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Roy L.

SHIRLEY COLLINS & DAVY GRAHAM: Folk ...

Roots, New Routes. Folkmusik 1964-1984 | Teil I


SHIRLEY COLLINS & DAVY GRAHAM: Folk ...
Kategorie: Spezial
Wörter: 1543
Erstellt: 06.01.2008
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SHIRLEY COLLINS & DAVEY GRAHAM - „Folk Roots, New Routes“
(1964, UK, Decca)



Für den Anfang unserer 52-teiligen Folk-Reihe gilt es, auch im Heidegger'schen Sinne, bis ganz zu den Quellen zurückzukehren. SHIRLEY COLLINS ist zweifelsohne ein Name, der immer mitgedacht wird, wenn man über englischen Folk spricht. Seit Mitte der Fünfziger Jahre verkörpert die 1935 in Hastings geborene Sängerin die Wiederentdeckung und Neubelebung des englischen Volkslieds. Das erste richtige Folkrevival wurde jedoch bereits Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts von den Liedersammlungen CECIL SHARPs und der Gründung der bis heute existierenden „Folk-Song Society“ (1898) eingeläutet. Nach den Weltkriegen war es u.a. das Radio, das zu einer neuen Qualität des Revivals beitrug, als BBC in der Sendung „Country Magazine“ zum ersten Mal regelmäßig Folkmusik über den Äther schickten, gerade zu einer Zeit, da die übermächtigen Vereinigten Staaten begannen, ihre Rock'n'Roll-Kultur nach Westeuropa zu exportieren. Hier taucht SHIRLEY COLLINS mit ihrer klaren, natürlichen Stimme wie eine engelhafte Offenbarung auf. Sie ist diejenige, die das Volkslied wieder populär machen kann, als junge, attraktive Frau hat sie das Potential, über die enge Welt der Folkclubs hinaus zur Identifikations- und Leitfigur zu werden. 1954 trifft COLLINS auf einer von Folksänger und Working-Class-Songwriter EWAN McCOLL veranstalteten Party den amerikanischen Musikethnologen ALAN LOMAX. Einem amourös-romantischem Verhältnis folgt 1959 eine viermonatige Forschungsreise durch die amerikanischen Südstaaten, über die SHIRLEY COLLINS 45 Jahre später in ihrem Buch „America Over The Water“ reflektiert. COLLINS und LOMAX sammeln traditionelles Liedgut in allen sozialen Schichten und Milieus, Gefängnissen und Kirchengemeinden. Die Intensität dieses Trips und das Entferntsein vom heimatlichen England motivieren SHIRLEY noch stärker, sich dem englischen Volkslied zu widmen. „Ironically, it was my year in America that cured me of my romantic view of it, and led me back to my English roots“1. So nimmt sie 1959 und 1960 ihre ersten beiden Platten „Sweet England“ und „False True Lovers“ (damals nur in den USA über FOLKWAYS erschienen) auf und begleitet sich selbst auf Gitarre und Banjo. Schon bei diesen frühen Aufnahmen wird deutlich, dass SHIRLEY COLLINS' Gesang von unglaublicher Reinheit ist und alle nachfolgenden Generationen von Folksängerinnen prägen wird. Es liegt etwas ganz Schlichtes, Ungekünsteltes in ihrer Stimme, die ganz frei vom Katalog klassischer Gesangstechniken ist, so als wäre sie nie mit dem kitschigen kulturellen Überbau der bürgerlichen Welt in Berührung gekommen. Es ist die Stimme einer Frau aus einfachen Verhältnissen, die ihre Lieder noch in mündlicher Überlieferung von ihrem Großvater oder ihrer Tante lernt und ihren halben Monatslohn für die Volksliedanthologien von CECIL SHARP und MAUD KARPELES ausgibt. Wer SHIRLEY COLLINS singen hört, der spürt die Erde fester unter sich und atmet klarere Luft, wie von sanften Blitzen und Sonnenlicht getroffen, lässt es ihn in den tiefen Brunnen des Mythos blicken: das ist die wirkliche Tradition. Denn die Lieder von SHIRLEY COLLINS sind weniger Interpretationen oder Neubearbeitungen sondern repräsentieren so sehr die Essenz des genuinen Liedmaterials.

