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Dominik T.

Industrial Culture - FACTRIX-Interview


Industrial Culture - FACTRIX-Interview
Kategorie: Spezial
Wörter: 1361
Erstellt: 08.03.2009
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Du erwähntest eben euren Versuch, durch Musik eine Art von Zeitlupengefühl zu erzeugen, um eventuell sogar annähernd eine Gedankenstille auszulösen. Siehst Du darin heute eine Reaktion auf die damals angesagte, eher „schnelle“ Musik, und gab es so etwas wie eine besondere Stimmungslage, die ihr erhofftet, beim Hörer erreichen zu helfen?
Wie viele andere Gruppen begannen wir mit der Sorte Musik, die uns selbst inspirierte und beeinflusste. Unsere ganz frühen Darbietungen waren sogar richtig „Pop“ im Aufbau der Musik. Später begannen wir natürlich das Popformat zu dekonstruieren, wir dehnten die Strukturen, bis sie auseinanderbrachen. Gegen Ende arbeiteten wir mit so langsamen Tempi, dass das menschliche Herz zweimal dazwischen schlägt, aber das war nicht beabsichtigt. Manchmal spielten wir auch Coversongs auf diese Art. Verschiedene BEATLES-Stücke („Cold Turkey“, „Things We Said Today“), aber auch JIMI HENDRIX' „Machine Gun“ oder manches von SYD BARRETT oder VELVET UNDERGROUND dekonstruierten wir auf diese Art. Wir spielten diese Coverversionen immer am Anfang unserer Konzerte, damit die Hörer ein Gefühl für unseren Sound und unsere Herangehensweise bekamen. Wir versuchten natürlich nie in dem Sinne „etwas zu erreichen“, dass wir uns vorher zusammensetzten, um das auszudiskutieren. So entschieden wir uns auch nicht, dass es unser Ziel sei, „die Zeit zu manipulieren“. Die Musen zogen uns in diese Richtung, ein tiefes, sehr düsteres Universum, in dem aber ab und an eine Weite und eine unendliche, höhere Form von „Friedfertigkeit“ zu finden war.



In einem Interview im SLASH MAGAZINE aus dem Jahre 1980 berichtest Du, die Texte hättest Du in einem tranceartigen Zustand verfasst …
Eigentlich stammt diese Bemerkung von Cole. Eine Zeit lang teilten er und ich uns gemeinsam mit ein paar anderen Musikern eine Wohnung in San Francisco. Ich schlief im vordersten Zimmer auf dem Boden, und der Vermieter hatte unter diesem Zimmer die Garage für sein Taxi. Manchmal ließ er den Motor stundenlang in der Garage an. Die Abgase drangen dann durch die Decke und ich wachte halb erstickt auf. Es handelte sich also mehr um eine Kohlenmonoxid-induzierte Trance. Vielleicht wirkte sich das auch auf Cole aus, der im Nebenzimmer schlief. Cole arbeitete immerzu an seinen Texten, traf eine Auswahl, arrangierte alles um und feilte daran. Cole ist ein Dichter.

Ende der Siebziger/Anfang der Achtziger fielen bei Konzerten von z.B. TG und NON die Reaktionen der Besucher aufgrund der verwendeten aggressiven Symbolik oft sehr extrem und sehr unterschiedlich aus. Wie war das bei FACTRIX?
Die Rückmeldung der Zuschauer war jedes Mal anders. In San Francisco hatten wir zum Beispiel eine richtige „Fan-Basis“, die zu all unseren Shows kam, und ihnen schien immer zu gefallen, was wir taten. Da wir bei jedem Konzert neues Material spielten, war auch jedes Konzert anders. Die, die unsere Musik nicht kannten, waren oft nicht sehr begeistert. Viele riefen „Hey, wo ist euer Schlagzeuger?“ Man muss bedenken, dass wir zur Hochzeit des Punk mit FACTRIX anfingen, und wir spielten natürlich keine Punk-Musik, zu der man pogen konnte. Wir waren sehr introspektiv und langsam – das passte nicht gut zu Bier trinkenden Headbangern. Wir traten oft in Örtlichkeiten auf, die eigentlich nicht für Konzerte gedacht waren. Wir spielten z.B. im „Deaf Club“, das war ein privater Club in San Francisco, in dem sich Taube trafen.
Ich spielte dort auch in den frühen Siebzigern mit anderen Gruppen, die keiner haben wollte. Die Tauben mochten es, wenn die Musik extrem laut war, sie konnten dann die Vibration des Bodens fühlen. Sie hingen dann alle direkt an den Verstärkern und Boxen herum.

Mit welchen Künstlern/Bands seid ihr zusammen aufgetreten, mit wem fühltet ihr euch verwandt?
Ach du meine Güte! Die weiß ich nicht mehr alle. Wir spielten aber z.B. mit DNA (ARTO LINDSAY), THROBBING GRISTLE, CABARET VOLTAIRE, THE BPEOPLE, FLIPPER, UNS/Z'EV, SPK, TUXEDOMOON, MARK PAULINE, MONTE CAZAZZA, THE BACHELORS, EVEN, NERVOUS GENDER und einigen mehr. Wir spielten auch oft ganz allein, einfach nur FACTRIX. Es ist auch wichtig zu erwähnen, dass uns das visuelle Element sehr wichtig war. RUBY RAY (RE/Search) projizierte verschiedene Formen und Symbole, die gut zu unserer Musik passten, an die Wand. Das funktionierte oft sehr gut.

