GERHARD HALLSTATT alias KADMON alias ALLERSEELEN zählt nicht nur zu den Pionieren der Industrial- und Ritualmusik; er ist auch wie kaum ein Zweiter ein inhaltlicher Impulsgeber der Neofolkszene. Meine erste Begegnung mit dem Schaffen des Österreichers vollzog sich Ende der 80er Jahre über den legendären Artware Katalog von DONNA KLEMM, bei dem ich das „Autdaruta-Tape“ bestellte. Jahre später folgte dann ein Artikel in einem vergessenen Magazin (Gift??), in dem KADMON seine Vorstellung von technosophischer Tonkunst erläuterte. Durch den Artikel wurde ich auf die Schriftenreihe „Aorta“ aufmerksam, die ich alsbald fleißig sammelte. Mit diesen zweisprachig gehaltenen Aufsätzen definierte GERHARD ungewollt etwas, das schließlich zum kulturellen Kanon des Neofolks/Industrials werden sollte: KENNETH ANGER, FIDUS, Bioregionalismus, OTTO RAHN, WILIGUT, FRANZ TAUSEND und die Alchemie, SCHULER und die Blutleuchte, die Katharer, der Mithras-Kult, das Blaue Licht, Wiener Aktionisten und und und.
In einer Zeit, in der das Internet noch keine Rolle spielte, hat GERHARD in vielen Punkten wahre Detektiv- und Recherchearbeit geleistet, die man einfach nicht hoch genug einschätzen kann. Wer in den achtziger Jahren über FIDUS oder TAUSEND schrieb, der musste einfach Stunden in Bibliotheken verbracht haben – heutige Wikipedia-Jünger werden dies kaum noch kennen. Um ALLERSEELEN zu verstehen, muss man das Gesamtwerk GERHARDs betrachten; man muss sich einlassen auf diese unsterbliche Neugier und die Leidenschaft, im Großen und Kleinen der Welt nach dem Verborgenen und dem Obskuren zu suchen. GERHARD HALLSTATTs Musik ist wie sein Schrifttum erfüllt von einem täglichen Neuentdecken; er wird zum Chronisten einer verzauberten Welt, die sich gleichermaßen auf mythischen Berggipfeln, in alchimistischen Schlössern, in den Kommunen der Lebensreform, in einsamen Wäldern und geheimen Zirkeln und eben auch in den Stahlgewittern von ERNST JÜNGER manifestiert. In dieser Fülle und Ausprägung von Leidenschaften liegt auch die Ursache für die mitunter kritische Rezeption seiner Projekte: Wer selbst keine Neigung zum Verborgenen hat, der wird nicht verstehen können, warum man sich mit WILIGUT und RAHN beschäftigen kann oder sollte, obwohl man dessen Ideologie nicht teilt. Oder warum man sich als Nicht-Christ mit den Stigmata der THERESE VON KONNERSREUTH beschäftigt. Oder warum man sich für ALFRED SCHULER begeistern kann, auch wenn man gleichzeitig weiß, dass dieser in vielen Punkten eine tragische und gescheiterte Gestalt war. Wer den Mysterien des Lebens schulterzuckend und gleichgültig gegenübersteht, der wird keinen Zugang finden zu den Schriften und der Musik von GERHARD HALLSTATT. Zu pathetisch für eine CD-Rezension ? Ich denke nicht. Eher angemessen für ein Projekt, das bald ins 25. Jahr geht und dabei nichts von seiner ursprünglichen Schaffenskraft, Vision und Leidenschaft verloren hat.