Ein anderer ebenso wichtiger Kanal öffnet sich, als sich SHIRLEY COLLINS 1964 darauf einlässt, ein Album mit dem fünf Jahre jüngeren Gitarristen DAVY GRAHAM aufzunehmen. GRAHAM, ein exzentrischer Musikjunkie und Troubadour mit charakteristischem Schnauzbart, hat ein deutlich akademischeres Verständnis von Musik. Unermüdlich sucht er Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger nach neuer, innovativer Musik, bildet sich sowohl in Jazz, Blues, Folk als auch in (für Europäer damals) exotischen Musikschulen. Mit jungen Jahren schon unternimmt er Reisen in die Türkei, nach Marokko und Indien. Auf diese Weise reichert er seinen früh zur Virtuosität erhobenen Gitarrenstil mit Einflüssen aus der orientalischen Musik an und gilt als erster „westlicher“ Gitarrist, der seine Saiten nach der offenen Tonfolge D-A-d-g-a-d' stimmt, wodurch ein tieferer, droniger Klang entsteht. Viele seiner Adepten, darunter auch BERT JANSCH/PENTANGLE und JIMMY PAGE/LED ZEPPELIN, die weitaus bekannter als GRAHAM geworden sind, sollten es ihm später gleichtun und damit geradezu eine Revolution im Gitarrenspiel auslösen.
Als SHIRLEY COLLINS durch ihren damaligen Ehemann AUSTIN JOHN MARSHALL auf diesen jungen, rebellischen Gitarristen GRAHAM aufmerksam gemacht wurde, hatte dieser noch nicht einmal eine Handvoll Platten herausgebracht, mit dem bekannten Stück „Angi“ (zu finden auf seiner ersten EP „3/4 AD“) jedoch für solches Aufsehen gesorgt, dass sein Name plötzlich durch alle Szenen von Folk bis Jazz umhergeisterte. Für MARSHALL war es im Grunde  nur eine Art Experiment gewesen, den traditionellen Folkgesang seiner Frau mit dem angejazzten, immer wieder exotisch anmutenden Saitenspiel von DAVY GRAHAM in Verbindung zu bringen. Woher hätte er auch wissen können, dass die daraus resultierende Platte „Folk Roots, New Routes“ den Startschuss für eine ungeahnte Entwicklung in der Folkmusik geben würde.
Mit einer Dynamik als würden zwei grundverschiedene Welten miteinander kollidieren, begegnet die heilignüchterne Tradition, das Urschöne und Urreine dem zwielichtigen, wurzellosen Mysterium der „neuen“ Musik, der urbanen Atmosphäre der Jazzbars und Clubs. Und es passt wie vorherbestimmt von den ersten Klängen an aufeinander. GRAHAM beherrscht das Volkslied fast besser als sein eigenes Repertoire, spielt die Lieder mit demütiger Aufrichtigkeit, improvisiert dazu aber die ganze Platte hindurch und lässt so manchen der jahrhundertealten Songs schlaksig grooven und swingen oder verlagert ihre Herkunft mal eben nach Persien. Dann lässt sich auch kaum noch leugnen, dass SHIRLEY ein wenig davon angesteckt wird, hier und da wird sie lockerer im Gesang und legt bei „Jane, Jane“ einen ungewöhnlich lasziven Hauch in ihre Stimme. Zur gleichen Zeit bleibt sie aber auch dieser ungetrübten, ländlich frischen Linie treu, die ihre ersten beiden Platten prägte. Interessant wird dies vor allem bei dem anmutigen und abschiedsvollen „Pretty Saro“. GRAHAM zupft bedächtig an den Saiten, driftet manchmal in indische Gefilde ab, während COLLINS mit nie wieder erreichter Ruhe und Größe ihr trauriges Lied, wie für sich allein, vorträgt. Anfang der 70er hatte ALISHA SUFIT mit ihrer Band MAGIC CARPET noch einmal versucht, britische Lieder mit dieser orientalischen Tonalität zu spielen, was dann aber schon deutlich psychedelischer ausfiel und sich manchmal zu konstruiert anhörte. Bei COLLINS und GRAHAM wirkt es dagegen echt und notwendig, als würde das Lied schon immer zwischen den Kulturen schweben.       
Die ganze Platte funktioniert aus zwei wichtigen Gründen so gut: zum einen sind die beiden Protagonisten, die hier aufeinandertreffen, trotz ihrer relativen Jugendlichkeit, absolute Meister ihres Fachs, deren ganzes Wesen Gesang und Gitarrenspiel ist. Dann aber scheint es auch immens wichtig, dass beiden genügend Raum für Soloauftritte gegeben wird. SHIRLEY COLLINS begleitet sich selbst auf dem Banjo zu „The Cherry Tree Carol“ und singt „Lord Gregory“ a-capella, und es sind gerade diese beiden Stücke, die dem Album eine starke Folknote verleihen und es auch für Folkpuristen relevant machen. Im Gegenzug wertet DAVY GRAHAM den Liederzyklus mit seinen Instrumentalstücken, besonders dem jazzig versifften „Blue Monk“ und dem leider viel zu kurzen Raga „Rif Mountain“ mit einer kleinen Portion seiner kosmopolitischen Gewandtheit auf. SHIRLEY COLLINS konnte sich mit den Aufnahmen nie wirklich anfreunden, blieb Jazz und GRAHAMs Experimenten immer skeptisch gegenüber und sollte sich in ihrer späteren Karriere nie wieder aus dem engeren Kreis von Folk und Folk-Rock heraus bewegen. Dennoch gab es nach Erscheinen von „Folk Roots, New Routes“ einige gemeinsame Auftritte in London und Umgebung. 1980, als die Platte neu aufgelegt wurde, traten SHIRLEY COLLINS und DAVY GRAHAM noch einmal zusammen auf. Etwas später „verlor“ COLLINS ihre Stimme und GRAHAM wurde als Alkoholiker und Drogenjunkie abgeschrieben und fiel nahezu dem Vergessen zum Opfer. Inzwischen hat sich der charismatische Gitarrenvirtuose, der nie aufgehört hat, dazuzulernen und sich für verschiedene Spielstile aus verschiedenen Traditionen zu begeistern, wieder gefangen und veröffentlicht zurzeit noch munter weiter. Auch die „First Lady“ des englischen Folks traute nach über zwanzig Jahren ihrer Stimme wieder ein Lied zu und singt auf DAVID TIBETs letztem Album „Black Ships Ate The Sky“.

