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Michael We.

FELIX KUBIN rettet die Welt (akustisch)

Ein Interview zum ersten Teil von "Historische Aufnahmen"


FELIX KUBIN rettet die Welt (akustisch)
Kategorie: Spezial
Wörter: 1416
Erstellt: 25.03.2011
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Hallo FELIX! Warum sind Dir Originalaufnahmen so wichtig? Verlieren diese nicht gerade an Wert, weil Vieles reproduzierbar ist oder wird? Mal ketzerisch gesagt: Einige Deiner historischen Aufnahmen hätte man möglicherweise auch nachstellen können, mit technischen Hilfsmitteln, vielleicht sogar ohne hörbaren Unterschied ...


Was mich interessiert, ist, ob sich dokumentarische Aufnahmen in einem bestimmten Kontext in Kunst verwandeln. Kann ein reiner Mitschnitt, der niemals als Komposition geplant war, auch als Musik gehört werden? Wann verwandelt er sich in Musik? Dieses Thema interessiert mich schon lange. In meinem Hörspiel "Säugling, Duschkopf, Damenschritte", das am 27. April auf dem Schweizer Sender DRS2 läuft (man kann es über Internetstream hören), geht es genau um diese Frage. Der Anreiz, vor allem alte Aufnahmen zu verwenden, ist das Rohe, Unperfekte, manchmal auch Unbeholfene und Naive, das in ihnen mitschwingt.
Die unzureichende Technik, die damals zur Aufzeichnung zur Verfügung stand, verdeckt Details oder produziert Übersprechungseffekte und schafft so Räume für Interpretation. Die Frage, ob ein Stück nun echt oder gefälscht ist, ist dabei ungefähr so interessant wie die Frage, ob ein Foto unter Drogeneinfluss oder nüchtern hergestellt wurde. Wenn Menschen an der Authentizität der Stücke Zweifel hegen, stört mich das nicht. Ich werde aber auch einen Teufel tun, mich in Beweispflicht zu üben, sonst käme ich mir vor wie bei einer Gerichtsverhandlung. Während meiner Zivildienstzeit im OP des Universitätskrankenhauses in Hamburg habe ich gelernt, dass nichts so fantastisch, verdreht und absurd ist wie die Realität. Willst Du träumen? Dann öffne die Augen!

Im Vorwort sprichst Du davon, das "Klanggedächtnis der Welt" bewahren zu wollen. Das ist eine große, mächtige, vermutlich übermenschliche Aufgabe. Nach welchem Muster gehst Du dabei vor? Nach welchen Kriterien hast Du die Originalaufnahmen für "Historische Aufnahmen 1" ausgesucht? Verbindet ein roter Faden die Tondokumente?

Der rote Faden dieser ersten Ausgabe ist eine andere Sicht auf Technik, als wir sie heute kennen. Technik erscheint in diesen Hörbeispielen als etwas Fantastisches, ja geradezu Utopisches. Sie hat mehr mit JULES VERNE zu tun als mit Wi-Fi oder IPAD. Technik ist hier nicht Mittel zur Bereicherung des privaten Komforts oder Sinnstifterin einer Lifestyle-Identität, sondern Verbündete der Magie.
Dabei geht es mir in dieser Sammlung keineswegs um eine vollständige Bestandsaufnahme, sondern nur um eine Erweiterung des Hörbewusstseins und die Rettung von vergessenen Geräuschen. Statt "Lasst uns das Klanggedächtnis der Welt bewahren" hätte ich auch schreiben können: "Lasst uns das Geheimnis der Welt bewahren".

Für welche Aufnahme hast Du am meisten investiert, bist Du am weitesten gereist – und was hast Du vor Ort erlebt?

Die Beschaffung der Aufnahme des automatischen Sprachapparats von PETER NIEDERLE hat mich ziemlich viel Arbeit und Überredungskunst gefordert. Der Familie war es unangenehm, dass ihr Großvater zu sehr mit den Nazis in Verbindung gebracht werden könnte, weil er während der Besetzung Anträge für staatliche Forschungsgelder gestellt hatte. Ein Freund aus Wien, der sich viel mit Klangapparaten beschäftigt, hat mir bei der Kontaktaufnahme mit den Hinterbliebenen geholfen. Am Ende musste ich selbst hinfliegen und mit denen sprechen. Glücklicherweise konnte ich das mit einem Konzert in Wien verbinden, ein großer Vorteil meines Berufes. In einigen Fällen konnte ich alles postalisch und fernmündlich abwickeln, in anderen musste ich direkt vor Ort mit den Verantwortlichen sprechen.

