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Roy L.

Rückschau: 15. Wave-Gotik-Treffen

Black Leipzig, 02.06. - 05.06.


Rückschau: 15. Wave-Gotik-Treffen
Kategorie: Spezial
Wörter: 1490
Erstellt: 13.06.2006
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Montag, WGT - Abschluss (Roy)
 
Nach einer langen Nacht mit den Tesco-Bands und insgesamt wenig Schlaf ging es daran, den letzten Festivaltag halbwegs aufrechtstehend zu bestreiten. Für den frühen Abend war ein Ausflug zu einem weiteren kleinen Neofolk-Konzert in der Kuppelhalle "Volkspalast" geplant. Bei dem Gedanken an :OF THE WAND AND THE MOON: beschlich mich ehrlich gestanden etwas Müdigkeit und Abneigung, hatte ich doch immer noch die göttlich dämonische, alles vereinnahmende, alles in sich zerreißende und wieder zusammenheilende Performance der innig geliebten Ex-Wiener Brigada Rumorarmonio NOVÝ SVET im Geiste, die auch so schnell durch nichts vergessen gemacht werden könnte. Immerhin freute ich mich zumindest ein wenig auf diese, im Grunde schrecklich epigonenhafte Synthie-Folk Kombo ALL MY FAITH LOST, um wenigstens noch eine italienische Gruppe in Leipzig zu sehen. Allerdings sollte daraus nichts werden, der Band wurde bereits am Donnerstag von den WGT-Organisatoren abgesagt. Aus welchen Gründen dieses in allen Belangen völlig unbedenkliche Projekt hier ausgeladen wurde, bleibt mir ein Rätsel, vielleicht lag gar eine Verwechslung mit dem uniformierten, für seinen suspekten Handgruß bekannten Angelo Bergamini von KIRLIAN CAMERA vor!? Sei's drum, anstelle der Italiener sollten also die Dänen den Abend eröffnen und wir waren gut eine Stunde zu früh am Veranstaltungsort, da sich am Zeitplan ansonsten nichts änderte. :OTWATM: präsentierten sich wie schon bei den Deutschlandkonzerten im April als Quartett mit relativ ausreichender Tarnjackenfolk-Instrumentierung. Gespielt wurden nach einer überraschend lebhaften Eröffnung mit "Lion Serpent Sun" sehr viele Stücke von der aktuellen Platte "Sonnenheim". Da der Verfasser dieser Zeilen mit nämlichem Album nicht zur Gänze vertraut ist, wird an dieser Stelle auf die Benennung einzelner Titel weitestgehend verzichtet. Jedoch möchte ich rein instinktiv darauf wetten, dass sich "Nighttime In Sonnenheim", "Summer Solstice" und "Hail Hail Hail" darunter befunden haben mögen. Aufgelockert wurde das Set durch altbekannte Hits wie "I Crave For You" und "Raven Chant", die an sich zwar den Eindruck einer soliden, sogar recht professionellen Vorstellung erweckten, jedoch zugleich der, besonders für letztgenannteres Lied, bitternotwendigen schlagkräftigen Perkussion entbehrten. Möglich gewesen wäre dies durchaus, immerhin war die Band mit zwei Trommeln ausgerüstet, für die sich bei der Mehrzahl der Stücke allerdings niemand so richtig verantwortlich fühlte. Nun gut, der neue zweite Gitarrist Morten tat gut daran, sich zum größten Teil seinen elektronisch verstärkten Saiten zu widmen. Mit der Präsenz eines wuchtigen skandinavischen Rockers brachte er sogar einen zwar nur ganz geringen atmosphärischen Hauch von 70er Progressive-Folk-Klängen in die Kompositionen ein, die ansonsten ja allzu sehr an DEATH IN JUNE angelehnt sind. Was ihn wohl dazu brachte, mit einer Band wie :OTWATM: ein bisschen andächtig munkelnde Lagerfeuerstimmung zu verbreiten? Der gute Mann verfügt sicher über ein weitaus größeres musikalisches Repertoire. Etwas eindimensionaler schraddelte sich Kim Larsen an der Akustikgitarre durch das Konzert. Hinter der Bühne mag er ein lustiger, sympathischer und trinkfester Kerl sein, aber beim Auftritt