Bisweilen befällt mich ja immer wieder die leidenschaftliche Angst, die wenigen wirklich lohnenswerten Musikprojekte unter dieser momentanen, allgegenwärtigen Kruste der Mittelmäßigkeit und Ideenlosigkeit zu übersehen, ja überhaupt nicht wahrzunehmen. Eines dieser Projekte ist THE GRAY FIELD RECORDINGS aus Oklahoma/USA. Nun gut, übersehen habe ich dieses Mal glücklicherweise nichts. Die Entdeckung ist dabei dem 3CD-Sampler
"Gold Leaf Branches" zu schulden. Vergangenen Herbst bei
Digitalis Industries erschienen sind dort, auf über dreieinhalb Stunden Spielzeit ausgedehnt, zahlreiche Künstler der jungen "weird folk"-Generation versammelt. Abgesehen von bekannteren Namen wie
SIX ORGANS OF ADMITTANCE, den
CHARALAMBIDES oder
Marissa Nadler findet man auf diesen drei Scheiben ziemlich schräge Bands, von denen eigentlich so gut wie kein Mensch gehört haben dürfte, die aber nahezu ausnahmslos wahnsinnig interessant und empfehlenswert sind, wie eben auch THE GRAY FIELD RECORDINGS. Wer also von all dem eintönigen Camouflage-3-Akkord-Neofolk und Poser-Industrial verständlicherweise gelegentlich etwas Abstand braucht, dem ist diese eben erwähnte große Sammlung traditioneller und avantgardistischer Folkklänge ohne Bedenken ans Herz zu legen. Aber das nur so am Rande.
Nun zum Eigentlichen: "Hypnagogia" dürfte inzwischen schon über ein Jahr alt und also auch gar nicht mehr aktuell sein, aber das soll uns ja grad nicht scheren. Im Gegenteil, es wäre ein bitterer Verlust, dieses Album unserer Leserschaft vorzuenthalten.
Hinter THE GRAY FIELD RECORDINGS verbirgt sich
Rebecca Loftiss, die mehrere akustische Instrumente und elektronische Gerätschaften beherrscht und bedient und es dem Hörer erfreulicherweise nicht allzu einfach macht, ihre exzeptionellen Klanglandschaften pauschal zu kategorisieren. Ihre Musik lebt von einer dunklen, bittersüßen Poesie, angereichert mit gezupften Gitarrensaiten, alchemistisch verdichteten Atmosphären, altmodischen Perkussionsintermezzi und kosmischen Ausflügen ins weite, entedeckungswürdige Feld der Avantgardecollagen. Das Ganze ist dann auch mehr experimentell zusammengewürfelt als einem strukturierten Songcharakter verhaftet, mit einer gewissen Schräglage, die interessant macht. Mit "Hypnagogia" erwartet den Hörer ein gefährlich-schlafwandlerisches Unterfangen, das mit feinsinnigsten Tastorganen die Lamellen surrealistischer Traum- und Albtraumkonstrukte abzugreifen wagt. Manchmal glaubt man, die geflüsterten Worte, die ätherischen Gesänge, die Resonanzen des okkulten Schabens dringen aus einer geisterhaften Sphäre hinüber in die unsrige Wirklichkeit, wo sie von einem düsteren Schleier verhangen duftig umherschweben. Insgesamt werden diese elf Stücke von einer überraschend britischen, letztendlich aber auch durch und durch befremdlichen, nostalgischen Stimmung getragen, die wunderliche, kontrastierte Bilder hervorruft. Wie eine verschwommene Welt voller Melancholie und mittelalterlicher Pestilenz, Trauermärsche mit Gasmasken, vorbei an rauchenden Fabrikschloten, England um 1900, aber auch herbstliche Jugendstil-Wildgärten, geheimnisvolle Gebete zwischen Nacht und Tag und Kränze welkender Blumen. Zum größten Teil stützt sich das Album auf ein folkloristisches Grundgerüst, das nach außen hin jedoch soweit geöffnet ist, dass manche Passagen ("In Exodus", "Creeping") die lunare Beschaffenheit der letzten
COIL-Alben zu vergegenwärtigen vermögen oder kopfüber in eine dickflüssige Drone-Ambient-Schicht ("Prelude To An Alchemical Wedding") eintauchen. "Forty White Horses" und "Nancy's Song To Charlie" machen samt Banjo und Violine einen deutlich traditionelleren Eindruck, fast schon wie eine sachte, verhaltene Hommage an
CURRENT 93, mit einem wundervoll gehauchten, femininen Gänsehautsprechgesang, der einen ebenso tief im Innersten packt. Dies ist die Vertonung apokalyptischer Prozessionen, die, mit subtiler Dramatik um die eigene Achse gewunden und nicht aus bereits existierenden Klischeequellen schöpfend, nach völlig eigenen Gesetzmäßigkeiten funktionieren. Die bedrohlichen Klangflächen, die prickelnden elektronischen Zaubereien und das elegische Saitenspiel, sie stehen hier nicht neben- oder gegeneinander, sie sind vielmehr in einen merkwürdigen Schmelztiegel akustischer Verzückungen wie Beunruhigungen geraten. Berauschend wirkt es vor allem bei "Passiflora", wenn ein unbarmherziges Noisegewitter über das neoromantische Lied hereinbricht und dennoch diesem sinnlich-ästhetischen Funken im Hintergrund Luft genug zum Glühen bleibt.
Nach zwei eher halb
offiziellen CD-R's hat Miss
Loftiss mit Hilfe von Labelkollegen Justin Jones ein mehr als ambitioniertes Meisterwerk avantgardistischen Folks aufgenommen, das zumindest in Kennerkreisen völlig zurecht mit Lob überhäuft wurde. Erstaunlich und eigentlich unfassbar, dass diese Veröffentlichung zunächst nur den 123 Besitzern der Erstauflage zugänglich war. Inzwischen bieten
Woven Wheat Whispers, eine Unterorganisation des ehrwürdigen, lesenswerten Wyrd-Folk Online-Kompendiums
The Unbroken Circle, das Album kostengünstig zum legalen und autorisierten Download an, um THE GRAY FIELD RECORDINGS (und übrigens vielen anderen jungen Künstlern...) wenigstens einen kleinen Teil der Aufmerksamkeit zu ermöglichen, die dem Projekt eigentlich zustehen sollte. Die CD-R Auflage in versiegeltem und mit Stempeldruck versehenem Papp-Gatefoldcover ist dagegen ausverkauft.
Wer CURRENT 93, COIL,
ORCHIS und
IN GOWAN RING nicht nur kennt und hört, sondern wirklich innigst liebt, für verschrobene Atmosphären ein offenes Ohr hat und wem bei düsterer, aber ungruftiger Fin-de-siècle Romantik die Abenteuerlust packt, wird THE GRAY FIELD RECORDINGS als große Entdeckung feiern können.
Diskographie: -> "As One Cast Down By Sadness" | CD-R | 2001 | ausverkauft!
-> "Sing 99 And 90" | CD-R | 2003 | ausverkauft!
-> "As One Cast Down By Sadness / Sing 99 And 90" | CD-R | Ethedrone Muzac 2005
-> "Hypnagogia" | CD-R | Anticlock Records 2005 | ausverkauft!