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NONPOP - Artikel > Rezensionen > Tonträger > V/A:Diacetylmorphin



Roy L.

V/A:Diacetylmorphin

horses are riding... into her arms.


V/A:Diacetylmorphin
Genre: Ambient/Noise
Verlag: Dystonia
Vertrieb: Steinklang
Erscheinungsdatum:
März 2006
Medium: CD
Preis: ~12,90 €
Kaufen bei: Steinklang...


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Spätestens seit der plakativen angloamerikanischen Formel "sex, drugs & rock'n'roll" sind diverse halluzinogene und sedative Wirkstoffe mit dem unzähmbaren Begriff der "Jugendbewegungen" aufs engste miteinander verbunden und ja sogar zum wesentlichen Unterscheidungsbestandteil musikalischer Couleur geworden. Schon von Anfang an aber hat sich in diesen subkulturellen Kreisen sozusagen die Relation zwischen Objekt und Gegenständen verändert, so dass die Droge an sich von der bloßen Begleiterscheinung der "Musikszenen" zur Hauptmotivation des Zusammentreffens und der Begegnung mutierte. Das ist freilich keine überraschende oder unerwartete Entwicklung und ebenso sind diese synthetischen oder nativen Substanzen um einiges älter als das joviale Gebaren der Beat-Generation. Ohne Frage aber hat die Drogenproblematik in der heutigen Zeit die sozialen Toleranzgrenzen geflutet. Drogen schaffen Milieus und ohne dabei auf qualitative Charakteristika zu achten, kann man den obdachlosen Säufer genauso wie den intellektuellen Kiffer in für sich abgetrennte, einzelne Mikrokosmen einordnen. Im Moment vergrößern sich diese Zonen derart oder überlagen sogar einander, dass das Bewusstsein gegenüber Drogen allgemeingesellschaftlichen Status erreicht hat. Jaja, da wird es also höchste Zeit, dass wir uns hier bei Lichttaufe auch dem Zeitgeist fügen und diesen "Stoff" durchkauen. Immerhin, Anlass dazu gibt uns ein von Ronny Herling (TARDIVE DYSKINESIA) zusammengestellter Sampler mit dem selbstverständlich programmatischen Titel "Diacetlymorphin", im Vertrieb von Steinklang erschienen. Auf den ersten Blick erweckt dieses Projekt einen seltsam ridikülen Fingerzeig-Eindruck. Mit "Drugs dehumanize, disable and kill!" hat man sich ein doch recht tendenziöses Motto erwählt, bei dem ich mich immer noch wundere, ob es so ganz ernst gemeint ist. Jedenfalls erscheint es äußerst merkwürdig, dass sich die neue Industrialgeneration so dogmatisch und selbstgerecht gegen die eigenen subkulturellen Ursprünge aus der Gosse und dem echten Untergrund auflehnen könnte. Eine post-industrielle Antidrogenkampagne wäre da fast schon so etwas wie Vatermord. Nun, wie dem auch sei, die Kataloglisten der Szenemailorder sind mit dieser Scheibe mal wieder um einen Konzeptsampler reicher und wir sollten uns nicht den Kopf darüber zerbrechen, dass Herr Herling gesehen hat, "was Drogen aus Menschen machen können". Gesehen haben das schon ganz andere.
Auf der musikalischen Seite gibt es hier, das muss ich leider so sagen, weitaus weniger zu berichten. Das eigene Projekt des Kurators TARDIVE DYSKINESIA bietet an sich gar nicht mal so üblen, atmosphärischen Ambient-Industrial mit einer reichlichen Portion zynisch-prophetischer Filmsprachsamples, im Stile ganz alter und damals noch hörenswerter Ant-Zen oder Hands Veröffentlichungen. Trotzdem, so etwas lief alles schon zigmal bei mir im CD-Player und ich kann im Moment absolut keine Innovationsfreude in diesem Genre ausfindig machen. Gleiches gilt für die schlicht verzerrten Ambientflächen von LEICHE RUSTIKAL, die einem nüchtern wirklich nicht vom Hocker reißen. Interessanter sind da schon die beiden Stücke des THOROFON Nachfolgeprojektes THE MUSICK WRECKERS. THOROFON starteten vor ein paar Jahren quasi als zweite GENOCIDE ORGAN mit heftig wummernden Power Electronics Hymnen und intelligent-anarchischer "war against society" - Agitation. Später hat sich mit der Besetzung dann auch leider der Stil verändert und inzwischen ist man wohl oder übel bei 80er-inspiriertem Angst-Pop angekommen. Da war es natürlich konsequent, THOROFON zu begraben und die Arbeit unter anderem Namen fortzusetzen. Die beiden Stücke für diese Veröffentlichung intonieren einen höllischen, schlechten Trip, schwebend zwischen kurzzeitiger Euphorie und dem steinharten Boden der Realität. Musikalisch gesehen versprühen sie als einzig lohnenswerte Entdeckung auf diesem Sampler viel "coolen" old-school Flair, gespickt mit einigen elektronischen Spielereien, die man auch bei COIL abgeschaut haben könnte. Das 14minütige, verhalten pulsierende, völlig nervraubende Minimal-Ambientechno Delirium von ATROX ist da eher der goldene Schuss in den Ofen. Mindestens genauso nervig und auf die Dauer sogar ziemlich öde hören sich die Wutausbrüche des amerikanischen Noise Projekts CONTROL an. Trotz den unverständlich, heiser gebrüllten, aggressiven Vocals fehlt auch hier das gewisse Etwas, das andere "Bands" wie GREY WOLVES, CON-DOM oder SURVIVAL UNIT aus der schieren Masse der Agitprop-Nihilisten hervorstechen lässt.
"Diacetylmorphin" ist mit größtenteils ermüdenden Kompositionen nicht wirklich ein Pflichtkauf, allerhöchstens für die Betondiso Süchtigen mit einer Schwäche für Kopfhöreratmosphären. Thematisch verarbeitet dieser Sampler sein Konzept, genauso wie jede andere Industrial Veröffentlichung, mit abstrakten Klangcollagen, denen ein direkter Bezug zum Inhalt nicht immer primär gegeben ist. Wer sich wirklich auf dem Wege der Musik der Drogenproblematik kritisch nähern möchte, sollte sich vielleicht lieber mit "Horsey" von CURRENT 93 oder "Addiction" von SKINNY PUPPY vertraut machen.


 
Roy L. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» Dystonia Recordings
» Steinklang

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Zusammenfassung
Eine musikalisch allzu trockene (Pseudo-)Antidrogenkampagne mit viel Ambientkrach und wenig Ekstase. Einen Hauch von Charme verdankt der Sampler den beiden stilvollen Beiträgen des Thorofon-Nachfolgers The Musick Wreckers.

Inhalt
TARDIVE DYSKINESIA
Learn To Be Weak
Little Boy
ATROX & MS'SM
14min Delirium
THE MUSICK WRECKERS
Gliding Down (The Needle) / Open Sky
Shake / Back Into The Mud
LEICHE RUSTIKAL
Synapses
Äther
CONTROL
Fiending
Rise Against

66min

DYS003 / SKD 11 | Jewelcase
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