Welche Aufnahme auf dem Album ist Deine liebste, und warum?

Musikalisch gefällt mir die CHLEBNIKOW-Aufnahme am besten. Die Bearbeitung, die der Toningenieur aus den alten Aufnahmen angefertigt hat, klingt unglaublich lebendig und modern, und es zeigt sich wieder einmal, dass die Tonbandtechnik schon in den 1960er Jahren so weit war, dass sie kaum noch verbessert werden musste. Das gleiche gilt auch für die Bauweise mancher Mikrofone wie z.B. des AKG 414.



"Fernmeldeamt Finnland"
(Ausschnitt, "Historische Aufnahmen 1")

Wie sicher bist Du, dass die Geschichten zu den Tracks wahr sind? Die im Nachlass des Cousins eines finnischen Jazzmusikers entdeckte Aufzeichnung eines erfolglosen Telefonnotrufes, initiiert möglicherweise durch okkulte Handlungen – das klingt nach einer tollen KUBIN-Geschichte. Aber hast Du auch Brief und Siegel, dass sich das so zugetragen hat?

Geschichten und Geschichte haben es nun einmal an sich, dass man sie zu einem gewissen Grad glauben muss. Unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt sagen sie etwas über die Kultur aus, in der wir leben. Den finnischen Telefonmitschnitt sehe ich vor allem vor dem Hintergrund der beginnenden technischen Revolution. Die Welt befand sich damals noch in den Kinderschuhen ihrer Medialisierung. Die erste Fernsehübertragung ging 1929 über den Äther. Sie muss auf die Menschen genauso gespenstisch gewirkt haben wie die erste Radioübertragung. Heute erscheint es uns völlig normal, dass Menschen sich auf der Straße via Headset mit Unsichtbaren unterhalten, auch wenn ihr Verhalten äußerlich dem von Schizophrenen gleicht, die mit den Göttern reden. Zur Zeit dieses Telefonmitschnitts war die technische Belebung toter Objekte noch nicht so selbstverständlich. In Deutschland wurde das erste Telefonbuch in Berlin als Buch der 99 Narren bezeichnet! Vor der Verbreitung des Telefonapparats sprach man auf große Distanz mithilfe eines menschlichen Mediums, das eine Verbindungsaufnahme mit einem Ferngesicht aufnahm. Auch das nannte sich Telefonie. Die Verschränkung von Okkultismus und Medien zeigt sich in vielen Begriffsanalogien.

Vergangenheit sollte als etwas Lebendiges verstanden werden, weil sie immer wieder durch neue Erkenntnisse und feinere Messgeräte erweitert wird. Wie wahr ist eine Zeitungsmeldung? Und wie selbstverständlich wird sie als wahr angenommen, weil sie gedruckt ist? Wer druckt, lügt. Wir werden täglich mit heimtückischen Neuigkeiten bombardiert. Mit einiger Lebenserfahrung beginnen wir, solche Neuigkeiten anders zu lesen. Diese 'Meldungen' drücken auch kollektive Sehnsüchte, Ängste, Hoffnungen aus. Als Künstler glaube ich erst einmal alles, auch wenn es nicht physikalisch evident ist.
Eine poetische Lesart der Welt, wie sie noch vor wenigen hundert Jahren von großen Universalgenies wie ATHANASIUS KIRCHER betrieben wurde, ist heute vollkommen verlorengegangen. KIRCHER versuchte, die Welt in Begriffspaaren wie 'Licht und Schatten', 'Konsonanz und Dissonanz' zu beschreiben. Hat er damit wissenschaftlich gehandelt? Eine rein wissenschaftliche Erklärung bringt uns dem Wesen der Welt nicht näher. Aus diesem Grund lehne ich es ab, die Aufnahmen der Platte zu analysieren und zu 'erklären'. Das sollen echte Wissenschaftler machen, die haben dazu auch das richtige Instrumentarium.

Im Booklet zu "Historische Aufnahmen" bittest Du um Hinweise auf weitere Schätze. Kamen schon Reaktionen? Ich könnte mir vorstellen, dass auf Dachböden und in Kellern hunderttausende spannender Aufnahmen lagern ...

Bisher gab es noch keine Rückmeldungen. Die Platte ist aber auch gerade erst veröffentlicht worden. Das braucht etwas Zeit.

=> weiter


Ausschnitt aus der Rückseite des Covers von "Historische Aufnahmen"




 
Michael We. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» KUBIN @ myspace
» KUBIN @ last.fm
» KUBIN @ Wiki
» GAGARIN RECORDS
» "Historische Aufnahmen" @ A-MUSIK (18.90 Euro)

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