Keineswegs ist der Sampler zum unlängst besprochenen
"Epicurean Escapism II"-Festival etwa nur eine schnöde Compilation-CD, oh nein: Auch auf Produktebene hat man sich alle Mühe gegeben, einen medialen Rundumschlag auf höchstem Niveau zu realisieren, und so gibt es zum schlappen Preis von 20 Euro einen schicken
6-Panel-Folder mit CD, DVD und einem 20-seitigen, hochwertig gedruckten Katalog, in dem sämtliche an der Veranstaltung beteiligten Künstler vorgestellt werden. Dies erscheint insbesondere vor dem Hintergrund sinnvoll, dass manches tatsächlich erst in der Ruhe des heimischen Wohnzimmers im gebührenden Umfang gewürdigt werden kann – ganz besonders gilt dies für die visuellen Beiträge. Konsequenterweise handelt der Katalog den akustischen Teil auch vergleichsweise kurz in Gestalt eines einzigen Absatzes ab, der direkt an jenen Essay zum Eskapismusbegriff anschließt, der in der Festivalreview bereits Erwähnung fand und den Grund dafür abgibt, dass wir uns an dieser Stelle nicht mehr mit der Philosophie des Eskapismus befassen brauchen, sondern direkt auf den Inhalt einschwenken können.
Den größten Raum des Booklets nehmen die Bilder der teilnehmenden "visual artists" nebst kurzer, ins Werk einführender Kommentare ein; diese stammen, wie der restliche Text auch, aus der Feder von UWE SCHNEIDER, Chefredakteur des Online-Magazins
"African Paper" und Kurator des Ausstellungssegments von "Epicurean Escapism". Von jedem Künstler wurden zwei bis drei Bilder in den Katalog aufgenommen, was dem interessierten Rezipienten die, auf dem Festival selbst aus naheliegenden Gründen nicht gegebene Möglichkeit eröffnet, sie ganz ohne Ablenkung auf sich wirken zu lassen. Für den, der im Anschluss an die Lektüre Lust auf
noch eingehendere Beschäftigung verspürt, finden sich Links zu den Internetauftritten aller Beteiligten. Und dass dies mitunter die eine oder andere, zusätzlich erhellende Minute zu bescheren vermag, kann der Rezensent aus eigener Erfahrung bestätigen – so weiß er bspw. mit PHILIP BESTs Fotocollagen mittlerweile deutlich mehr anzufangen als noch am Abend der Veranstaltung. Lediglich die Kunst des RUDOLF EB.ER bleibt selbst konzentriertesten Annäherungsbemühungen unzugänglich und verharrt weiter in ihrer hermetischen Verschlossenheit – aber wer weiß, vielleicht fällt auch da noch der Groschen …
Unter dem –
"The Waste Land" von T. S. ELIOT entlehnten – Titel
"We Who Were Living Are Now Dying" bestreitet MIKE DANDO alias CON-DOM mit seinen, in den 80er und frühen 90er-Jahren entstandenen Super-8-Filmen die DVD in ihrer vollen Länge. Zusätzlich zum bereits auf dem Festival gezeigten Programm wurde das DVD-Menü um die Titel "All In Good Faith 2 (Get Right With God)" und "Hunger for Death" erweitert. DANDO und sein künstlerisches Schaffen werden im Booklet mit einigen Sätzen eingeführt, doch ist der Raum freilich zu beschränkt, um mehr ausrichten zu können, als an der Oberfläche zu kratzen. Nichtsdestoweniger mag demjenigen, dem CON-DOM bislang nur oberflächlich ein Begriff war, der Zugang gegenüber dem einigermaßen ruppigen Bildmaterial, das während der nun folgenden 55 Minuten auf ihn einprasselt, dadurch etwas erleichtert werden. Eine der zentralen Strategien von DANDOs Arbeit besteht im sensorischen und informellen Overload seines Publikums, und das wird angesichts der sechs präsentierten Kurzfilme ebenso augen- wie ohrenfällig. Der motivische Fundus, aus dem DANDO schöpft, wird durch die Programmatik bestimmt, die seiner Arbeit seit mittlerweile drei Jahrzehnten unterliegt; und die charakterisiert man in der gebotenen Kürze wohl am angemessensten als ebenso existenzielle wie konsequente Auslotung kollektiver wie individueller Abgründe im Spannungsfeld von Religion, Macht bzw. Gewalt und Sexualität.
