Michael We.
P16.D4 - Box, Interview, TexteGespräch zur "Passagen"-Retrospektive und weitere ArtikelHallo RALF! Wie hat es sich angefühlt, all das alte Material zu sichten und auszuwerten? Noch Teil Deiner Gegenwart, oder abgeschlossene Vergangenheit?
Das Gefühl war sehr gut. In Bezug auf Deine Fragestellung aber gewissermaßen mittig. Also schon schwerpunktmäßig Vergangenheit, aber nicht völlig abgeschlossen, sondern noch fortwirkend. Wenn auch in zwischenzeitlich mehrfach gebrochener, quasi facettenartig aufgesplitteter, transformierter und erweiterter Fassung. Was den bloßen Rückblicksaspekt angeht, sollte ich vielleicht erwähnen, dass die Geschichtspflege nichts völlig Neues und Unvermitteltes ist, sondern schon eine lange Tradition hat. Von etwa 1993 bis 1998 wurde ein Gutteil der (1982 – 89 erschienenen) P16.D4-LPs auf CD upgegradet (für die Label ODD SIZE, RRR, TRENTE OISEAUX und SONORIS), dann habe ich mich von etwa 1999 bis 2006 der 1980/81er Kassetten angenommen, vor allem in Vinyl-Version (die beiden 81er P16.D4-Kassetten auf WSDS als LPs, die fünfteilige "eaRLy W"-Serie (drei LPs, zwei CDs) auf SWILL RADIO, WSDS, INTRANSITIVE und ABSURD plus die Drei-LP-Box "Wahrnehmungen 1980/81" auf VINYL ON DEMAND. Worauf liegt der Fokus der Box? Ist es eine Retrospektive, also ein Rückblick auf Euer komplettes Werk, oder eher eine bewusst ausgesiebte Einführung in Eure Arbeit? Die Box gibt die 'klassische' Phase von P16.D4, zeitlich von Frühjahr 1982 bis Frühjahr 1988, anhand der 'klassischen' Diskographie weitgehend komplett wieder. Vorangegangen war die Einstiegs- und Selbstfindungsphase von Ende 79 an, mit einer Vielzahl von Veröffentlichungen (meist Kassetten, einige Singles und LPs); danach (bis 91/92) folgte eine schleichende Auflösungsphase. Nachdem ich im Frühjahr 88 von Mainz weggezogen war, folgten nur noch ganz wenige Studio-Aufnahmen, ein paar Konzerte und das SLP-Projekt (mit einem Teil der P16.D4-Besetzung sowie mit ACHIM WOLLSCHEID und JOACHIM PENSE). Dass die Gruppe nicht mehr aktiv war, fiel nach außen zunächst gar nicht auf, da die 87 bis Anfang 88 aufgenommenen Produktionen erst peu à peu bis 1991 veröffentlicht wurden ("acRid acMe Of P16.D4" als CD, "Captured Music", "Bruitiste" und "50" als LPs). 1992 entschied ich mich dann, unter neuem, eigenem Namen – RLW – zu veröffentlichen, und dann war endgültig Schluss mit P16.D4. Die Box enthält die von 82 bis Frühjahr 88 aufgenommenen und unter dem Bandnamen veröffentlichten Tonträger plus einige Bonus-Stücke plus eine DVD. Haltet Ihr Euch streng an Euer eigenes Material, oder sind auch Kollaborationen – wie zum Beispiel mit MERZBOW – zu hören? Die Unterscheidung macht bei der Arbeitsweise von P16.D4 wenig Sinn. Verschiedene Formen von Zusammenarbeiten auszutesten, gehörte jedenfalls seit 1982 integral zum Gruppenkonzept. Für unsere LP "Distruct" (wie auch für das Projekt DISTANT STRUCTURES) ließen wir uns zum Beispiel Bänder mit Klangmaterial von diversen anderen Gruppen und Künstlern weltweit zusenden, aus denen wir – unter Einbezug eigener Aufnahmen – Stücke komponierten. Für "Bruitiste" nahmen mehrere Musiker und Künstler aus dem Umfeld unseres Labels (SELEKTION) Stücke in ihrem Verständnis des Stils von P16.D4 auf. Das einzige beteiligte (und zugegebenermaßen die Produktion steuernde) P16.D4-Mitglied war ich. Für die "acRid acMe Of P16.D4"-CD wiederum habe ich mit vier verschiedenen Gruppen von Personen zusammengearbeitet: Für die Sektion "1981" mit (den beiden bereits 1981 beteiligten) ROGER SCHÖNAUER und EWALD WEBER, für die "Captured Music"-Sektion mit (dem seit 1984 sporadisch beteiligten) STEFAN SCHMIDT, für die "Musique Concrète Improvisée"-Sektion mit allen drei und für die "Genese"-Sektion mit MASAMI AKITA (MERZBOW). In die Box aufgenommen wurden nur die Stücke, die unter P16.D4 erschienen sind, beziehungsweise unter P16.D4-Verantwortung aufgenommen worden sind. Deshalb sind insbesondere die S.B.O.T.H.I.