Zeit also für eine Würdigung durch musikalische Weggefährten und Freunde, die vorrangig auch selbst im STEINKLANG-Umfeld angesiedelt sind. Mit einer Überlänge von knapp 90 Minuten treten sowohl große als auch noch unbekannte Künstler an, um ALLERSEELEN Referenz zu erweisen. ALLERSEELEN zu covern stellt dabei kein leichtes Unterfangen dar, denn oft sind die Sounds zu verschachtelt, zu fernab von klassischen Songstrukturen, als dass sie sich einfach neu interpretieren lassen. Daher liegt die Gefahr darin, dass die Coverversion entweder genauso klingt wie das Original oder eben das Original als solches überhaupt nicht mehr zu erkennen ist. Doch zu den Stücken im Einzelnen:
Den Auftakt bilden ERNTE, die niederrheinische Kultformation des deutschen Neofolks schlechthin, die mit „Sonnenwende“ einst den Stein ins Rollen brachten, aber dann alsbald nur noch mit teils sehr guten („Stolze Herzen“) oder enttäuschenden („Der Krampus kommt“) Samplerbeiträgen an die Öffentlichkeit traten. Wenn ihr Beitrag auch nur knapp über zwei Minuten geht und sich stark an die Originalvorgabe „Santa Sangre“ hält, so freut man sich dennoch über die kräftigen Stimmen von ROSE und WILLI und man kann einmal mehr bedauern, dass die Szenehelden nur derart fragmentarisch arbeiten und keine regelmäßigen Alben abliefern – die Szene könnte sie gut gebrauchen !
TYR-KREIS versuchen sich an „Ernting“ vom legendären „Gotos=Kalanda“-Album und halten sich dabei eng am Original. Eine treibende Snare, ein wummernder Bass und von Noise-Attacken durchbrochene WILIGUT-Verse – das, was KADMON/GERHARD damals noch als „technosophische Tonkunst“ bezeichnet hat, in Bestform. Im Original wie im Cover einer der größten ALLERSEELEN-Hits.
HABERFELD interpretieren „Alle Lust will Ewigkeit“ und gestalten primär neu durch die Übertragung ins Bajuwarische, demzufolge das Stück nun „Olle Lust wui Ewigkeit“ heißt. Der Schwerpunkt scheint mir doch etwas unoriginell, da der Einzug und die Betonung der Dialekte seit Bands wie STURMPERCHT, KLAMMHEIM, FRÄKMÜNDT oder eben auch ALLERSEELEN zum festen Selbstverständnis gehören.
„Flamme“ von DIE WEISSE ROSE tauchte schon vorab bei YouTube und Konsorten auf und diente als Werbeträger zum Album – und das völlig zu Recht, ist das Stück doch mit den für die Band typischen Keyboard/Orgelhymnen eine der besten Coverversionen der CD. Der prägnante Basslauf des Originals wurde außen vor gelassen, dafür wurden jene Sprachsamples eingesetzt, die schon BLOOD AXIS bei „Eternal Soul“ verwendeten. Die Melodik des Refrains wurde jedoch übertragen und klingt durch den dänischen Akzent der Interpreten sehr prägnant.
Die mir unbekannten FANES nehmen sich „Sonne Golthi-Ade“ vor und stolpern damit ein wenig in die eingangs erwähnte Falle. Das Stück existiert bereits in mehreren Versionen von ALLERSEELEN und der kurzen Melodie ist daher wenig Neues abzugewinnen; daran scheitern eben auch FANES, die zwar eine E-Gitarre einbauen, aber das ist insgesamt doch etwas zu wenig.
Das gleiche gilt für SAGITTARIUS, die mit „Musa“ das meinem Empfinden nach sterilste Stück des Albums abliefern; zu glatt, zu synthetisch und fernab vom dem Natürlichen und Erdigen, für das ALLERSEELEN gemeinhin stehen.
SCIVIAS machen diese beiden Ausfälle wieder wett und inszenieren eine schleppende Version von „Idun“, die genau jene Organik besitzt, die SAGITTARIUS fehlen. Hypnotisch und repetitiv, der Gesang choralartig platziert und als Krönung eine durch das Stück fließende Geige, sehr schön! FRÄKMÜNDT nehmen sich „Firnföuskamerad“ vor und setzen das Stück in ein Schweizer Alpin-Korsett; so schön und authentisch umgesetzt, dass es schon fast wie eine Eigenkomposition der Schweizer klingt. HREFNESHOLT versetzen das „Herbstlied“ ins Gebirge und lassen es ordentlich scheppern. Ô PARADIS mit „Marques de Pubol“ können mich am allerwenigsten überzeugen, was aber der Tatsache geschuldet sein mag, dass ich trotz einschlägiger Lobeshymnen von allen Seiten niemals einen Zugang zu dieser Band finden konnte.