Jeder der sechs Filme folgt einer bestimmten thematischen Ausrichtung, die sich bereits im Titel relativ unmissverständlich andeutet, ohne dass sie sich im weiteren Verlauf zu einem Handlungsansatz im engeren Sinne verdichtete. Das visuelle Material setzt sich zum Großteil aus mal mehr, mal weniger hoch getakteten Aneinanderreihungen von Zeitungsausschnitten, Buchpassagen und Fotos zusammen – vom Jesuskindlein in der Krippe über mannigfaltig missgestaltete Säuglinge bis hin zu Schnappschüssen aus dem KuKluxKlan-Poesiealbum ist alles und noch mehr dabei –, die immer wieder von Filmaufnahmen durchbrochen werden – auch hier werden von Weihnachtsmarktimpressionen bis zum POV-Beinahe-Cumshot alle Wünsche bedient. Meine ganz persönlichen Lieblingssequenzen stammen übrigens aus den beiden "All In Good Faith"-Clips und nehmen einen, auf den ersten Blick eher unspektakulär scheinenden, aufgedreht herumhüpfenden und -gestikulierenden, farbigen Straßenprediger im gelben Mäntelchen mit Pelzhut auf dem Kopf ins Visier. Dessen nachgerade hypnotischer Wirkung wird man allerdings erst gewahr, wenn man sich ihr über einen etwas längeren Zeitraum hin aussetzt. So eröffnet die DVD demjenigen, der sich konzentriert darauf einlässt, trotz oder gerade
wegen des schieren akustischen und visuellen Furors, den sie entfesselt, einige fast schon meditative Momente.
Kongenial wurde das Ganze mit den entsprechenden CON-DOM-Tracks unterlegt und ergibt so in der Summe nicht weniger als eine knappe Stunde hochgradig faszinierenden Entertainments der etwas spezielleren Art. Der Rezensent empfiehlt übrigens die unmittelbare Direktkonfrontation: mit Kopfhörern auf den Ohren im zappendusteren Raum frontal vor dem Bildschirm sitzend – das wird der Intention des Materials mutmaßlich am gerechtesten und steigert die Wirkung
enorm. Im Gegensatz zur öffentlichen Vorführung, bei der die Konzentration durch unvermeidliche Begleitumstände immer wieder beeinträchtigt wird, vermag sich so ein Höchstmaß an Intensität auf visueller und auditiver Ebene zu entfalten. Dass die Lautstärkeregler währenddessen nach Möglichkeit
weit im oberen Bereich liegen sollten, versteht sich wohl von selbst. Ach ja: DANDOs Filme hinsichtlich der verwendeten Motive, Fotoschnipsel, Textausschnitte, Samples etc. zu analysieren, würde den Rahmen dieser Besprechung um ein Vielfaches sprengen, deshalb sei der geschätzte Leser hiermit zur fröhlichen, kulturhistorischen Schnitzeljagd animiert: Es gibt 'ne Menge zu entdecken – viel Spaß dabei!
Womit wir auf die Compilation-CD überschwenken wollen, zu der jedes der fünf, am Festival teilnehmenden Projekte einen oder zwei exklusive Tracks beigesteuert hat.
Den Anfang machen
KE/HIL mit dem düster-rumpeligen "Dark Germany", das nach mehrmaligem Hören geradezu Ohrwurmqualitäten entwickelt, obwohl es im ersten Moment recht unspektakulär tönt. Vom Tempo her eher bedächtig, wird durch die druckvoll vorgetragenen, typisch verzerrten, imperativischen Vocals dennoch eine beachtliche Spannung generiert, die von Hördurchgang zu Hördurchgang mehr fesselt und das Stück mit seinen knapp vier Minuten zu einem kurzen, aber kraftvollen Opener macht.
Weiter geht es mit zwei Beiträgen von
ANEMONE TUBE, dem langjährigen musikalischen Outfit von Festivalinitiator und
THE EPICUREAN-Labelbetreiber STEFAN HANSER. Diese schlagen in eine ähnliche Kerbe wie schon die beiden Tracks auf der
ANEMONE TUBE/DISSECTING TABLE-Split-LP und können thematisch wie formal im Dunstkreis der "Suicide Series" verortet werden, insofern auf dieselben, von HANSER in Japan und China aufgezeichneten Fieldrecordings zurückgegriffen wird, wie bereits auf
"Death Over China" und
"Dream Landscape", den beiden "offiziellen" Teilen des (geplanten) Zyklus. Das erste Stück, "Apocalyptic Fantasy", beginnt mit infernalischem Feedbackgekreische, in das sich peu à peu ein dumpfer, atmosphärischer Drone schiebt; während sich die Feedback-Schleifen vervielfältigen, schält sich aus dem Inferno so etwas wie eine rudimentäre Melodie, die die Einzelelemente ungeachtet ihrer eigenen Fragilität umfasst und in einen ganz & gar großartigen, dem Titel in vollem Umfang gerecht werdenden Breitwand-Abgesang kulminieren lässt. Nach einem derart fulminanten Einstieg kann es naturgemäß nur seichter werden und so überzeugt "Accumulation", der zweite, noch hörbarer auf Fieldrecordings aufbauende Track in seiner irgendwie unentschlossenen Zerfaserung insgesamt weniger – wohlgemerkt
ohne deshalb schlecht zu sein: Man vermisst jedoch das zwingende Moment, das "Apocalypse Fantasy" im unmittelbaren Vergleich so
außergewöhnlich fesselnd macht.