-Stücke (ACHIM WOLLSCHEID) von der "Nichts Niemand Nirgends Nie"-Doppel-LP nicht enthalten. ACHIM hat dafür zwar P16.D4-Ausgangsmaterial verwendet, aber in seinem Stil und unter seiner alleinigen Verantwortung in die Produktion gegeben. Umgekehrt enthalten die P16.D4-Stücke dieser Doppel-LP zwar Ausgangsmaterial von ACHIM, das aber unter P16.D4-Verantwortung transformiert und in Kompositionen eingebaut worden ist. Nach welchen Kriterien sind die Stücke und CDs sortiert? Grundsätzlich entsprechend den klassischen LP-Veröffentlichungen (nur "acRid acMe Of P16.D4" erschien bereits im Original als CD). Das Bonus-Material ist grundsätzlich chronologisch (zum Beispiel die 82er "Masse Mensch"-Stücke zu der – weitgehend – 1982 aufgenommenen "Kühe in 1/2Trauer"-LP) oder thematisch (die "Disdrafts"-Outtakes zur "Distruct"-LP, "V4" zu "V1" bis "V3" auf der "Three Projects"-CD). Was ist auf der DVD zu sehen? Der erste Teil besteht aus Aufnahmen für und vom CAPTURED MUSIC FESTIVAL in Karlsruhe 1987. Die SELEKTION OPTIK von P16.D4 (MARKUS CASPERS und HORST MAUS) hatte dafür einige Filme und Text-Scrolls produziert, die auf den – um die Bühne herum angeordneten – Leinwänden im Wechsel mit Live-Aufnahmen der agierenden Gruppe, zum Beispiel bei der Schrott-Zerspaltung, projiziert wurden. Somit wird ein Mitt-80er Live-Auftritt von P16.D4 einigermaßen vorstellbar. Die anderen Filme bestehen aus einer spontanen Live-Improvisation in einem Hobbykeller, in den wir uns zur Vorbesprechung des CAPTURED MUSIC FESTIVAL zurückgezogen hatten – von MARKUS CASPERS geistesgegenwärtig auf Video gebannt – und drei späteren Videos von ihm, mit denen er auf LP erschienene P16.D4-Stücke aus seiner subjektiven Sicht visualisierte. Diese drei Videos stammen von Anfang der 90er und beinhalten einige Live- und Privat-Szenen von P16-D4 aus den 80ern. Hattest Du auch Einfluss auf die Preisgestaltung? Für so eine opulente Box mit so viel Material ist der Preis erfreulich niedrig angesetzt ... Das ist allein Sache des Labels. In diesem Fall MONOTYPE RECORDS aus Warschau. Warum erscheint eine solche Zusammenfassung gerade jetzt? Die 30 Jahre habt Ihr damit knapp nach hinten verfehlt. Und um neue Zielgruppen an Eure Arbeit heranzuführen, ist es so lange nach dem Ende des Projekts doch sicher ein wenig spät, oder? Na ja, wenn man 82 als Beginn der 'klassischen' Phase und 1992 als faktisches Ende von P16.D4 ansieht, sind die 20- beziehungsweise 30-jährigen Jubiläen doch gut getroffen. Aber von solchen Zahlenspielereien mal ganz abgesehen, folgt die Logik solcher Wiederveröffentlichungen vor allem der Nachfrage. Die in letzter Zeit deutlich ansteigend war. So ist dieses Jahr (2012) zum Beispiel das Buch "Industrial Musics - Volume 2" von ERIC DUBOYS erschienen, das rund 200 Seiten über SELEKTION (mit dem Schwerpunkt P16.D4 und RLW) enthält ... Da die Tonträger – sowohl im Original wie auch die frühen Wiederveröffentlichungen – vergriffen sind, ist das kontinuierliche, wenn nicht gar steigende Interesse schon Grund genug für die Veröffentlichung der Box. Die im Übrigen durch die phantastische Gestaltung des Labels, vor allem den Designer TOMEK MIRT, ihren eigenen ästhetischen Wert hat, also weit mehr als nur eine Wiederveröffentlichung darstellt. Was die 'Zielgruppen' angeht: Wenn ich mir anschaue, wer sich mit mir in Verbindung setzt, wachsen diese auch weiter nach. Ob man in späterer Zukunft weitere physikalische Artefakte herstellt oder mehr auf Netz-Präsenz setzt, wird sich zeigen. Wie würdest Du rückblickend die Rolle von P16.D4 beschreiben? Wenn es um experimentelle, elektronische