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Roy L.

MAGPIE Magazine #3

inserting magic into daily life...


MAGPIE Magazine #3
Genre: Weird Folk
Verlag: Magpie Magazine
Erscheinungsdatum:
Mai 2008
Medium: Zeitschrift
Preis: ~6,34 €
Kaufen bei: Magpie Magazine


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Abwegiges aus dem Makrokosmos: die Auspizien einer neuen Generation von Beerensammlern, Hirschfrauen und Waldgängern.
Das MAGPIE MAGAZINE ist trotz des Namens und trotz der vielen liebevoll integrierten Vogelzeichnungen nur auf den ersten Blick ein Blatt für Hobby-Ornithologen. Das Heft wird handgefertigt, handkopiert und handversendet, von Nest zu Nest sozusagen und manchmal über Ländergrenzen und Ozeane hinweg. Herrin über alle Vogelzüge ist die junge Engländerin MICHAELA OVERLAND, die seit zwei Jahren mit ihrem Fanzine die „Freak Folk Revolution“ in Wort und Bild dokumentieren möchte.
Vor kurzer Zeit erschien nun die dritte Ausgabe des Hefts und deren Inhalt fügt sich fast wie ein kleines Brevier für Vogelsucher und Stadtflüchtige aller Arten zusammen: Gedichte, Zeichnungen, Photographien, Kurzprosa, Glossen und sonstige Textfragmente, denen sämtlich Waldduft und Frischluft entströmt. Und in ihnen allen erklingt die Zaubersprache einer jungen Generation von Schaffenden, die das Vorgefertigte, das Leblose und Zynische in der Kunst der letzten Jahrzehnte ablehnen. Die Formel lautet geradezu einstimmig Rückkehr zum Naiven, Unschuldigen, zum Vitalen und Organischen, zum Pulsschlag von Mutter Erde, zur immer schon von sich aus wuchernden Ornamentik der Natur und zu einer Kunst, die nur sich selbst gehört.
Und eingehüllt in moosumrankte Kleider, bestückt mit Laub und Federn, umflochten von Gezweig und umwoben von Spinnenseide, geschmückt mit Beeren und Blütenblättern, sind es vor allem schlichte Märchen, Kindergeschichten oder Erzählungen aus der Folklore, die reichhaltig Material für das Magpievolk liefern. JULIA MINNEAR erzählt von einer alten, verbittern Jungfer, die, missmutig aller Natur gegenüber, niemals das Haus verlässt und in deren Schlafzimmer sich eines Morgens eine Schar von Sperlingen einnistet, die sich täglich vermehrt und die Alte in Angst und Schrecken versetzt. Keine Horrorgeschichte, natürlich nicht, denn nachdem das Getier mit Hilfe des Dorfpfaffen ausgetrieben wurde, beginnt die alte Frau 'etwas' in ihrem Leben zu vermissen. Also streut sie Brosamen aus dem Fenster und die Vögel kehren nach und nach zurück.
Es ist dieses Moment des Wieder-Kontaktaufnehmens zwischen den Welten, zwischen Mensch und Natur, das hier immer wieder eine Rolle spielt, mit der Tendenz zur Vereinigung der beiden Sphären. Eine sehr schöne kurze Geschichte der Herausgeberin Michaela Overland handelt von der symbolischen Verwandlung einer jungen Frau in eine 'Hirschfrau'. Die Metamorphose vollzieht sich im Schlaf, also in einer Dimension, in der die Kommunikation eher magischen als logischen Gesetzen folgt. Der tödliche Pfeil des Jägers, der ihr eines Tages das Herz durchbohrt, wird eigentlich zum verwundenden Pfeil Amors, einer ganzen universalen Liebe. Denn der Jäger, das Antlitz einer jungen Frau erkennend, harrt nächtelang weinend über sein Opfer gebeugt aus. Solang bis die beiden, in einen Kokon eingesponnen, eine weitere Verwandlung eingehen: eine Art Kommunion der Geister des Jägers und der Hirschfrau.
All diese Textbeiträge bewegen sich sprachlich auf einem angenehm hohen Niveau, ein schönes poetisches Englisch, das von einer ganz waldigen Metaphorik und Klangfarbe durchsetzt ist, die sich den symbolistischen und neo-romantischen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts nähert. Aber auch die beigefügten Illustrationen haben ihre Wurzeln vor allem im viktorianischen Zeitalter. Gerade die Bilder von EVELINE TRAUNADJAJA orientieren sich sowohl im Stil als auch in den Motiven an den schlichten, flächigen Formen des Jugendstils, der ohnehin gerade nach der ersten Wiederbelebung in den späten Sechzigern nun seine zweite Renaissance zu erleben scheint. Beim Durchblättern des Hefts gleitet das Auge sanft über naive Vogelzeichnungen, feenhafte Gestalten, düstere Waldnymphen und LARA LEAFs zauberhafte Selbstporträts mit viel Blumen und Schmetterlingen im Haar. Schon DONOVAN wusste: „the magpie is a most illustrous bird.“
Dass hier alles mehr oder weniger rhizomatisch ineinanderwächst, dass Inhaltsverzeichnis und Seitenzahlen gänzlich fehlen, stört dabei im Grunde überhaupt nicht. Im Gegenteil, so stößt man hin und wieder fast überraschend auf ein paar musikalische Farbtupfer: ein kurzes Interview mit Amerikas düsterster Folk-Chanteuse MARISSA NADLER, ein interessantes Gespräch über Landschaft und Inspiration mit dem Weird-Folk Nachwuchs ARBOREA und ein paar einzelne Plattenkritiken – ebenso allesamt dem Folkkosmos entnommen und immer mit 'gefühlvollen' Untertönen abgefasst. Auch hier greifen die Einzelheiten sehr harmonisch ineinander und so nach und nach stellt sich das Gefühl ein, dass alles, was seit Ende der Neunziger in den Staaten immer wieder unter dem nebulösen Begriff „new weird america“ zusammengefasst wurde und was inzwischen auch großflächig auf England und Kontinentaleuropa übergegriffen hat, tatsächlich mehr zu sein scheint, als nur ein musikalisches Genre.
Auch wenn viele dieser Bands und Solisten (und bezeichnenderweise gerade nicht die Interessantesten) schon in ein Areal vorgedrungen sind, das seit Jahren unter dem Namen „Indie“ im Dunst der Belanglosigkeit verwest, so bleibt doch ein fester Kern des neuen Folks unter sich und baut die Alternativen zu den Alternativen. Und vielleicht ist es nun wirklich einmal an der Zeit, bei genau diesen Leuten von einer richtigen „Bewegung“ zu sprechen, denn gerade ein Heft wie das MAGPIE, das nicht in erster Linie auf Musik ausgerichtet ist, zeigt sehr schön, was sich hier alles an der Peripherie dieser Szene anlagert: eine starke Betonung des Organischen und Natürlichen im Kleidungs- und Lebensstil, ein immenses Vertrauen in Folklore und Tradition, auch eine Art Bekenntnis zum Anachronismus und ein großes Abstandhalten zu allem Bürgerlichen, Künstlichen, Abgestorbenen.

