Das Wichtigste zuerst: ANTON CORBIJNs Verfilmung des Lebens von IAN CURTIS ist ein gelungenes und sehenswertes Werk geworden, das keinen Fan enttäuschen wird. Das wird erst recht evident, wenn man "Control" (der Titel verweist auf den JOY DIVISION-Klassiker "She's Lost Control Again") mit anderen Biopics über Größen des Showbiz wie "Great Balls of Fire" (JERRY LEE LEWIS), "Walk The Line" (JOHNNY CASH) oder "The Doors" (JIM MORRISON) vergleicht. Ein Problem solcher Filme ist häufig der Umstand, daß die realen Vorbilder selbst so häufig vor der Kamera standen, daß ein ständiger Vergleich mit dem agierenden Schauspieler im Hinterkopf des Zuschauers unvermeidlich ist. Das hat beispielsweise OLIVER STONEs Film für mich stark beeinträchtigt; statt JIM MORRISON sieht man vor allem VAL KILMER dabei zu, wie er versucht, den "Lizard King" zu parodieren. Von Ian Curtis gibt es relativ wenig Filmmaterial, das meiste davon in schlechter Qualität, anderes, wie der Konzert-Film "Here Are The Young Men", war lange Zeit schwer greifbar. SAM RILEY in der Rolle des Frontmanns von JOY DIVISION hat eine unaufdringliche Präsenz; zum Teil sieht er seinem Vorbild geradezu unheimlich ähnlich. Zusätzlich hat Corbijn im Gegensatz zu Oliver Stone nicht versucht, seinen Protagonisten zu mystifizieren, er holt im Gegenteil die Kultfigur Ian Curtis ins Menschliche zurück. Curtis tauchte als Filmfigur bereits in MICHAEL WINTERBOTTOMS "24 Hour Party People" (2002) auf. Der Film war ein aberwitziges, poppig-komödiantisches Porträt TONY WILSONs, des legendären FACTORY-Produzenten, der im Vorjahr verstorben ist. Ungefähr ein Drittel des Films dreht sich um den Aufstieg von Joy Division. Es ist reizvoll, die beiden Filme zu vergleichen, zumal zum Teil dieselben Lieder als nachgespielte Gigs auftauchen, so etwa der Song "Digital" (von dem es wiederum eine Original-Konzertaufnahme gibt; "Control" siehe hier, und "24 Hour Party People" hier; in "Control" wurden alle JD-Lieder bis auf zwei Ausnahmen von der "Filmband" selbst eingespielt). In beiden Filmen wird der halb wahnsinnig wirkende Curtis der JD-Konzerte mit unheimlicher Akkuratesse nachgespielt - der eigenartige Tanzstil, die besessene Miene, die "spastischen" Zuckungen. SEAN HARRIS hat allerdings physisch weniger Ähnlichkeit mit Curtis als Riley, und er ist etwa zehn Jahre zu alt für die Rolle. Während Riley eine Spur zu schön und verträumt wirkt, sind Harris' Gesichtszüge härter, markanter, "häßlicher", mehr "Arbeiterklasse", sein Benehmen enigmatischer, verschrobener, soziopathischer. (Passenderweise hat Sean Harris noch einen anderen berüchtigten Engländer namens Ian gespielt, den "Moor-Mörder" IAN BRADY, dem er recht ähnlich sieht). Welcher Ian Curtis nun der "richtige" ist, läßt sich für uns Nicht-Augenzeugen schwer entscheiden. Tatsache ist, daß die Macher von "Control" intime Kenntnisse besitzen, allen voran Ko-Produzentin Deborah Curtis. Anton Corbijn war mit der Joy Division befreundet, und hat mehrere, heute "ikonische" Fotos der Band geknipst. 1988 drehte er einen berühmten Videoclip zu dem JD-Song "Atmospheres", in dem schwarz und weiß gekleidete Mönche mit plakatartig vergrößerten Bildern von Ian Curtis und der Gruppe über einen einsamen Strand prozessieren. "Control" ist ein langgehegtes Herzensprojekt, dem man die Sorgfalt in jedem Detail anmerkt. Lebendig werden auch Nebenfiguren wie Tony Wilson, MARTIN HANNETT (siehe auch ZWIELICHT 2/2007), oder ROB GRETTON, der Manager der Band. (In einer kleinen Nebenrolle, als Curtis' Arzt, ist kaum erkennbar, HERBERT GRÖNEMEYER, ein enger Freund von Corbijn, zu sehen.) Das fotographische Auge Corbijns ist in jeder Einstellung spürbar, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. "Control" ist natürlich, wie es sich für einen Joy Division-Film und für den Schauplatz Manchester gehört, in Schwarz-Weiß gedreht. Es ist allerdings nicht ein expressiv-elaboriertes, sondern ein nüchtern-dokumentarisches Schwarz-Weiß, das an die frühen Filme des "British New Wave" von TONY RICHARDSON, LINDSAY ANDERSON und KAREL REISZ erinnert. Wichtiger als der "Look" des Films ist allerdings die sensible Schauspielführung (auch darin unterscheidet sich "Control" von Stones eitlen "Doors"). Der anrührendste Teil ist sicherlich die Zerreißprobe zwischen den beiden Frauen. SAMANTHA MORTON spielt hervorragend die etwas verklemmte proletarische Ehefrau, die Curtis schon sehr jung geheiratet hat (beide waren erst 19), was in seiner Lage die einzige Möglichkeit war, der Enge des kleinbürgerlichen Elternhauses zu entkommen. Während ihr Mann, den sie zwar kaum begreifen kann, aber abgöttisch liebt, zum Star aufsteigt, wäscht sie seine Unterhosen und kümmert sich um das gemeinsame Kind. Die zweite Frau in Curtis Leben, Annik Honoré (ALEXANDRA MARIA LARA), bildet einen krassen Kontrast zu der treuen, verschmähten Hausfrau, die seinen "coolen" Freunden vorzustellen dem aufstrebenden Rockstar sichtlich peinlich ist. Annik ist sexy, sophisticated und exotisch. Dennoch bringt Curtis es nicht über sich, seine Frau zu verlassen: Love will tear us apart. Der Film endet schließlich empathisch mit der allein gelassenen, vor Verzweiflung um Hilfe schreienden Deborah, die nun mit ihrem Kleinkind vor den Trümmern ihres Lebens steht. Passend zu den schlichten Covern der Joy Division-Platten und den kühlen, klar strukturierten Songs der Band, ist "Control" ein schnörkelloser, unprätentiöser Film geworden. Großes Thema, adäquate Umsetzung, gute Besetzung, toller Soundtrack, wahrscheinlich ein zukünftiger Klassiker des Musikfilms.
Martin L. für nonpop.de
Verweise zum Artikel: » IAN CURTIS Fan-Seite » Umfangreiche JOY DIVISION Fan-Seite » ANTON CORBIJN Homepage » CONTROL - Offizielle Seite » Interview mit CORBIJN über "Control" » The History of Post-Punk- Gutes Archiv » Themenbezogene Artikel: » V/A: Shadowplay - A Tribute To ...
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