Musik – zum Beispiel als Weiterführung der Musique Concrète – geht, werdet Ihr garantiert in jedem Artikel von Bedeutung aufgelistet. Namedropping. Andererseits gibt es nur ganz wenige wirklich ausführliche Artikel über Euch im Netz ... Wer bin ich, um das zu beurteilen? Oder anders gesagt: Solche Fragen sollten eigentlich grundsätzlich von dritter Seite beantwortet werden. Deshalb nur ganz vorsichtig: Ich bin seit mehr als 20 Jahren, in den letzten Jahren zunehmend, von vielen – regelmäßig jüngeren – Musikern als 'musician's musician' angesprochen worden, also als jemand, dessen Beiträge zum Musikgeschehen vor allem von Personen geschätzt werden, die aufgrund eigener Praxis zu erkennen vermögen, was neu, originell und anknüpfenswert ist. Wobei (nicht erstaunlich) die Bezugspunkte wechseln. Während in den späten 80ern, frühen 90ern vor allem "Kühe in 1/2 Trauer" häufig genannt wurde, war es später "acRid acMe", wobei die aus einer Rock-Tradition kommenden die "1981"-Sektion nannten, die Neue Musik-Interessierten dagegen eher die "Musique Concrète Improvisée"-Sektion, vor allem das Stück "Half Cut Cows". Im letzten Jahrzehnt war es dann vor allem die "Tulpas"-Box, seit neuestem aktuellere Werke der Mitt-00er. Alles in allem also kontinuierliches Feedback, das belegt, dass in der Außenwahrnehmung erfreulich viele Impulse wahrgenommen und dann auch weiter umgesetzt werden. Du bis neben ACHIM WOLLSCHEID das einzige verbliebene P16.D4-Mitglied (wenn ich richtig informiert bin), welches noch musikalisch aktiv ist. Wie würdest Du Dein aktuelles Schaffen beschreiben, worauf konzentrierst Du Dich? ACHIM war nie P16.D4-Mitglied. Er war zwar seit 1985 an SELEKTION (Label und Kooperative) beteiligt, hatte aber immer sein eigenes Projekt, von etwa 84 bis Ende der 80er unter dem Namen S.B.O.T.H.I. (SWIMMING BEHAVIOUR OF THE HUMAN INFANT), danach unter seinem bürgerlichen Namen. Das immer mal wieder auftauchende Missverständnis, er sei bei P16.D4 dabei gewesen, beruht wohl auf den häufigen Zusammenarbeiten der zwei Projekte. Mithin bin ich das einzige P16.D4-Mitglied, das die musikalischen Aktivitäten kontinuierlich fortgeführt hat. Da die anderen Gruppenmitglieder auch in den 80ern nie durchgehend beteiligt waren, war das – abgesehen von der Namensänderung – zunächst einmal nichts grundlegend Anderes. Ich habe die in den 80ern begründeten Formen der Distanz-Zusammenarbeit weiter ausgeformt, etwa mit der "Tulpas"-5CD-Box, auf der 50 Beteiligte sich an Bearbeitungen meiner Stücke versucht haben. Neben solchen Großprojekten habe ich zahlreiche weniger umfangreiche Kooperationen mit diversen Personen und Gruppen durchgeführt, die mir dadurch aufgefallen sind, dass sie spannende Musik machen. In den letzten Jahren etwa BHOB RAINEY, TITO (TRANS INDUSTRIAL TOY ORCHESTRA), TOMAS KORBER, STEPHEN MEIXNER (CONTRATSATE) oder ANLA COURTIS aus Argentinien. Ansonsten aktualisieren sich die künstlerischen Fragen, mit denen wir uns bereits in den 80ern auseinandergesetzt haben, ständig: Die Rolle von Kunst und Musik in der Gesellschaft, die Sprengung von Genregrenzen ohne in Beliebigkeit zu verfallen, das Verhältnis von Improvisation und Komposition, Spontaneität und gedanklicher Durchdringung, eigenständiger Entwicklung von neuem und Aufnahme von Gegebenem etc. Das ist ein ständiger Prozess von Infragestellungen und vorläufigen Antworten, spannend im Scheitern wie in Erfolgen. Vor allem aber das ständige Bemühen um Musik, also gestalteten Klang, die ich selbst gerne hören würde und höre. Funktioniert die Rezeption solcher Musik heute nicht völlig anders als vor 30 Jahren? Damals noch aufrüttelnd, der Produktionsprozess als Teil des Gesamtwerkes. Neue Klänge und dazu die Kassette als schnelles und günstiges Reproduktionsmedium. Heute