Du erwähntest einmal die besondere Bedeutung von SLAVA RANKO für eure Musik, wie beeinflusste er FACTRIX?
SLAVA war ein großer Förderer der Counterculture und der Künstlerszene in San Francisco, ein bisschen wie ein intelligenter und freundlicher Diaghilev (russischer Balletimpressario). Er war auch finanziell und mit anderen Mitteln sehr spendabel gegenüber Künstlern. Er erlaubte uns, „Scheintot“ in seinem 8-Spuren-Heimstudio aufzunehmen. Oft waren wir dort nächtelang. Er unterbrach uns nie, sondern überließ uns immer ohne zu murren seinen Platz. Wir werden ihm immer dankbar sein.

Im Nachhinein erscheint uns die Zeit zwischen 1979–1981 als eine Hochzeit der Kreativität in der Geschichte der populären Musik. Siehst Du FACTRIX als Teil einer Bewegung, die kulturell, musikalisch oder gar gesellschaftlich Einiges in Bewegung setzte? Der Zeitgeist dieser Jahre, warum ist er weg?
Kreativität war überall im San Francisco dieser Zeit. Jeder, den du kanntest, war mindestens in einer Band aktiv. Die meisten taten nichts anderes. Gleichzeitig war es eine Blütezeit des alternativen Theaters und anderer Künste – alles immer um Musik sich drehend. Dennoch war diese kreative Energie in vielerlei Hinsicht sehr selbstzerstörerisch. Viele starben.

Was machen die Mitglieder von FACTRIX heute?
Ich arbeite nunmehr schon seit fünfzehn Jahren für „Hearts Of Space“, und wir haben unser gesamtes Archiv von mehr als 650 Stunden an Musiksendungen online gestellt (siehe unter http://www.hos.com/archive.html). Außerdem bin ich seit zwanzig Jahren sehr aktiv im Shambhala-Buddhismus engagiert. Cole lebt und arbeitet in San Francisco – derzeit arbeitet er in einem Plattenladen. Bond lebt in der East Bay und hat dort ein neues Musikstudio aufgebaut. Er ist mit seiner Gitarre verheiratet – bravo für Bond! Ich liebe sie alle.

Die FACTRIX-Doppel-CD „Artifakt“ (STORM/TESCO DISTRIBUTION) beinhaltet die Single „Empire Of Passion/Splice Of Life“ (Original 1980, ADOLESCENT RECORDS), die LP „Scheintot“ (1981, ADOLESCENT RECORDS), die Live LP „California Babylon“ mit MONTE CAZAZZA (SUBTERRANEAN RECORDS, 1982), sowie unveröffentlichte Live- und Rehearsal-Tracks. Darunter auch ein Stück in Zusammenarbeit mit den bereits angesprochenen THE BACHELORS, EVEN, dem damaligen Projekt von CHRISTIAN MARCLAY.
In den frühen Achtzigern arbeiteten FACTRIX außerdem eng mit „THE MINIMAL MAN“ (PATRICK MILLER zusammen – Minimal – Punk, manchmal aber auch sehr sakral-feierlich klingend (durch den Einsatz einer Orgel).
FACTRIX unterstützen zudem MONTE CAZAZZA auf seinen beiden Singles „Stairway To Hell/Sex is no Emergency“ (SORDIDE SENTIMENTAL, 1982) und „Prescient Dreams/Zanoni“ (B-Seite TANA-EMMOLO SMITH, SUBTERRANEAN RECORDS, 1983). 1986 erschien die LP „First Strike“, der ATOM SMASHERS, bestehend u.a. aus MONTE CAZAZZA und JOSEPH JACOBS (PATHFINDER RECORDS). Diese LP ist speziell empfehlenswert – ich würde es als sehr misanthropische Mischung aus Rap (!), West Coast Rock und Industrial beschreiben, die meisten Stücke finden sich aber auch auf der „The Worst Of Monte Cazazza“ CD (MUTE/GREA AREA.)
Hinzuweisen wäre noch auf die interessante Solo-P von BOND BERGLAND „Unearth“ (1986), die auch stark an FACTRIX erinnert, aber auch „orientalische“ Einflüsse verarbeitet, in eine ähnliche Richtung geht auch seine spätere Band SAQQARA DOGS.
COLE PALME bewegt sich heute in Free/Weird/Lo-Fi Folk-Welten; u.a. musiziert er manchmal beim japanisch/amerikanischen Projekt DEERHOOF und bei THE FRANCISCAN HOBBIES mit. Zudem unterstützt er WENDY VAN DUSEN (NEITHER/NEITHER WORLD) und CHTHONIC FORCE.
JOSEPH JACOBS wiederum spielte schon zu FACTRIX-Zeiten auch in der witzigen Bay Area-Punk-Formation BAY OF PIGS, sowie im BIRD AND BEE ORCHESTRA, einer Art „Unterband“ der DOO-DOOETTES, die Teil der „LOS ANGELES FREE MUSIC SOCIETY“ waren/sind (Aus diesem Umfeld kamen ja viele der kalifornischen "Industrial Culture"-Heroen u.a. auch SMEGMA. Im Unterschied zur englischen „Industrial Culture“ ist hier mehr eine Verwurzelung im Free-Jazz maßgeblich. Ein bekannter Sampler aus diesem Umfeld war „Darker Skratcher“ (1980) an dem sich auch BOYD RICE beteiligte.)
JOSEPH JACOBS veröffentlichte noch eine Solo LP („Radio World“) unter dem Namen IO XAVIER (Do Speak Records), dabei soll es sich um einen musikalisch von GUSTAV MAHLER (!) inspirierten Soundtrack eines Undergroundfilms handeln.


Christopher S. & Dominik T.

Übersetzung: Andreas D.

 
Dominik T. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» FACTRIX Myspace-Fanpage


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