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Im Gespräch mit Gaë Bolg

Über höfische Liebe und die uralte Frage: Wann ist ein Mann ein Mann?


Im Gespräch mit Gaë Bolg
Kategorie: Interview
Wörter: 2215


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Mit „Aucassin et Nicolette“ vertonst Du die gleichnamige literarische Erzählung aus dem Jahre 1225. Vielleicht wärst Du so nett uns die Grundzüge der Geschichte kurz zu erläutern, da nicht alle Hörer des Französischen mächtig sein oder das Buch gelesen haben werden…

 

Ich muß zugeben, daß mittelalterliches Französisch sicher nicht die einfachste Sprache für moderne Leser ist, sogar wenn sie erbärmliche Froschschenkelfresser sind (sic!)! Um es kurz zu machen: Bei Aucassin et Nicolette handelt es sich um eine Art Romeo und Julia, aber ziemlich unkonventionell  für die damalige Zeit. Aucassin ist ein Prinzensohn und als solcher natürlich dazu auserkoren, ein Krieger zu werden, der den katholischen Heldenmut verteidigt. In Wirklichkeit interessiert ihn Krieg aber überhaupt nicht (er ist eher ’ne Art Pazifist) und er zieht die Künste, Musik, gutes Essen, Wein und Mädchen der religiösen Strenge (die er einfach langweilig findet) vor! Ich mag diesen Kerl wirklich!!! Er verliebt sich in Nicolette, eine Sarazenin und daher auch Muslimin. Natürlich ist eine Hochzeit unmöglich, aber nach vielen Abenteuern endet die Geschichte in einem seltsamen Happy End: Aucassins Vater entdeckt plötzlich Toleranz (!), da Nicolette in Wahrheit auch adelig ist (dies aber nicht wußte) und eine Verbindung nun nach den Regeln der Moral doch akzeptabel ist.

Dieses Theaterstück scheint zu seiner Zeit ein hartes Geschoß gegen die Sitten gewesen zu sein und favorisierte eine humanistische und tolerante Alternative gegenüber einem repressiven und strengen System. Der Autor, der anonym blieb, entkam den Flammen der Inquisition vielleicht nur, weil er seine Worte in Ironie kleidete…

 

Dein neuestes Werk „Aucassin et Nicolette“ klingt, wie Du selber sagst, „ernster“ und „subtiler“ als seine Vorgänger. Liegt das an Deiner persönlichen Stimmung oder mehr am Inhalt der Geschichte?

Ich meine, obwohl es sich bei „Aucassin et Nicolette“ um eine glücklich ausgehende Liebesgeschichte handelt klingt sie stellenweise wie eine Totenmette wohingegen etwa „La Ballade de L'Ankou“ mit seinem eher morbiden Thema sehr fröhlich klang. Ist dieses Zerrbild gewollt oder Teil des musikalischen Konzepts von Gaë Bolg?

 

Ich weiß nicht, ob es ein Teil des Konzepts ist, aber es ist sicherlich ein Teil von mir!!! Meine persönliche Stimmung in jener Zeit hatte auch einen großen Einfluß, vielleicht mehr als die Geschichte selbst (die in der Tat sehr ironisch, optimistisch und nicht so düster ist). Im Vergleich zu den anderen Alben nahm ich es in einer sehr kurzen Zeit auf und ich gab mir gar nicht die Zeit mir selbst darüber Fragen zu stellen. Das Ergebnis war, wie ich finde, spontaner und vielschichtiger, vielleicht aus diesem Grund. Ich muß dazu auch sagen, daß einige der “lustigen” Lieder, die während derselben Session aufgenommen wurden, am Ende gar nicht auf der Platte landeten, da ich letzlich dachte, daß es ohne sie besser klappt.

 

In der Geschichte kommen verschiedene Charaktere vor. Es scheint, als ob Deine verschieden Stimmlagen diese repräsentieren würden, was mich etwas an KING DIAMOND erinnert. Ist das richtig?

