DAVID MICHAEL AND ME MEET AT LAST, THEN DISAPPEAR. ALAS! - Eine persönliche Hommage und Konzertbericht. (In epischer Breite. Soviel Zeit muß sein...:) ) Das erste, was ich jemals von CURRENT 93 gehört habe, waren zwei Live-Aufnahmen. Es war im Sommer 1994, als ich von einer DEINE LAKAIEN und LACRIMOSA hörenden und bleiche Schminke tragenden Freundin zum ersten Mal ins legendäre Wiener U4 zum „Gruftimontag“ „Blue Monday“ (den gibt's nimmer, soviel ich weiß) geschleppt wurde und als diesbezüglich völlig Unberührter wahrhaftige musikalische Epiphanien erlebte. An diesem Abend hörte ich zum ersten Mal DEAD CAN DANCE („Saltarello“), EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN („Yü-Gung") und LAIBACH („Opus Dei“). Am meisten umgehauen hatte mich jedoch CURRENT 93’s „O Coal Black Smith“ (wie ich später erfuhr, in der Fassung des Live-Albums „Looney Runes“). Das wahnwitzige „Lalalaa“, als würde hier ein Haufen dementer Kinder singen, der unheimliche Märchen-Text („...and she became a fly, a fly all in the air, and he became a spider - and fetched her to his laiiiir!“), vor allem aber die makabre, wie irrsinnig krächzende Stimme von DAVID TIBET - dergleichen hatte ich noch nie gehört. (Überhaupt war diese merkwürdige Art zu „singen“ damals für mich ein Kennzeichen von „Gruftimusik“ schlechthin. Sie paßte gut zu spitzen „Leichenficker“-Stiefeln und toupierten Haaren. In dieser Stimmlage hielten es auch RELATIVES MENSCHSEIN, manchmal GOETHES ERBEN, die ultrakranken STENDAL BLAST oder die SEX GANG CHILDREN und die frühen CHRISTIAN DEATH.) „Bedenke ich die kurze Dauer meines Lebens, aufgezehrt von der Ewigkeit vorher und nachher; bedenke ich das bißchen Raum, den ich einnehme, und selbst den, den ich sehe, verschlungen von der unendliche Weite der Räume, von denen ich nichts weiß, und die von mir nichts wissen, dann erschaudere ich und staune, daß ich hier und nicht dort bin; keinen Grund gibt es, weshalb ich gerade hier und nicht dort bin, weshalb jetzt und nicht dann.“ Was mich damals fesselte, und bis heute berührt, ist die vollkommene Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit, mit der sich Tibet in seinen metaphysischen Seelenqualen suhlte und sie gleichzeitig künstlerisch ausbeutete, Qualen, die noch dazu via Drogeneinfluß, okkulter Praxis und infantiler Fixierungen einen ganzen privatreligiösen Kosmos hervorbrachten, der wie ein acid-getränktes, buddhistisch gefärbtes Amalgam von BLAKE, CARROL, BLYTON und HILDEGARD VON BINGEN wirkte. Nun denn. Der Rest ist, wie man sagt, Geschichte. Vieles hat sich seither verändert, bei CURRENT 93 und mir, und irgendwann hieß es Abschied nehmen: „David Michael falls alone...“. Schon mit „Soft Black Stars“ (1998) konnte ich wenig anfangen, und so ging es mir auch mit den folgenden Veröffentlichungen, die mich weniger und weniger interessierten. Die halbgelungenen, von Tibet selbstgemalten Covers ersetzten nervtötenderweise die herrlichen Motive der alten Veröffentlichungen. Die Flut an witzlosen Live-Alben empfand ich als Zumutung. Allein „I Have A Special Plan For This World“ und „Faust“ schlugen mich noch in ihren Bann. Dennoch verfolgte ich und verfolge weiterhin Tibets geistige Entwicklung via DURTRO.COM: aus dem einstigen Crowley-Jünger ist ein zwar seltsamer, aber gläubiger Christ geworden, für den der Großteil seiner früheren Arbeiten nur mehr nihilistisches Teufelszeug ist. Und so war mein Konzerterlebnis am Sonntag, dem 