wirkte er sehr distanziert, fast schon unheilbar introvertiert. Auch wenn er sich inzwischen anstelle des Flüsterns nun richtigen Gesangs bedient, schien mir die ganze Performance unter einer transparenten Eisdecke stattzufinden, an der zwar zu manchen Augenblicken mächtig geklopft wurde, die sich aber nie gänzlich durchbrechen ließ. Man fieberte zugegeben etwas mit, ob Kim nicht im nächsten Moment etwas mehr aus sich heraustreten würde und tatsächlich ließ er zumindest bei der Zugabe und zuvor bei dem Instrumental "Ja Boga Ne Videu!", das er seinem Freund und Kollegen Andreas Ritter (FORSETI) widmete und welches auf diese Weise auch auf der demnächst im NolteX Verlag erscheinenden Tribut-Kompilation "Forseti Lebt!" vertreten sein wird, eine ganz leise Ahnung dieser bis aufs äußerste mit der Musik verschmolzenen Versunkenheit durchblicken, wie man es nur bei echten Musikern vernimmt. Zusammenfassend war es trotzdem ein recht gutes Konzert, bei mir persönlich ist der Funke nicht völlig übergesprungen, das Publikum aber war durchaus hochzufrieden. Als nächstes kündigte sich im "Volkspalast" das schwedische Neo-Klassik Projekt THE PROTAGONIST an. Schon wieder so eine Cold Meat- Band, dachte ich mir und war nicht gerade gespannt auf den Auftritt von Magnus Sundström,  der abgesehen von seiner überdimensional bombastischen Quasifilmmusik, auf dem eigenen Label Fin de Siècle Media einige hörenswerte Veröffentlichungen, wie zuletzt die beiden CONTRASTATE-CDs, produzierte. Auf der Bühne wurde er von einer zierlichen Dame am Keyboard unterstützt, insgesamt erschien alles sehr spartanisch und flach. Sowohl die monomanischen Rhythmen, als auch die ewiggleichen Synthieflächen waren deutlich zu laut ausgesteuert, so dass mir zu den zwei Stücken, die wir uns angetan haben, nur die beiden Prädikate ‚langweilend' und ‚nervig' in den Sinn kommen. Auch rechtfertigte der für 22.20 Uhr angesetzte Auftritt der LEGENDARY PINK DOTS in der "Moritzbastei" den verfrühten Aufbruch.
Dass ausgerechnet die legendären britischen Holländer das Abschlusskonzert beim diesjährigen WGT liefern würden, bot fast schon Anlass zu ironischem Amüsement. Analog zu den gänzlich ungruftigen NOVÝ SVET sorgten die PINK DOTS für wahrhaft erlösende Farbtupfer an diesem Wochenende. In der "Moritzbastei" angekommen, mussten wir hinnehmen, dass es zu einigen Verzögerungen gekommen war und der große Abschluss sich etwas verspäten würde. Entgegen meiner anfänglichen Hoffnung, dass nach KILLING MIRANDA zumindest die tiefschwärzesten Gruftis den Saal verlassen würden, wurde es in dem schmalen Gewölbe, das für Konzerte im Grunde ungeeignet ist, nun ziemlich eng und ungemütlich. Dreimal hatten wir die PINK DOTS im vorigen Jahr schon gesehen und obwohl sie an ihrem Set auch diesmal wieder nur zwei, drei Stücke austauschten, erscheint es mir schier unmöglich zu behaupten, es hätte sich nicht gelohnt diesem Auftritt beizuwohnen. Allein schon die Anwesenheit von Martijn de Kleer bot allen Grund dafür. Der neue, alte Gitarrist war vor wenigen Monaten nach einer mehrjährigen Pause in die Band zurückgekehrt, um wiederum Erik Drost abzulösen und hatte das erst kürzlich erschienene neue Album "Your Children Will Placate You From Premature Graves" bereits mit eingespielt. In Leipzig bestritt er seinen dritten Auftritt mit der Band nach dem Line-up- Wechsel und man spürte sofort, dass man mit ihm an Bass-, A- und E-Gitarre, im Vergleich zu dem jüngeren, vermutlich moderner orientierten Drost, wieder etwas bekifftere, 60er/70er beeinflusstere Gefilde durchstreifen würde. Nach dem