 

Absolut. Ich versuchte viele Dinge, nicht nur mit meiner Stimme, vielleicht mehr als zuvor. Aber vor allem hatte ich mich dazu entschieden mich selbst auf keinen Fall einzuschränken (wie ich es zuvor so oft tat), auch wenn das Ergebnis komisch klingen sollte.

Zu King Diamond: Entschuldigung, ich kenne ihn nicht.

 

 

„Eingewoben“ in die Geschichte von „Aucassin et Nicolette“ sind auch zwei Texte des Pariser Autoren Rutebeuf (Invocation und Le Diable Parle). Wie sind diese in den Kontext der Geschichte eingearbeitet?

 

Diese zwei Lieder sind Auszüge aus dem Theaterstück “Le Miracle de Théophile”. Abgesehen von einer zweifellos komplett anderen Geschichte (ein Mönch, der einige Zweifel ob seines Glaubens hegt) teilt es dieselben humanistischen Ideale und den Mut, hat es dieselbe kritische Sicht auf das strenge Gesellschaftssystem dieser Zeit und schließlich auch denselben ironischen Ton wie “Aucassin et Nicolette”.

 

Die Geschichte von „Aucessin et Nicolette“ wurde schon einmal vertont. Kennst Du eigentlich die gleichnamige Oper von Günther Bialas und sind womöglich Motive derselben in Dein Werk eingeflossen?

 

Ich habe das übersehen. Kurioserweise hörte ich noch nie etwas von ihm, obwohl er sehr interessante Dinge schrieb und obwohl ich Karl-Amadeus Hartmann oder Harald Genzmer, mit denen er oft verglichen wird, sehr schätze.

 

Die Gestaltung von “Aucassin et Nicolette” ist (wieder einmal) sehr speziell. Es ist martialisch, beinhaltet aber auch erotische Elemente. Es reduziert auf humoristische Art und Weise die Rolle des Mannes auf seinen Aspekt als Krieger und die der Rolle auf einen sexuellen Aspekt. Hast Du hierzu schon Reaktionen bekommen? Was war Dein Einfluß bei der Gestaltung?

 

Die Reaktionen sind bis jetzt sehr gut. Meine Plattenfirma machte es, aber ich versorgte sie mit den Ideen und ich muß sagen, daß ich mit dem Ergebnis sehr zufrieden bin. Ich fühle, daß es mit der Atmosphäre des Theaterstückes und seiner Ironie wirklich übereinstimmt.

Überhaupt versuchte ich immer mich nicht zu ernst zu nehmen und das ist einer der Gründe meiner „speziellen“ Cover (wie Du sie nennst). Ein weiterer Grund ist, etwas Abstand von den üblichen langweiligen und martialischen Bildern zu gewinnen, die so verbreitet in diesem Musikstil sind…

 

Warum hast Du Dich eigentlich dafür entschieden, dieses Mal auf die „Church of Fand“ zu verzichten? Du bist doch hoffentlich nicht etwa vom Glauben abgekommen? Du sprachst in einem alten Interview von den Gefahren, die Kirche zu verlassen...

 

Keine Bange! Ich werde mein ganzes Leben Glauben in Fand haben!!! Zur Kirche: Nicht ich entschied mich, sie zu verlassen, was auch unglaublich dumm und gefährlich für mich gewesen wäre, nein, sie verschwanden einfach. Eines schönen Tages, ungefähr so: Pffffuit!!!

 

Als Mitmusiker von SOL INVICTUS wurdest Du ja leider mit einigen unschönen Geschehnissen hier in Deutschland konfrontiert. Verschiedene extremistische Gruppierungen konfrontierten Euch, Konzertveranstalter und Club-Eigentümer mit abstrusen und hahnebüchenen Vorwürfen.

Nun möchte ich Dich nicht zu sehr mit diesen Dingen langweilen, aber eine Konsequenz Deinerseits war, dass Du Dich geweigert hast, auf dem diesjährigen WGT zu spielen. Neben anderen Ursachen war es für Dich ein Grund, daß Du nicht die Bühne mit Gruppen teilen wolltest, deren Label in Deinen Augen „could vehicle ideas or ambiguity not conform to my opinions and ethic“, wie Du in einem Gespräch mit dem Ikonen-Magazin sagtest. Aber läufst Du dabei nicht Gefahr, den gleichen Fehler wie die SOL INVICTUS-Gegner zu machen und Personen und Gruppen, die Du persönlich nicht kennst, per Ferndiagnose politisch einzuordnen und vorzuverurteilen?