POST SCRIPTVM sind qua "Leprous Driver" mit einem vergleichsweise kontemplativen Dark Ambient-Track vertreten, der mich in Teilen an ältere Projekte mit dezidierter Space-Affinität wie ARECIBO oder S.E.T.I. erinnert. Es dröhnt und schnurrt behäbig vor sich hin, später kommen auch noch Stimmen dazu, alle möglichen Sounds werden angedeutet, ohne dass einer davon der Kohärenz stiftenden Dominanz des Basisdrones gefährlich würde. Insgesamt durchaus ein interessanter Beitrag – in seiner lichtabgewandten, experimentellen Spielfreude läuft er mit voranschreitender Laufzeit jedoch Gefahr, sich im Beliebigen zu verlieren.
TREPANERINGSRITUALEN bedient sich in "Vanärat Är Ditt Namn" einmal mehr eines ebenso primitiven wie mit jeder Wiederholung hypnotischer wirkenden Beats, der zusammen mit THOMAS EKLUNDs typischem, krächzig-gurgelndem Schreigesang und einigen, relativ spärlichen Hintergrundsounds ein weiteres, überaus erfreuliches Beispiel für den neuen, tanzflächentauglichen Stil des Projektes abgibt. Dass diese Entwicklung keinen exklusiven, sondern lediglich ergänzenden Charakter hat, stellt der zweite Track, "End Of Flesh", klar: bei dem nämlich handelt es sich wieder um ein Ritual-Industrial-Stück reinsten Oldschool-Wassers. Man fühlt sich spontan an alte
NEKROPHILE-Tapes von LAShTAL, KORPSES KATATONIK oder ZERO KAMA erinnert, auch frühe Ritual Soundscapes von SLEEP CHAMBER taugen zum Vergleich. Aufgrund des deutlich höheren "Wumms"-Faktors weist freilich das erste Stück auch das entsprechende, deutlich höhere "Hitpotential" auf.
Zu guter letzt schließt der, während des eigentlichen Festivals vom Rezensenten eher ungeliebte
DIETER MÜH den bunten Reigen mit dem 20-Minüter "Bethlehem" ab. Der entpuppt sich als Dark Ambient-Stück mit mittelschwerem Tribal-Einschlag, was wohl primär auf die Percussionelemente zurückzuführen ist, die mich an einschlägige Genre-Epigonen wie STEVE ROACH oder PAUL SCHÜTZE denken lassen. Verschiedenste Naturgeräusche kommen zum Einsatz und insbesondere zu Anfang des Tracks hat man den wohlmeinenden Eindruck, hier werde eine komplexe Geschichte erzählt, die sich entsprechend langsam entfalten müsse. Das ist zwar zweifelsohne richtig und der einzig angemessene Ansatz, ändert jedoch nichts daran, dass "Bethlehem" auf die Dauer schlicht & einfach ein wenig langatmig wird – hier wären entschlossene fünf Minuten weniger entschieden mehr gewesen. Dessen ungeachtet alles in allem kein schlechter oder enttäuschender Beitrag: Viele, interessant zusammengestellte Sounds konstituieren zusammen eine facettenreiche musikalische Collage, die lediglich in puncto Laufzeit ein wenig überambitioniert ist. Im Übrigen sieht der Rezensent seinen ursprünglichen Eindruck bestätigt, DIETER MÜH sei primär eine Angelegenheit für den heimischen Ohrensessel, könne dortselbst jedoch einer eingehenderen Beschäftigung für wert befunden werden.
Summa summarum wird mit "Epicurean Escapism II" der gleichnamigen Live-Veranstaltung ein in Form, Inhalt und Ausführung ebenbürtiges, nicht minder außergewöhnliches Medien-Bundle an die Seite gestellt, das überdies durch ein beeindruckendes Preis-Leitungsverhältnis punktet: Wo, bitteschön, bekommt man heute noch für 20 läppische Euro eine solche Breitseite an hochwertig produziertem, musikalisch-visuellem Material um Augen & Ohren gehauen? – Diese, selbstverständlich rein rhetorische, Frage möge den Schluss der Betrachtung markieren. Ich wüsste beim besten Willen auch keine Antwort darauf.