BLOOD AXIS & SANGRE CAVALLUM setzen sich wie FANES auch an „Sonne Golthi-Ade“ und machen ein von ANNABELL LEEs Violinenspiel dominiertes Folkstück aus den WILIGUT-Versen. MOYNIHANs markanter deutscher Gesang und die später einsetzende Schalmei (?) lassen das Stück einen Hauch von Mittelalter atmen – ein weiteres Glanzstück der CD. Das nächste folgt dann umgehend in der Gestalt des „Sturmliedes“ von STURMPERCHT. Die gezupfte Gitarre wird begleitet von einer monotonen Trommel und einer alarmierenden E-Gitarre. Gemeinsam mit der flüsternden Stimme von MAX PERCHT verbreitet das Stück eine unruhige Stimmung, die vom drohenden Unwetter kündet und nur zu gut zu den Versen von RICARDA HUCH passt.
LARNAKH haben „Knistern“ von dem tanzbaren Beat befreit und die im Original leider etwas untergehende Geigenmelodie in den Vordergrund und den Sturm gestellt. Alsbald geht das Stück dann in einen Neofolk-Part über, der sehr an SCIVIAS erinnert. Mir gefällt diese Interpretation sogar besser als das Original. ÀRNICA verwandeln den „Feuersalamander“ in eine rituelle Beschwörung am nächtlichen Lagerfeuer. Spontan und archaisch klingt das; die Rahmentrommeln werden geschlagen und zur Flöte im Sprechgesang die Seele des Feuers gerufen – und bestimmt das eine oder andere alkoholische Getränk konsumiert.
KLAMMHEIM beginnen mit „Allerseelen“ choralartig, bevor Gitarre und das verhallte Akkordeon in gewohntem Stile einsetzen. Diese Geräuschkulisse mit der starken Stimme von Frontfrau DEA lassen auch diese Coverversion zu einem Highlight werden. Auch DER ARBEITER nimmt sich die „Flamme/Flama“ vor, bleibt aber weit hinter der Interpretation von DIE WEISSE ROSE zurück. Ein Hauch Flamenco kann das Stück nicht retten.
DER FEUERKREINER bearbeitet ebenfalls den „Feuersalamander“ und spielen gekonnt mit den großartigen Rhythmen und Schleifen des Originals; tanzbar und elektronisch, aber dennoch natürlich und erdig, gekrönt durch eine starke weibliche Stimme. CAWATANA spielen „Alle Lust Will Ewigkeit“ nach, und wenn ich das höre, bin ich versucht, meine Kritik an HABERFELD direkt zurückzunehmen, weil CAWATANA einfach nur kläglich, dünn und grausam klingen. Hat man sie überlebt, stößt man auf SVARROGHs Interpretation von „Heiliges Blut“, das sich vom Aufbau ebenfalls eng an das Original hält, aber leicht ironisch mit Szenezitaten spielt und ein „Do you want – Heiliges Blut?“ einbaut und auch das bereits erwähnte Nietzsche-Zitat fragmentarisch krächzt. Vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss, aber besser als CAWATANA allemal.
Und zuletzt zeigt GERHARD HALLSTATT selbst noch einmal, wo es langgeht und bietet einen rund dreiminütigen Ausschnitt aus „Mit fester Hand“. Tempo, Rhythmus und Sprache machen schnell eines deutlich: Mögen viele Coverversionen gut sein, in der Regel bleibt das Original unerreicht. Man hört auch hier, im direkten Vergleich, wie viel Liebe zum Detail in den ALLERSEELEN-Stücken steckt und wie vielschichtig ihre Struktur ist.
Insgesamt ein sehr gute Würdigung eines einzigartigen Projektes; mir hat die Musik und die Reise durch die verschiedenen Phasen von ALLERSEELEN viel Freude bereitet. Die Vorraussetzung ist dabei jedoch, dass man das gefeierte Objekt mag; wer mit der Musik von ALLERSEELEN bislang nicht warm geworden ist, dem werden sich auch die Coverversionen nicht erschließen. Aber, wie eingangs erwähnt, bleibt zu hoffen, dass es genügend Hörer (und Leser) gibt, die sich den Mysterien nicht verschließen. All diese sollten diese CD bedenkenlos kaufen und sich auf die die nächsten 25 Jahre Allerseelen freuen!
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