 

Ich verstehe wirklich nicht, wie Du diese beiden Situationen vergleichen kannst! Soweit ich weiß, haben alle angekündigten Gruppen auf dem WGT gespielt und soweit ich weiß, tat ich nichts, um sie verbieten zu lassen!!!

Ich weiß nicht genau, was mit Sol Invictus passierte, beziehungsweise: Ich weiß nicht, wo die Wurzel der Gerüchte liegt (auch wenn ich da meine Theorien habe), aber das Einzige, was ich weiß ist, daß einige Leute (die wahrscheinlich von Anderen manipuliert wurden), uns denunzierten und mehr oder weniger Zensur ausübten. Ich verurteile klar diese Geisteshaltung, die absolut nichts mit demokratischen Praktiken zu tun hat. Ich kann auch verstehen, daß Menschen gegen die Invasion stinkiger Symbole, Bilder oder rechtsextremer Ideen protestieren (ich mache das manchmal auch!), die die Neofolk-Szene erobern. Ich billige diese Methoden nicht und, wie ich schon in einem anderen Gespräch sagte, Tony war mit Sicherheit kein gutes Ziel!

Was ich im selben Interview sagte, ist, dass ich persönlich, wenn ich eine Gruppe zwielichtig finde, diese einfach boykottiere oder ignoriere. Und genau das war es, was ich in Leipzig tat, und nichts anderes (davon mal abgesehen war der Vertrag inakzeptabel!!!)! Ich möchte nicht zwischen Gruppen und Plattenfirmen auftauchen, deren Attitüde ich nicht teile und die durch ihre Aufmachung und Themen doppeldeutige Botschaften transportieren, die zu oft auf den Zweiten Weltkrieg, eine Faszination für die Armee oder Krieg, für Menschen wie Julius Evola, eine irgendwie wahnsinnige Nostalgie für „Heimat“, eine nationalistische oder konservative europäische Vision, kuriose und falsche Interpretationen der Nietzscheanischen Philosophie oder dergleichen basieren.

Ich verdamme, verurteile oder zensiere niemanden und ich habe keine Meinung darüber, was wirklich dahinter steckt, ob es nur Provokation, späte Teenager-Rebellion, Vermarktung, wahrhafte Überzeugung oder nicht ist und um ehrlich zu sein: Es interessiert mich nicht!!! Ich stimme nur nicht mit dieser Attitüde und diesem Auftreten, die ich gefährlich und wahnsinnig finde und die das Gegenteil meiner Auffassungen und meiner Ethik darstellen überein. Und, falls ich mich nicht klar genug ausgedrückt habe: “Attitüde und Auftreten” meint “Attitüde und Auftreten”, nichts anderes!!! Ich kann es auch mit anderen Worten sagen: Sie können machen was sie wollen, aber ohne mich!!!

Meine Entscheidung war rein persönlich, nichts anderes, und ich trage keine Verantwortung dafür, wenn einige Leute dies jetzt öffentlich machen oder auch, wenn die gleichen oder andere Personen aus dieser Entscheidung ihre eigenen Interpretationen machen, Interpretationen, die nur ihre eigenen Phantastereien oder Paranoia widerspiegeln!!!

 

Verursacht durch die Wirren der letzten Tage tauchte das Gerücht auf, Du wärest nicht mehr Mitglied bei SOL INVICTUS. Ist das war?

 

Es ist absolut wahr. Ich bin nicht länger Mitglied von Sol Invictus.

 

Du beherrscht ja zig Instrumente… Seit wann machst Du Musik? Warst Du schon immer ein musischer Mensch?

