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Michael We.

RASSEMENSCHEN HELFEN ARMEN MENSCHEN (EP)

"Ein guter Schlachtruf für die neue Zeit"


RASSEMENSCHEN HELFEN ARMEN MENSCHEN (EP)
Genre: New Wave
Verlag: Kunstflacksc...
Vertrieb: ANNA LOGUE...
Erscheinungsdatum:
Oktober 2007
Medium: Vinyl 7''
Preis: ~11,00 €
Kaufen bei: ANNA LOGUE...


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Der Originalartikel erschien im Musikmagazin „Sounds“ (Ausgabe 11/1982) mit dem Zusatz: „Ohne Rücksicht auf überhaupt irgendwas“. Wir drucken ihn ab mit freundlicher Genehmigung des Autors, XAÕ SEFFCHEQUE alias ALEXANDER SEVSCHEK. Der in Graz gebürtige und später in Düsseldorf lebende Musiker (aus dem damaligen FEHLFARBEN-Umfeld, eigene Band: FAMILY 5) und Drehbuchautor schrieb Ende der 1970er , Anfang der 1980er Jahre für „Sounds“ unter anderem über Punk und New Wave im deutschsprachigen Raum, in diesem Artikel insbesondere über die österreichische 'Szene'. (Wegen der Länge des Artikels empfehle ich, ihn auszudrucken und so zu lesen, wie er damals auch erschienen ist, als Print-Text).





DIE WAHRHEIT ÜBER WIEN

WIEN WILL WIEDER WELTSTADT WERDEN

von XAÕ SEFFCHEQUE

Das Schöne an diesem Lande ist, dass man immer wieder wegfahren kann (HELMUT QUALTINGER). Noch schöner ist, dass man von jedem beliebigen Punkt des Landes selten mehr als zwei Stunden dafür aufwenden muss. Das ergibt sich aus der kartografischen Lage des Landes und seiner Form, die einem Wienerschnitzel mit dünn ausgeklopftem Fett-Schwanz ähnelt. Der Homo Austriacus alpiniensis gleicht diesem Meta-Schnitzel wiederum zum Verwechseln. Mit der winzigen Einschränkung, dass die Proportionen von Schnitzelfleck und Fett-Schwanz sehr zugunsten des Schnitzels verschoben sind. Soweit zu den handelnden Personen.
Die Musik-Kultur hatte in dem seinerzeitigen Vielvölkerstaat Austria schon immer Tradition und Traditionen. MOZART, HAYDN, BRAHMS, die diversen STRÄUßE, SCHÖNBERG, ich. Im Anschluss an die schröckliche METTERNICH-Ära Mitte des vorigen Jahrhunderts gab sich das Volk stilvollen Vergnügungen hin, zu welchen vor allem das Tanzen im Walzerschritt zu zählen war. JOHANN STRAUß im Besonderen kreierte Arrangements, deren Subtilität und gleichzeitige Wucht sich heutzutage in den schönen Liedern von ABC mit etwas Geduld und feinem Ohr wiederfinden lassen: jubilierende Geigen, schmetternde Fanfaren, knatternde Trompeten, tutende Waldhörner, zwingende Rhythmen, Männer mögen die Texte, Frauen lieben die Melodien. Der Reigen der untergangsseligen Vergnügungssucht schließt sich einmal mehr - die letzten Tage von Pompeji oder London calling, gebürstetes Haar und feine Beinkleider.