28.Mai 2006, an der VOLKSBÜHNE, Berlin, eine Art posthume Begegnung. Einmal wollte ich mein einstiges Idol auch „in echt“ sehen, wohl wissend, daß die Zeiten von „Swastikas for Noddy“ und „Thunder Perfect Mind“ lange vorbei sind. Ein im Jahr zuvor überstandenes Konzert von ANTONY bereitete mich auf das, was ich zu erwarten hatte, vor. Ich will die zahlreichen Antony-Fans nicht ärgern, aber „one man’s meat is another man’s poison“, und für mich ist Antony, dem ich durchaus Qualitäten zugestehe, pures, wehrkraftzersetzendes Gift. Der allgemeine Hype um ihn ist mir ein undurchdringliches Rätsel. Diese Musik enthält in Reinform alles, was ich an CURRENT 93 immer schon für ungesund hielt, und was mir heute viele (auch alte) Lieder schwer erträglich macht: weinerliche, genüßlich angestachelte Depressivität; triefige Sentimentalität; masochistische Vollbäder in schmerzlichen, sehnsüchtigen Stimmungen; und nicht zuletzt eine „schöne“, melancholische Schmalzigkeit, ein „feminines“, selbstmitleidiges, selbstquälerisches Gesuder. Wenn ich heute traurige Lieder höre, müssen sie „trocken“ sein, und nicht tränenfeucht. Mit dieser Disposition hatte ich schon früher gegen Lieder wie „A Sadness Song“ eine unüberwindliche Abneigung. So mag es auch nicht verwundern, daß ich BABY DEE’s Schnulzenattacke im Vorprogramm als eine einzige Tortur empfand.
Auch PANTALEIMON, also ANDRIA DEGENS (die mindestens so liebenswert kauzig wirkt wie ihr Ehemann, Herr Tibet) mit einem kurzen Set, war nicht gerade der Bringer. Nach einer ohrenbetäubenden, zermürbenden Endlos-Muzak-Synthie-Schleife vom Band kamen also endlich die Musiker der jetzigen Inkarnation von Current 93, unter ihnen waren nicht: JOOLIE WOOD, BABY DEE und SIMON FINN. Auf die Wand hinter ihnen ein riesiges Mandala projiziert, das offenbar einmal eine kaleidoskopische LOUIS-WAIN-Katze dargestellt hat. Endlich schlurft langsam eine gekrümmte, barfüßige, magere Gestalt mit Schlapphut ans Mikrofon, und die unverkennbare Stimme ertönt, die ich schon so viele hundert Mal aus der Konserve gehört habe. Als Eröffnungsnummer gibt es ein endzeitliches BILL FAY-Cover: „The Time Of The Last Persecution“. Tibet wirkt wie ein authentischer, auf der Straße lebender Penner, wie einer der Verrückten, die sich im Hyde Park auf die Regentonne stellen und das „Ende der Welt“ verkünden. Ungefähr nach der zweiten Nummer nimmt Tibet den Hut ab. Seine lächerlich lockenköpfige Stirn ist weiter als je zuvor nach oben gewandert, tiefe Geheimratsecken geben dem Kopf eine frankensteinartige Form. Sein Gesicht ist hager, nervös, deutlich gealtert, wirkt wie das eines Ex-Psychiatriepatienten, der zuviel Psychopharmaka-Behandlung hinter sich hat, oder auch wie das eines Alkoholikers. Drogenmißbrauch (Tibets einstiges Level reicht wohl an das von KEITH RICHARDS ran) und Depression sind hineingeschrieben. Tibet trägt seine Nummern mit bierernster Miene, ohne Anflug eines Lächelns (auch zwischen den Stücken) und mit exzentrischer Theatralik vor. Spastisch-elektrische Zuckungen scheinen ihn unwillkürlich zu durchfahren, dann schleicht er wieder in einem seltsamen Gang auf samtpfötigen Zehenspitzen vor und zurück, als wäre er eine Katze, gestikuliert und grimassiert melodramatisch wie ein Stummfilmschauspieler. Das ganze hat etwas von wirklich billigem Schmierentheater und berührt mich zunächst etwas peinlich. Dennoch kann ich meine Augen nicht von dem traurigen, ironiefreien