Luft raus. Aber die düstere Kehrseite von "Cleanshaven" ist mit ihren bedrückenden Psycho Thriller-Szenarien mindestens genauso interessant. "Hotel Earle -a day or a lifetime-" ist so eine Art Kurzfilm für sich. Der konventionellen Bilder bedarf es hier nicht, diese synthetisieren sich über das imaginäre Storyboard, das sich wie ein Mosaik aus extrahierten Dialogfetzen, Filmmusikschnipseln und einem insgesamt ungemütlichen Ambiente zusammensetzt und im Gehörgang des Hörers entfaltet wird. "Signal H" inszeniert mit verhalten pulsierenden Sequenzen eine ähnliche Gänsehautatmosphäre und bei "Joshua's Day" kommt durch den entspannt jazzigen Groove auf düstergestrichenem Hintergrund sogar etwas
Twin Peaks-Atmosphäre durch.
Insgesamt wirkt "Cleanshaven" um einiges reifer und präziser als das Debüt, nimmt mehr gefangen und fordert mehr vom Hörer. Eine explosive Verkettung schreiender Atome, schmerzender Zellkerne, hämmernder Herzmuskeln, die hier zunächst erst ungestüm und rücksichtslos angedeutet wird, um später bei "Renegade" (TESCO, 2001) mit noch gewaltigerem Rhythmus in einen maßvollen Kontext übertragen zu werden.
Wenn es im qualitativ steinigen Power Electronics-Dschungel ein Projekt gibt, das Verzerrer und Sampler mit meisterlicher Virtuosität zu einer fesselnden, brutalen, gleichsam psychologisch tiefgründigen Einheit verquicken kann, dann ist das ohne Zweifel PROPERGOL. Da kann es auch gar nicht der Diskussion wert sein, zu fragen, ob dieses Re-Release lohnt oder nicht. Auch wenn die Erstauflagen deutlich schöner und detaillierter gestaltet sind und daher sicher immer noch gesuchte Raritäten bleiben werden, ist es durchaus gut und richtig, diese beiden Alben nun endlich weitaus mehr als nur 200 Hörern präsentieren zu können. Verdient hat es sich der vielbeschäftigte Franzose allemal, man darf gespannt sein, wie er sich im Rahmen der WGT / TESCO - Nacht zu seinem Bühnendebüt schlägt...