Viel mehr als das Experiment, als das es geplant gewesen war, ist „Folk Roots, New Routes“ zu einem der wichtigsten und richtungsweisendsten Alben für alles was nach 1964 an Folkmusik folgte, geworden. Allein der bedeutungsschwangere Titel muss als prägnantes Paradigma und Umkehrpunkt gelten, an dem alle späteren Entwicklungen in dieser Musik ihren Ausgang nehmen, an dem die Vorstellung von Folk-Rock und, damit verbunden, von Bands wie PENTANGLE, FAIRPORT CONVENTION, TREES und STEELEYE SPAN erst möglich wird. GRAHAMs neues, erfrischendes und ständig zwischen den Stilen wechselndes Gitarrenspiel wird später die Gitarrenhelden des Genres wie BERT JANSCH, JOHN RENBOURN, RICHARD THOMPSON oder BARRY CLARKE nachhaltig beeinflussen und ebenso wären die Platten von FRANKIE ARMSTRONG, ANNE BRIGGS, SANDY DENNY und MADDY PRIOR ohne den unverwechselbar reinen Gesang von SHIRLEY COLLINS kaum denkbar.
„Folk Roots, New Routes“ zeigte 1964, was alles mit Folk möglich ist, und darf daher zurecht als großes Alpha für eine Folkmusik bezeichnet werden, die beweglich und lebendig wird und in einem stetigen dynamischen Prozess wie ein Spiegel, die sich wandelnden Erscheinungen der Popkultur, verlässlich reflektiert.


Titel:

A
Nottamun Town
Proud Masirie
The Cherry Tree Carol
Blue Monk
Hares On The Mountain
Reynardine
Pretty Caro
Rif Mountain

B
Jane, Jane
Love Is Pleasin'
Boll Weevil, Holler
Hori Horo
Bad Girl
Lord Gregory
Grooveyard
Dearest Dear

50min

Erstauflage:
Decca LP 4652 | 1964

Re-Releases:
1980: Righteous Records | GDC001 | LP
1999: Topic Records | TSCD819 | CD
2005: Fledg'ling Records | FLED 3052 | CD

1 aus den Linernotes zu "False True Lovers" (Fledg'ling | FLED 3029 | 2001)

 
Roy L. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» Shirley Collins
» Davy Graham

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