Fragt sich der Leser nun, was das mit der versprochenen Wahrheit über Wien zu tun hat, kann man ruhig sagen: Viel. Punk-Rock passierte in Österreich so gut wie gar nicht. 1980 erschien "Love Will Tear Us Apart" in einer aparten Coverversion der Wiener Gruppe CHUZPE, in wochenlangen Versuchen eingespielt vom rührigen WOLFGANG STROBL - heute führender Avantgarde-Musik-Gemischt- und Kolonialwarenhändler im Zentrum der Stadt ("Dum Dum") - auf seinem Gig-Label veröffentlicht. Da das JOY DIVISION-Original in Österreich offiziell niemals erschienen war, konnte sich die Gruppe den Überraschungseffekt zunutze machen und immerhin 15.000 Stück verkaufen, was in Österreich einem Spitzenplatz in den Charts gleichkommt und für CHUZPE wie für STROBL Ruhm, ein wenig Geld (um das STROBL heute noch mit dem jetzigen Gig-Chef Spiegel gerichtlich streitet) und den Beginn zweier gemütlich dahinwurstelnder Karrieren bedeutete.
Hervorzuheben wäre der Mut, in diesem Lande so etwas wie ein Independent-Label aufzuziehen; der österreichische Markt dürfte grob geschätzt den Umfang des Düsseldörflichen haben, und tatsächlich starteten einige andere ähnliche Versuche, z.B. in gewisser Herr NEMECZEK, seines Zeichens Mitglied der Gruppe MINISEX. Der Gesang dieser Band z.B. wirkt, als befände sich der Sänger während der Aufnahme auf einem Fußmassage-Gerät, und der Saxofonist erweckt den Eindruck, als habe ihm ein Polizeibeamter eine Alkotest-Tüte hingehalten, in welche der Musiker nun frohen Herzens bläst. Weitere Veröffentlichungen dieser Gruppe kamen wohl nur dadurch zustande, dass NEMECZEK gemeinsam mit einem EBERHARD FORCHER, Sänger und Gründer von TOM PETTINGS HERTZATTACKEN, das Label SCHALLTER aus der Taufe hob, das den neuen Donauwellen und ihren Protagonisten zum Durchbruch und ihren Agenten zu Glück, Ruhm und Reichtum verhelfen sollte. In Ermangelung von vertriebstechnischen Möglichkeiten und der Lust, sich welche zu schaffen, wurde SCHALLTER kurzerhand an die ARIOLA abgegeben.
Mit Ausnahme von LEIDER KEINE MILLIONÄRE, ein in den Ideen witziges Projekt des wienerischen BILL WYMAN der Rundfunkszene, WOLFGANG KOS, erschien auf SCHALLTER nichts Nennenswertes, will sagen: Nur NDW-Kopien- und Verschnitte, PLAN-Epigonen, alter Hippie-Dreck, pseudomystischer Kram sowie keine akzeptable Schlagermusik. Wie zur Zeit der großen Koalition ist das Bild der SCHALLTER-Szene vom Proporz geprägt, verfilzt wie ein alter Kalabreser-Hut, Mitteleuropas aussichtsloseste Pop-Musik-Aspiranten. Besser schlägt sich hier die ebenfalls aus Wien stammende Gruppe BLÜMCHEN BLAU, die mit "Flieger" eine hübsche Single rausbrachte und deren gerade fertige LP von KURT DAHLKE alias PYROLATOR aus Düsseldorf abgemischt wurde.
Schwierigkeiten mit ihrem Image seit der JOY DIVISION-Coverversion hatte die Gruppe CHUZPE, ihren eigenen Angaben nach Österreichs erste und einzige Punk-Band, zumindest was das schöpferische und soziale Selbstverständnis betrifft; ihre erste LP hat einige kreative High-Lights und größtenteils ausgezeichnete Texte, mutet allerdings musikalisch im großen und ganzen doch etwas anachronistisch an, vom gesamteuropäischen Standpunkt wenigstens. Des weiteren erwähnenswert: MONOTON, eine mit Elektronik etc. experimentierende, vom allgemeinen Szenengeschehen eher isolierte Formation und NIVEA, eines der süßesten Mädchen der inzestierenden Wiener Szene, das zusätzlich zu seinem natürlichen Charme, seinen Entertainer-Qualitäten und seinem Talent nur mehr das passende Management benötigen würde.

