Eine faszinierende, inzwischen schon etwas ältere Science-Fiction Geschichte ist mir kürzlich wieder in die Hände gefallen. Angeregt von Motiven des Märchens „Die Schneekönigin“ hat Joan D. Vinge einen atmosphärisch dichten Roman geschaffen, der sich an der Grenze zwischen SF und Phantastik bewegt. Da die Handlung zu vielschichtig ist, um sie in wenigen Sätzen erschöpfend zusammenzufassen, sei nur kurz die Grundkonstellation der Geschichte umrissen: Es ist Winter auf Tiamat, einer vortechnologischen Welt, die einen Doppelstern unweit eines Schwarzen Lochs umkreist. Die Außenweltler benutzen diese „Schwarze Pforte“ als eine Abkürzung zwischen den Welten der Hegemonie. Nun jedoch steht das Schwarze Loch kurz davor, in eine aktive Phase zu geraten, die es für Reisezwecke zu gefährlich machen wird. Die Außenweltler bereiten sich darauf vor, den Planeten zu verlassen. Zudem geht auf Tiamat die 150 jährige Herrschaft des Winters zu Ende; es wird Sommer, und die Sommerkönigin wird traditionsgemäß die Macht übernehmen. Doch die Schneekönigin Arienrhod, die sich ihre jugendliche Schönheit mit Hilfe eines auf grausame Weise gewonnenen Unsterblichkeitselixiers bewahrt hat, ist nicht gewillt, sich nach altem Brauch mit ihrem Liebhaber den Fluten zu opfern und der neuen Herrscherin zu weichen. Sie ersinnt einen raffinierten Plan, um an der Macht zu bleiben. An der Küste des Meeres, fernab von der Hauptstadt Karbunkel, in der die Schneekönigin regiert, wachsen Mond und Funke auf. Sie sind einander in tiefer Liebe verbunden und schwören sich ewige Treue. Mond jedoch wird von der Göttin auserwählt, eine Sybille, eine Trägerin der Weisheit, zu sein. Wütend verlässt Funke, der zur Hälfte ein Außenweltler ist, seine Geliebte um in Karbunkel sein Glück und vielleicht die Wurzeln seiner Herkunft zu finden. Mond, Ebenbild der Schneekönigin ohne dies zu wissen, bricht auf, um Funke in Karbunkel zu suchen - wird dabei jedoch durch eine unglückliche Verkettung von Umständen in die Außenwelt verschlagen. Während auf dem Überlichtflug für sie fünf Monate vergehen, verstreichen auf Tiamat für Funke fünf Jahre. Als sie einander wiedersehen, haben sie beide und ihre jeweiligen Leben sich drastisch verändert - die mächtige Schneekönigin hat ihre Hände dabei im Spiel - doch Mond versucht, fast wider besseren Wissens, ihre Liebe, und auch ihr Volk, zu retten. Veränderung, so könnte man das Grundthema dieser Geschichte auf den Punkt bringen, denn innerhalb der Erzählung über den Wandel von Winter zu Sommer als eine Art äußerer Rahmen, sind die zahlreichen Charaktere, deren Schicksale auf vielfältige Weise miteinander verflochten sind, der Macht verändernder Erlebnisse und Ereignisse unterworfen. Man deutlichsten offenbart sich dies bei Mond und Funke. Für sie beide ist das Verlassen der ihnen vertrauten, beschaulichen und überschaubaren Inselwelt ein Aufbruch in ein hochkomplexes Universum - und ein Aufbruch für immer. Mond wird auf ihrer Raumreise von einem naiven Sommermädchen zu einer erwachsenen Frau, die um die wahre Natur des Sibyllennetzwerkes weiß. Funke indes erliegt, nachdem er Mond verloren glaubt, der Faszination der Schneekönigin, wird ihr Geliebter, wird zum Verbrecher und Mörder. Einher mit dem Thema Veränderungen geht die Frage nach Identitäten: Winter oder Sommer, halber Außenweltler, Kopie und Original, Verrat und Verlust - und die Möglichkeit des Findens oder Wiederfindens. Kennzeichnend für dieses Spiel mit Identitäten sind die Masken und Maskenbälle, welche die Handlung durchziehen. Und nicht zu letzt geht es um Freundschaft – und um Liebe. Eine komplexe, stark ineinander verflochtene Handlung also, in die auch die Welt außerhalb Tiamats einbezogen, die Ansätze eines phantastischen und phantasievollen Universums gezeichnet werden, das in den beiden Nachfolgebänden „Die Sommerkönigin“ Teil 1 und 2 weiter ausgebaut werden wird. Wie eingangs erwähnt, war das Märchen „Die Schneekönigin“ eine Inspirationsquelle der Autorin – und tatsächlich kann man, reduziert man die Handlung auf einen Kern, in Funke und Mond die Kinder Kay und Gerda aus dem Märchen wiedererkennen: Funke/Kay, der in den Bann der Schneekönigin gerät und Gerda/Mond, die sich aufmacht um ihn zurückzugewinnen. Spannung entsteht auch aus dem Kontrast, der sich aus der vortechnologischen Welt Tiamat, und den hochtechnisierten Planeten der Hegemonie ergibt. Zwei einander entgegengesetzte Welten, auf Tiamat selbst symbolisiert durch Sommer und Winter, prallen aufeinander – aber es gibt auch Vermischungen von Mythologie (teilweise offenbar an keltische Motive angelehnt, wie Namen wie Arienrhod und Blodwed vermuten lassen), Religion und Technologie, kennzeichnend dafür ist das Konzept der Sibyllen. Die ersten Seiten benötigen ein wenig Anlauf, ehe die Grundkonstellationen aufgebaut und die Charaktere vorgestellt sind, die Handlung an Fahrt gewinnt und sich verdichtet. Der Eindruck einer etwas anstrengenden Newage Esoterik, der durch Sibyllen und Muttergöttin anfangs entstehen könnte, bestätigt sich im Folgenden glücklicherweise nicht, denn wie gesagt, das Geheimnis der Sibyllen ist ein gänzlich anderes, ihre wirkliche Bedeutung enthüllt sich nur langsam. Das mag zunächst etwas verwirrend sein, ist aber Teil eines faszinierenden Konzeptes, das wichtig für den gesamten Roman ist. Ein schönes Science-Fiction Märchen, von dem ich hier nur andeuten kann, was man interpretatorisch noch herausholen könnte (Sommer/Winter-Gegensatz, ewiges Leben, ewige Schönheit und der Preis dafür, um nur einiges anzureißen) und nicht zu Unrecht Gewinner des Hugo Awards 1981.
Claudia K. für nonpop.de
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Zusammenfassung
Die Schneekönigin, Roman, Heyne Verlag
Inhalt
Als auf Tiamat der 150jährige Winter zuende geht, sollen die Schneekönigin und ihr Liebhaber traditionsgemäß dem Meer geopfert werden...
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