Rumpelstilzchen abwenden, dessen Hemmungslosigkeit mir mehr und mehr Respekt einflößt, mich zutiefst bewegt. Einen vergleichbar furchtlosen und zugleich verletzlichen Exhibitionismus habe ich noch nie in einer Konzertdarbietung erlebt. Kein Zweifel: dieser Mann ist völlig verrückt, aber er hat eine ergreifende Reinheit, die Gott nur seinen Lieblingsnarren gewährt, an denen das Christentum ja nicht gerade arm ist. Mit leiser, brechender, tränenerstickter Stimme kündigt er die Lieder an: dieses sei für seine Frau, dieses für seine verstorbene Katze. Eine unfreiwillige Komik schwebt über ihm, und gleichzeitig bleibt er unantastbar. Viele der Titel stammen von dem neuen Album „Black Ships Ate The Sky“, aber auch einzelne Neufassungen alter Lieder, sogar von „Imperium“ (1986) tauchen hin und wieder auf. Meine Gefühle bleiben gemischt: neun Leute sind gleichzeitig auf der Bühne, an „klassischen“, „schwierigen“ und „schönen“ Instrumenten wie Klavier, Harfe oder Cello fehlt es nicht. Aber sie spielen häufig eine schwer erträgliche, phrasenhafte Sauce zusammen, die den Aufwand witzlos und übertrieben erscheinen läßt. Die Flöten- und Violineinsätze wirken oft etwas allzu jäh und holprig, klingen schief. Ein schales „Pop goes Classic“-Gefühl kommt auf, als würden die Wiener Philharmoniker „Yesterday“ oder „My Way“ spielen. Andere Nummern werden durch einen mitreißenden Rock gerettet, etwa das Stück „Niemandswasser“. Aber wenn Jollie Wood aushilfshalber den klassischen Part von Rose McDowall singt: „O when I saw you standing there /Black Flowers dying in your hair...“, dann stellt sich ein schmerzliches Mangelgefühl ein und eine unstillbare Sehnsucht nach der unvergleichlichen Rose. Erst als bei den Zugaben endlich MICHAEL CASHMORE (er wohnt jetzt in Berlin) auftaucht (er war angeblich schon vorher da, ich habe ihn aber nicht gesehen und sein Input war nicht wahrzunehmen), und David Tibet zusammen mit ihm und Joolie Wood noch ein paar „Klassiker“ wie den genialen Song „In The Heart Of The Woods“ zum besten gibt, bin ich so richtig bedient und glücklich. Das ist, was Current 93 in den letzten Jahren gefehlt hat: die markanten, puristischen Lieder mit zündenden Melodien, für die einst vor allem Douglas P. und Michael Cashmore zuständig waren. Unter donnerndem Applaus verabschiedet sich David schließlich, Kußhändchen werfend, nun doch ein sanftes Lächeln um den traurigen Mund und die großen, traurigen Augen. Ich bin nicht enttäuscht, ich wußte natürlich, daß die alten Zeiten vorbei sind. Aber Liebe und Dankbarkeit für Herrn Tibet werden bei mir nicht aufhören. Ich bin bewegt, endlich jenen Künstler im (vergänglichen) Fleisch und Blut gesehen zu haben, der mich beeinflußt hat wie kaum ein anderer. Wieder zuhause, krame ich das für mich so folgenreiche Live-Album „As The World Disappears“ hervor. Der Qualitätsunterschied scheint mir doch augenfällig. Ich spiele eines meiner Evergreens an: „ They Returned To Their Earth “. Was für eine vollkommene Nummer: eine einprägsame Melodie, Violine und Harfe fügen sich harmonisch und ergreifend ein, und dazu einer von Tibets gelungensten, anrührendsten, poetischsten Texten: „When serpents come, they cover the Christ Thorn....And Mother - is in the fields, Father- is in the fields...“ Nun denn, alles Gute, David, für deine weiteren Metamorphosen, in dieser und in der kommenden Welt!
Martin L. für nonpop.de
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