wird zum Beispiel Noisemusik doch überwiegend von einem kleinen, elitären Kreis gehört, der eher wissenschaftlich herangeht und mehr analysiert als emotional aufnimmt. Oder siehst Du das ganz anders? Ich denke in der Tat, dass das eine verkürzte Sichtweise wäre. Ende der 70er, Anfang der 80er war kein Nullpunkt und kein Neuanfang, auch wenn das einige aufgeblasene Wichtel aus der Medienbranche behaupteten, die damit vor allem ihre eigene Bedeutung steigern wollten. Tatsächlich waren die roten Linien der verhandelten Fragestellungen – natürlich in zwischenzeitlich modifizierter Weise – bereits 70 Jahre vorher akut gewesen. Manche besonders Geschichtsbewussten haben das durch explizite Bezüge auf die Kunstgeschichte (CABARET VOLTAIRE, PERE UBU etc.) zum Ausdruck gebracht. Schaut man sich Berichte über die Fluxus-Veranstaltungen der frühen 60er-Jahre an, besteht ernsthafter Anlass zum Zweifel, ob es in den frühen 80ern ein Mehr an Aufrüttelung gegeben hat. Neue Klänge gab es in den 80ern bei näherer Betrachtung im historischen Kontext nicht in signifikant hervorstechender Weise. Jedenfalls nicht mehr als heute. Und dass Geräuschmusik vor 30 Jahren von größeren Kreisen gehört worden wäre als heute, oder dass heute irgendjemand (ich kenne niemanden) wissenschaftlich und nicht auch emotional an die Sache herangehen würde, steht zu meinen Erfahrungen im kompletten Widerspruch. Freut Dich in diesem Zusammenhang eigentlich das jüngste Kassetten-Revival und die Gründung so vieler neuer Tape-Labels? Ich denke, bei den meisten ist das ein recht unreflektierter Nachahmungstrieb. Natürlich kann man die speziellen Möglichkeiten und Limitierungen des Mediums Kassette ästhetisch nutzen. Das sehe ich aber kaum. Die darauf publizierte Musik würde meist genauso gut auf Vinyl, CD(R) oder ins Netz passen. Die Wahl eines unpraktischen Mediums bringt für sich keinen Vorteil oder gar Freiheit. Was ist eigentlich mit SELEKTION, dem damals als WAHRNEHMUNGEN gegründeten Kassetten-Label im P16.D4-Umfeld? Der Button 'History' auf der SELEKTION-Seite reicht jedenfalls nur bis 2003 ... SELEKTION hat sich nie als Kassettenlabel verstanden. Die ersten Veröffentlichungen waren auf Vinyl (P.D.: "Alltag EP" und "Inweglos"-LP und SKARTRACK-Flexi, alle 1980). Nach der ersten Welle des Herumexperimentierens und der Schnellläufe in 80/81 mit 19 Kassetten erfolgte seit 1982 die Konzentration auf ausgefeilte Veröffentlichungen auf LPs, seit 1989 auf CDs. Nach 2002 hatte von den Beteiligten keiner mehr die Zeit, sich um Label-Belange zu kümmern, weshalb SELEKTION als Label schlicht eingeschlafen – nach zehn Jahren kann man wohl sagen entschlafen – ist. Jetzt haben wir über damals und heute gesprochen – was war oder ist musikalisch besser und aufregender? Die raue, schnelle Kassetten-Zeit oder das digital Ausgeklügelte? 'Damals' waren noch Jugendjahre oder jedenfalls jugendnahe Jahre. Damit aufregender, naiver, gemütsbewegter und oberflächlicher. 'Heute' bedeutet, um Jahrzehnte älter zu sein. Damit erfahrener und gelassener, reflektierter, tiefgründiger und radikaler. Neugier, Offenheit, Gestaltungswille und Begeisterungsfähigkeit sind, denke ich, im Großen und Ganzen ohne große Änderungen geblieben. Die Werkzeuge sind stetigem Wechsel unterworfen. Insgesamt finde ich die derzeitigen vorzugswürdig, da sie mehr Spontaneität und Gestaltungstiefe erlauben. RALF, vielen Dank für das Interview, und viel Erfolg mit "Passagen". => weiter zum Artikel von WOLFGANG STERNECK => Startseite
Michael We. für nonpop.de
Verweise zum Artikel: » "Passagen"-Seite mit Shop (66 Euro) » WEHOWSKY-Diskografie » SELEKTION (nicht mehr aktualisiert) » SELEKTION-Diskografie » weiteres Interview mit RALF (EST Magazine)
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