Österreich ist im Verhältnis zur Welt vielleicht so etwas wie Berlin im Vergleich zu Deutschland: alles verzehrender Wasserkopf, tödlich isoliert, inzüchtig, kaputt und dabei trotzdem malerisch schön. In Österreich bist du der letzte Dreck, ganz gleich, was du machst, wenn es außerhalb der szenarisch gesetzten Grenzen passiert, es sei denn, du machst es in Deutschland, was gleichbedeutend mit England, Amerika oder dem Mars ist. Das aber haben bisher mit Ausnahme des früheren Bassisten der Chaos-Rocktruppe DRAHDIWABERL, Herrn FALCO, nur die Liedermacher AMBROS, DANZER, HIRSCH, CORNELIUS, FENDRICH und WATERLOO geschafft, jene Schwachsinns-Mafia, die die Körnerfresser-Masse kontrolliert. Der Rest der Musiker lebt von Papas milden Gaben, vom Sozialamt oder von einträglichen Nebenjobs und findet seine Unterstützung in Form eines durchgehenden Hurra-Journalismus einheimischer Reporter und Rundfunkredakteure, die dem staunenden Besucher des Landes den Eindruck vermitteln, als hätte Wien in seiner Funktion als Metropole der zeitgenössischen Musikunterhaltung das mittlerweile tote L.A. und das langsam fade London längst überflügelt.
Hervorzuheben wären hierbei das miserable "Bravo"-Plagiat "Rennbahn-Express", das sich wie die Selbsthilfe-Zeitung einer mittelberüchtigten Nervenheilanstalt liest, dabei das meistverkaufte Jugendmagazin darstellt!, und die TV-Jugendsendung "Okay", moderiert von einer gewissen VERA RUßWURM, die übrigens exakt so aussieht, wie sie heißt, und hauptsächlich schlechte Industrie-Videos von ganz miesen Truppen bringt. Mitjubeln darf auch ein Herr PETER PAUL HOPFINGER, der regelmäßig versucht, auch den größten Kack österreichischer Provenienz in einem augenscheinlichen Anfall überdrehten Patriotismus' den Lesern des Magazins "Top" schmackhaft zu machen. Leider bilden auch gutgemeinte Szene-Gazetten wie die vom Renommier-New-Wave-Club-Chef PETER SCHABERL verlegte "Musiklandesrundschau" keine Ausnahme: Gut ist, wer in der Woche drauf im Club "U 4" gastiert, schlecht ist dann regelmäßig die Truppe, die in der Vorwoche aufgetreten ist, aber immerhin ist die in 10.000er Auflage erscheinende "Spex"-Nachempfindung ein positiver Ansatz, dem man durchaus Chancen zur inhaltlichen und hoffentlich auch wirtschaftlichen Konsolidierung geben darf, zumal das Blatt das einzige gedruckte Forum für den diversen Nachwuchs darstellt.

Fazit: "Unablässig wäscht eine Hand die andere, nur: man weiß nicht, wozu!", wie die teilweise hervorragend gestylte Programm-Zeitung "Wiener" gehässig kommentiert, die im pausenlosen Zusammenwirken jener typischen Cliquenteile Journaille, Plattenfirmen, Musiker-"Stars", TV- und Rundfunkfritzen und Veranstalter eine "Versumpfung der journalistischen Sitten" bemerkt. "Es kann jeder New-Comer mit einer freundlichen P.R.-Story rechnen, nicht aber mit aufrichtiger Kritik. Die Hurra-Berichte, die alles gleich gut finden, treiben die Musiker in tumben Größenwahn und desensibilisieren den Geschmacksnerv des Publikums. Wenn alles super ist, schmeckt bald gar nichts mehr!" Anhand einer sehr ähnlichen Entwicklung zeichnete sich schon vor einem Jahr das Ende der damals eben erblühten NDW hierzulande ab. Österreich hing schon immer etwas nach... "In Wahrheit verdienen nur ganz wenige. Doch eine Handvoll Journalisten tut pausenlos so, als wären wir eine Rock-Supermacht. Und wir lassen uns gern belügen." ("Wiener", MICHAEL HOPP)
Unnötiger Nationalstolz und dumpfer Patriotismus sind und waren schon immer unsere Stärke, hüben wie drüben, hier wie auch dort. Zudem ist leicht über Österreich schimpfen, wenn hier dieselben Fehler begangen wurden und noch immer begangen werden. Seien wir uns ehrlich: Die NDW und ihre Ableger in Österreich und der Schweiz haben mit Ausnahme der MITTAGSPAUSE-Produkte, des zweiten DAF-Albums, der FEHLFARBEN-PETER HEIN-LP, der ersten PLAN-LP, der ersten PALAIS-SCHAUMBURG-LP und der ersten beiden MALARIA-12"s nichts, absolut nichts Wesentliches hervorgebracht. Wobei weniger Kacke dabei war, als man auf den ersten Blick vermuten könnte: Vielmehr egalisierten sich die meisten Produkte gegenseitig durch tödliches Mittelmaß, gähnende Langeweile und grassierenden vorsätzlichen Schwachsinn.
Einer der wenigen Wiener, die das erkannt haben, ist der Moderator der wohl besten Rundfunk-Sendung "Ö-3-Musikbox", ALFRED HÜTTER, der schon den internationalen Anschluss geschafft hatte, als sich noch ganz Wien von FRANK ZAPPAS "Joe's Garage" zum Tanz aufgefordert fühlte: Wer in Österreich gute Pop-Musik heimischer und internationaler Prägung hören will, muss sich seine Sendungen zu Gemüte führen. Oder mit den Machern der KRISENPRODUKTION reden: GOTTFRIED DISTL und ANDREA DEE, die unter dem Pseudonym RASSEMENSCHEN HELFEN ARMEN MENSCHEN zwei interessante Single-Produktionen veröffentlichten und sich zudem mit Videos und Filmen beschäftigen. Selbstdarstellung: "Mein Ahnherr ist ALLEN GINSBERG. Aber seine Prophetie erfüllte sich in den sechziger Jahren. Bis zum Woodstock-Festival hat die Beat-Generation recht gehabt. Aber heute ist alles ganz anders!"