obligatorischen Intro ("Regression") und dem wie immer aufdringlich langen "Love Puppets" war es "Love In A Plain Brown Envelope", das mir diese sehnliche Erwartung mehr als nur bestätigte. Der ehrwürdige Edward Ka-Spel war nach Vollbringen der Lyrics beiseite getreten um Martijn, der sich in ein wildes, orgastisches Gitarrensolo hineinspielte, ins Rampenlicht zu setzen. Wer die LEGENDARY PINK DOTS etwas besser als nur über ein oder zwei Alben kennt, wird wissen, dass man überhaupt nie in Versuchung geraten kann, sich von dem unermüdlich wachsenden Oeuvre dieser 25-jährigen Kultband auch nur einmal enttäuschen zu lassen. Folglich fügten sich auch die drei Stücke vom neuen Album wunderbar ins Live-Konzept des routinierten Quartetts. Das ruhige, sanfte "Peace Of Mind" mit orientalischem Hoornblower-Intermezzo vermochte zwar nicht ganz den fragilen Zauber von "In Sickness And In Health" zu ersetzen, wohl aber sorgte das lockere Akustikgitarrenstück "The Island Of Our Dreams" für angenehme Überraschung und den waghalsigen Einfall, dass die PINK DOTS am Samstag beim Neofolk Abend im "Anker" durchaus nicht unpassender gewesen wären, als hier unter glamourösen Gothic-Rockern. Nachdem "Green Gang" krachiger, böser und wuchtiger als je zuvor ein klanggewaltiges Feuer auf und vor der Bühne entfachte, zerfaserte mit "No Matter What You Do" alles im gitarrenpsychedelischen Strudel Ka-Spel's prophetischer Mantras. Ansonsten alles wie gehabt, nur wahrscheinlich mit viel mehr kochendem Blut, mehr Spielfreude und Konzentration als bei den Auftritten im vergangenen Jahr, auch wenn das eingangs schwerlich vorstellbar, ja nahezu undenkbar gewesen war. Statt dem epischen "Needles" gebührte diesmal dem Hit "Hellsville" die Ehre des letzten Liedes. Danach langanhaltender, lautstarker Applaus, wie ich ihn bei diesem Festival noch nicht erlebt habe. Eines der ältesten PINK DOTS- Stücke überhaupt, "Defeated" von Anfang der 80er, wurde als Zugabe in einem ungewöhnlichen, unermesslich genialen, entspannten Lounge-Gewand dargeboten, das vor allem Nils Van Hoorn für ein großes, abschließendes Saxophon Solo nutzte. Es war in diesen zwei oder drei Minuten, als ich und hoffentlich einige andere Konzertbesucher die Musik so empfunden habe, wie sie in ihrer ursprünglichsten, reinsten Substanz sein muss. Ganz leicht, ganz unbefangen, fast schon getrennt und abgeschnitten von den Künstlern, die sie auf so göttliche Weise heraufbeschwören, und dennoch so tief berührt von jeder kleinsten Regung an den Instrumenten, gleichzeitig existierend im Jetzt und in den unergründlichen Kammern der Vergangenheit. Wiederum erwiderten Applaus und schier endlose Rufe nach Zugabe das Verstummen der Musik. Die LEGENDARY PINK DOTS, dieses unfassbare, ungreifbare, unkategorisierbare Phänomen einer ganzen Musikkultur, verabschiedeten sich in Richtung Nordamerika-Tour.
Draußen erwartete uns Leipzigs erlösend kühle Nachtluft, die Stadt hatte zum fünfzehnten Male das Treffen der Wave & Gotik-Szene heil überstanden. Etwas angeschlagen und müde, aber mit der Gewissheit behaftet, einige, sich auf lange Zeit einprägende, womöglich sogar einzigartig bleibende Auftritte miterlebt zu haben, ließen auch wir das allzu schwarze Festival hinter uns. Für die nächsten Monate brauche ich ganz sicher etwas Abstand von wandelnden WARSAW PACT Plakaten und blassgepuderten Jugendlichen in Barockgewändern. Und danach, "zu neuen Ufern in alter Frische".
"All festivals end, as festivals must."

 
Roy L. für nonpop.de


Verweise zum Artikel:
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