 

Ich mache schon seit frühester Kindheit Musik. Meine Eltern waren (und sind immer noch) klassische Amateurmusiker und ich lebte immer mit Musik in meiner Umgebung… Ich begann mit 15 zu komponieren und zur selben Zeit machte ich viele dissonante Symphonien und Avantgarde-Konzerte, genau wie einige experimentelle Kammermusikstücke!  So gesehen: Obwohl all’ diese frühen Arbeiten nie im musikalischen Pantheon der Nachwelt auftauchen werden, denke ich, daß es mein Schicksal war, Musiker zu werden, und das auch so früh.

 

Du scheinst ein Experte für französische und keltische, mit Mittelalter verbundene Dinge zu sein, vor allem für Poesie. Besuchst Du in Deiner Freizeit auch Mittelaltermärkte o.ä.? Dieselbe Frage geht auch an die exotische, arabische Kultur, an der Du interessiert scheinst: Hast Du jemals ein arabisches Land besucht oder planst Du dergleichen?

Gewissermaßen sind Deine Interessen ja wieder relativ aktuell. Es scheint, dass wir ein neues Mittelalter erreichen, mit neuen Kreuzzügen und neuem religiösen Fanatismus auf beiden Seiten. Bist Du Dir dessen bewußt?

 

Ich muß sagen ich bin kein so großer Experte mittelalterlicher Literatur und Kunst! Ich mag sie, aber nur oberflächlich, mehr wie eine Vorstellung, eine Möglichkeit der Realität zu entfliehen, wie eine Kindererzählung… Ich bin von dieser Periode fasziniert, ihrer Dunkelheit, ihrem Versuch neue Denkmodelle zu finden und ihrer Kontraste. Es war ein dunkles Zeitalter mit träumerischer Literatur, lustigen Autoren aber sehr puritanischer Musik, morbiden Geschichten voller Ironie und Cleverness, einer repressiven Gesellschaft mit freier Sexualität, der Suche nach neuen Denkweisen aber einer einseitigen Sicht auf die Welt, der Angst vor dem Unbekannten, aber auch blinder Überzeugungen und einem starken Glauben. Nun, vielleicht einfach nur von all’ dem, was aus einem Mann einen Mann macht…

Es ist wahr, daß wir (leider) zwischen dieser Periode und der unseren Brücken bauen können. Wir betreten eindeutig (und schnell) ein neues Zeitalter der Dunkelheit und ich habe davor wirklich Angst. Das Unglück in der Welt scheint das beste Feld für florierende Religionen und moralischem Fanatismus zu sein, der mit jedem Tag größer und größer wird. Unsere westlichen Gesellschaften ziehen es vor, weiterhin die Not auszubeuten, statt sich der Welt zu öffnen und all’ jenen Menschen zu helfen, die sie kolonisiert, ausgebeutet und verarmt haben. Stattdessen bleiben sie unter sich, kultivieren Angst, schmeicheln rechtsextremen Tendenzen in Form dümmlichen Nationalismus und etablieren ein neues Modell von Doppelmoral mit Äußerlichkeiten und Geld als Werte und Leuten wie Bush als Helden. Es ist so traurig…

Ich bin sehr an arabischer Kultur interessiert (wie überhaupt an allen Kulturen, faktisch), die so reich und mannigfaltig ist. Ich hätte wirklich gerne mehr Zeit, um darüber zu lesen und auch Arabisch zu lernen.

Meine einzige Erfahrung mit arabischen Ländern waren Ferientage in Tunesien und es war irgendwie richtig traumatisch. Es ist so ein schönes Land, man konnte überall Kultur und Kunst riechen, aber es ist auch so unglaublich korrumpiert und zerstört nach so vielen Jahren unserer Präsenz als Sklavenausbeuter (zum Großteil Frankreich im speziellen Fall von Tunesien). Die Korruption geht heutzutage unter dem Deckmantel des „kolonialen Tourismus“ weiter…

Wie soll es möglich sein, danach noch rassistisch oder protektionistisch zu sein? Wie soll es möglich sein, stolz auf „Europäische Kultur“ zu sein, die dafür verantwortlich ist?

 

Letzte Worte?

 

Ich bin zu jung für letzte Worte!


 
für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» Auerbach.cd


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