Ich möchte außerdem nicht verheimlichen, beim letzten Satz eben den geistigen Überbau von FORSETI genauso sehr wie den von JOSEPHINE FOSTER oder SHARRON KRAUS im Sinn gehabt zu haben. Tatsächlich ist hier der „Neofolk“ auf der anderen Seite des Ozeans nicht allzu weit entfernt, nur dass „unsere“ Troubadoure immer auch auf okkulten und obskuren Pfaden wandern müssen und zwischendrin hin und wieder „Europa!“ rufen. Das ist ganz normal und recht so, doch vielleicht sind beide, Weird- und Neofolk nur zwei Seiten eines einzelnen Blattes.
Die Überlegung ist nicht abwegig. Außerdem ist man als Abendländer zum Guten oder Schlechten immer auf Dualismen aus. Auf der Seite des Vogelvolks fiele dann der deutlich feminine Charakter auf, das eher intuitiv Suchende, die warme behütende Stimme und ganz zentral: das Lunare, Erdgebundene. Die Redaktion des MAGPIE MAGAZINEs setzt sich sicher nicht aus Zufall überwiegend aus Autorinnen und Illustratorinnen zusammen. Man denke auch an die auffällige Überzahl der Sängerinnen und der von Frauenstimmen dominierten Bands im Weird Folk-Bereich. Bei Aufnahmen von STONE BREATH, FURSAXA oder EX REVERIE spürt man dazu seltsamerweise eine ständige, nur schwer in Worte zu fassende Präsenz des Mondes. Die ESPERS singen auf ihrem zweiten Album gar „moon occults the sun“. Dagegen steht im Post-Noddy-Apocalpyse-Neofolk (wie sollte man es anders begrifflich fixieren?) natürlich klar das Prinzip der „unsterblichen Sonne“, Frauenstimmen sind in den meisten Gruppen nur ein nicht-obligatorischer Bonus (in manchen Fällen auch ein Malus) und der gelegentliche Waldgang fällt hier eben nicht als besinnliche Stadtflucht im real-empirischen Forst aus, sondern als geistiges Auf- und Niederschreiten (bei manchen Kameraden ist es leider ein einziges Niederschreiten) auf Heidegger'schen Holzwegen, auf denen Musik auch Schicksalsklang, auch Geschichte, Metaphysik und Glaube bedeuten kann.
Dennoch spielt sich beides von Grund auf im selben Kosmos ab, nur die Perspektiven sind verschieden, manchmal sogar konträr, so dass sich Risse und Brüche im Gesamtbild ergeben. Aber auch an Brückenbauern und Wanderern zwischen den Welten hat es bisher noch nie gefehlt; zu erwähnen wären etwa ORCHIS, IN GOWAN RING, auch THE GREEN MAN aus Italien oder GRAUMAHD und WERKRAUM aus dem deutschsprachigen Raum.


