Ein in einer von seinem Bruder gegründeten Kommune lebender zwölfjähriger Waisenjunge erfährt erstmals seit Jahren wieder so etwas wie mütterliche Zuneigung, als eine neue Mitbewohnerin einzieht, die allerdings ob ihres Körperumfanges zum Objekt des Spottes seitens der anderen Hausbewohner wird. Ein von seiner Mutter stets als Baby behandelter junger Mann sehnt sich nach nichts mehr, als alle Eigenverantwortung abzulegen und wieder in den deren Schoß zurückzukehren. Eine frustriere Autorin geht eine Affäre mit ihrem Hausaffen (!) ein. Ein Millionär verliebt sich in eine Schaufensterpuppe, nimmt sie mit nach Hause und versucht, ein ganz normales Eheleben mit ihr zu führen. Ein Autor beginnt, in der heranwachsenden Tochter seine geschiedene Frau zu sehen, deren Reife stetig zwischen Kind- und Frausein oszilliert...
Wenn es eine Konstante in den hier versammelten frühen Kurzgeschichten Ian McEwans gibt, sind es die Obsessionen und sexuellen Unsicherheiten, die den Protagonisten zu schaffen machen und denen minutiös nachgegangen wird. Allerdings wird der Leser nicht zum Voyeur, bemüht sich McEwan doch, die psychischen Untiefen und den dem Menschen innewohnenden Zweifel ob seiner eigenen Identität herauszuarbeiten, anstatt sich an ihnen zu weiden. Insofern wundert es auch nicht, wenn mit "Gespräch eines Schrankmenschen" eine praktisch ungebrochene Literarisierung der ödipalen Tragödie ihren Weg in die Anthologie gefunden hat, und auch der Erzähler in "Zwischen den Laken" ist sich nicht sicher, inwieweit seine Tochter wirklich nur seine Tochter ist, oder ob da vielleicht nicht noch andere Schwingungen zwischen ihnen herrschen... Selbst wenn Freuds Einfluss in sämtlichen Miniaturen nicht von der Hand zu weisen ist, wird er doch nirgends so deutlich wie in diesen beiden Geschichten, und neben ihm ist als Haupteinfluss des jungen McEwan gleichberechtigt höchstens noch Franz Kafka zu nennen, denn abgesehen vom Hin- und Hergeworfensein durch die eigene Sexualität stellt die Entfremdung des Menschen von seiner Umwelt die zweite Säule der Geschichten McEwans dar. Selbst wenn die Charaktere Bezugspersonen besitzen, ist dieses Verhältnis doch ein brüchiges, wenn nicht gar ein von vornherein mit Brüchen existierendes. Eine unausgesprochene, doch unter der Oberfläche spürbare Distanz herrscht auch in den intimsten Situationen, die letztlich jeden isoliert und bis zu einem gewissen Grade beliebig agieren lässt. Und sollte ein Verhältnis einmal im Augenblick, da es gelebt wird, harmonisch erscheinen, findet sich im Nachhinein stets ein Grund, es infrage zu stellen. Natürlich sind McEwans Geschichten heute nicht mehr so anstößig-aufsehenerregend wie vor 30 Jahren, doch sind und bleiben sie gelungene Psychogramme von Exemplaren einer Spezies, die ihre eigenen Untiefen allzu gerne ignoriert oder mit "Zivilisiertheit" überspielt. Man sollte sich übrigens nicht von der Umschlaggestaltung abschrecken lassen: Denn auch wenn das Bild einen leicht verdaubaren Frauenroman für den Sommerurlaub nahe legt, könnte eine solche Vermutung doch nicht falscher sein.
Micha W. für nonpop.de
Verweise zum Artikel: » Die offizielle Homepage Ian McEwans
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Zusammenfassung
Ian McEwan: Letzter Sommertag. Kurzgeschichten.
Inhalt
Letzter Sommertag
Gespräch mit einem Schrankmenschen Erste Liebe, letzte Riten Betrachtungen eines Hausaffen Zwei Fragmente: März 199- Samstag Sonntag Der kleine Tod Zwischen den Laken Hin und Her Psychopolis |