FALCO ist ein typischer Retortenstar, früher Bassist bei der Tanz-Kapelle SPINNING WHEEL und bei DRAHDIWABERL, heute Hit-Interpret (1 Stück) von des Jazzers ROBERT PONGERs Gnaden. Er ist unwichtig und schon heute redet niemand mehr von ihm. WILFRIED ist ein retrovaginaler Chamäleon-Rocker ohne Schneid und Substanz, der vom Jodeln bis zum New Wave schon alles versucht hat, FRANZ MORAK ein normaler Burgschauspieler mit LINDENBERG-Ambitionen, die COSMETICS Österreichs Möchte-Gerne-IDEAL. Zukunftsträchtig und hübsch (bescheiden) sind BLIZZFRIZZ mit einem potentiellen Hit, "Farb-TV", gesungen von REINHARD WEIXLER aus Graz, der außerdem vorführt, wie vorbildliche Eigenproduktionen zu klingen haben.
GERHARD PAKESCH, ebenfalls aus Graz, entpuppt sich als vielversprechender Nachwuchs-Avantgardist und bekommt für den Namen seiner Zwei-Mann-Gruppe SCHÖN IST ANDERS einen Orden, "No New York" findet in der steirischen Mädchengruppe ROSI LEBT ein alpines Pendant, für SID VICIOUS Erben treten DIVERSER NACHWUCHS ein, im übrigen wird die Stadt von HERR LUGUS regiert. So, das war's für mich. Eigentlich wollte ich ja detailliert auf die wesentlichen Städte des "neuen" Geschehens - Wien, Graz, Linz, Wiener Neustadt - und ihre Exponenten eingehen, ich möchte dies jedoch anstandshalber unterlassen, weil mir die Kritik anläßlich des deutlich zu erkennenden Substanz- und Ideen-Mangels innerhalb der österreichischen Musikszene im besonderen und der mitteleuropäischen im allgemeinen vielleicht doch zu hart geriete. Trotzdem oder deshalb muß ich sagen, daß alle hier Erwähnten allen Nichterwähnten um Längen voraus und überlegen sind, denn die wenigen, die sich trotz einer Atmosphäre rot-weiß-roter Behäbigkeit links und rechts der Donau, abseits musikalischer Trampelpfade bewegen, gelten, wenn überhaupt bekannt, in der großen Öffentlichkeit nach wie vor als seltsame Exoten, mindestens aber als totale Vollidioten, denen man - noch 1000 mal schlimmer als in Deutschland - ständig mit grenzenlosem Unverständnis oder offenem Haß gegenübertritt.


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Zum Interview

 
Michael We. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
» Kunstflackschallplatte @ myspace
» DISTL / DEE @ myspace
» Abhandlung über die Texte der NDW
» NDW-Seite mit Bands und aktuellen CD-Empfehlungen
» viele NDW-Lyrics
» deutschsprachige Punk- und Wave-Diskographie
» CHUZPE @ myspace
» M magazin @ myspace


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Zusammenfassung
Ein schönes Beispiel, warum die NDW-Zeit doch viel Gutes hatte: Weil abseits der so genannten Stars jede Menge passiert ist, das sich wiederzuentdecken lohnt. Diese fünf Songs aus Österreich zum Beispiel sind heute noch so charmant, avantgardistisch und wunderlich wie damals.

Inhalt
Limitiert auf 150 Stück, incl. Kopie eines Zeitungsartikels von 1985 mit zahlreichen Infos zu DEE und DISTL.

A1 Ich Kann Es Nicht Erklären
A2 Alles Ist Mir Recht
A3 Grundloser Untergrund
B1 Die Ballade Von Der Peripherie
B2 Ist Es Nicht Ein Wunder
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