Interessanterweise betritt im Augenblick auch MARGIE WIENK (FERN KNIGHT) mit ihrem kürzlich erschienenen, unbetitelten Reifewerk gedankenschweres Terrain. Ihre aus drei Teilen bestehende „Magpie Suite“, die das neue Album beschließt, kündet in apokalyptischem Tonfall vom Niedergang eines ehemals blühenden Paradieses - „all is lost / and all will run / waking nightmare“. Im MAGPIE MAGAZINE legt sie in einem kleinen Aufsatz musikalische und textliche Erläuterungen zu ihrem Liederzyklus dar, die zwar ausführlicher hätten ausfallen können, aber zumindest noch einmal anzeigen, dass hinter dem Heft durchaus Stellung bezogen wird. An jeder Ecke ahnt man hier die kategorische Forderung „world turn green“ und magische Verknüpfungen zwischen Mensch und Natur bewirken, dass die Um-welt wieder zur Mit-welt und Innen-welt wird.
Magie dringt auch aus dem sympathischen Interview mit der Londoner Bedroom-Songwriterin ALESSI, die selbst im Alter von vierzehn Jahren ihr erstes handgefertigtes Fanzine in einem Waschsalon liegen ließ. Worum es ihr dabei ging und worum es unausgesprochen auch den Künstlern hinter dem MAGPIE MAGAZINE zu gehen scheint, findet Ausdruck in einer schlichten, aber programmatischen Formel: „inserting magic into daily life“. Und mit Verlaub, das tut das Heft sehr wohl.
Die dritte Ausgabe des MAGPIE MAGAZINEs liegt im A5-Format als Farblaserdruck vor. Zu beziehen ist sie direkt bei der Herausgeberin für einen Unkostenbeitrag von £5. Von den anderen beiden Ausgaben ist leider nur noch die zweite erhältlich. 

 
Roy L. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» Magpie Magazine

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» MAGPIE MAGAZINE #5

Themenbezogene Newsmeldungen:
» Die vierte Ausgabe des Folkmagazins MAGPIE ist da!

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Kommentare
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Sehr gut ...
(20-06-2008, 16:36)
... nicht dass ich etwas anderes erwartet hätte - ich entwickel mich zum Fan deiner Texte - und das, obwohl mir das Thema nicht besonders nahe liegt (ich höre schon wieder Elfen trapsen!) - ABER, mein lieber Roy, du schreibst da etwas von den "schlichten, flächigen Formen des Jugendstils"?! Hihi, also 1. bin ich mir nicht sicher, was man oder auch du unter flächigen Formen versteht, 2. zeichnet sich der Jugenstil ja eher durch eine gewisse Strenge und seinen Hang zum Ornamentalen aus, 3. kann von schlicht nun wirklich nicht die Rede sein, also zumindest Sachen wie Beardsley (den man ja als typischen Vertreter betrachten darf) sind alles andere --- http://www.artchive.com/artchive/b/beardsley/beardsley_venus_tannhauser.jpg

Dein Besserwessi

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